Notfallzulassung Der verlogene Triumph der Briten im Wettlauf um Corona-Impfungen

Großbritannien lässt den deutsch-amerikanischen Impfstoff früher als die EU zu, weil sich das Land für eine Notfallzulassung entschieden hat. Quelle: via REUTERS

Großbritannien hat als erstes Land der westlichen Welt einen Covid-19-Impfstoff zugelassen, heute werden die ersten Menschen geimpft. Der Gesundheitsminister behauptet, sein Land könne den Impfstoff früher als die EU zulassen, weil es ausgetreten sei. Eine glatte Lüge.

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Für Großbritanniens Premier Boris Johnson war es so etwas wie ein Sputnik-Moment. Am vergangenen Mittwoch hat Großbritannien als erstes der westlichen Welt – und Wochen vor der EU – den Covid-Impfstoff von Biontech und Pfizer zugelassen. Johnson sprach von „phantastischen Neuigkeiten“. Unter großem Getrommel erhielt am heutigen Dienstag eine 90-Jährige die erste Coronaimpfung. Die Szene erinnerte ein wenig an das Jahr 1957, als die Sowjetunion vor dem Erzrivalen USA ein Raumfahrtschiff ins All schoss. Damals ging es um mehr als um Technologie – um geopolitische Vorherrschaft.

In Großbritannien verhält es sich nun ähnlich. Es geht nicht so sehr um die Gesundheit der Bevölkerung, die mehr als andere unter der Coronapandemie zu leiden hat. Die Regierung Johnson nutzt die Impfzulassung zur Selbstinszenierung – und schreckt dabei nicht einmal davor zurück, den Brexit ins Spiel zu bringen. Gesundheitsminister Matt Hancock behauptete, sein Land könne den Impfstoff früher als die EU zulassen, weil es ausgetreten sei. Eine glatte Lüge. Großbritannien unterliegt noch bis Jahresende in der Übergangsphase den EU-Regeln.

Die korrekte Version lautet: Großbritannien lässt den deutsch-amerikanischen Impfstoff früher als die EU zu, weil sich das Land für eine Notfallzulassung entschieden hat – wie sie jedem Land in der EU offen steht. Die 27 EU-Staaten setzen dagegen auf eine eingehendere Prüfung des Impfstoffs durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Die soll noch in diesem Jahr abgeschlossen werden, so dass der Impfstoff Anfang kommenden Jahres in der EU zugelassen sein wird.



Experten halten es für sinnvoll, der EMA ein paar Wochen mehr Zeit zu geben, um die Sicherheit des Impfstoffes zu analysieren. Notfallzulassungen sind bei Impfungen ohnehin unüblich. Normalerweise werden die bei Medikamenten gebraucht, die akut gefährdete Menschenleben retten sollen.

Die Chefin der britischen Arzneimittelbehörde (MHRA), June Raine, hat am Mittwoch deutlich gesagt, dass die Entscheidung ihrer Behörde auf der Basis von EU-Recht gefallen war. Doch das ging im triumphierenden Getöse der britischen Regierung ein wenig unter. Wirtschaftsminister Alok Sharma beispielsweise hatte behauptet: „In den kommenden Jahren werden wir uns an diesen Moment erinnern, an den Tag, an dem Großbritannien den Kampf der Menschheit gegen die Krankheit angeführt hat.“ Mehr Nationalismus geht kaum.

„Großbritannien nützt die Impfung zu politischen Zwecken“, sagt der Europaabgeordnete und Arzt, Peter Liese (CDU). Wenn die EU sich nun etwas mehr Zeit lässt, passt das einfach zu gut in das Bild, das Brexit-Befürworter seit Jahren von der EU zeichnen. Als zu langsam und schwerfällig haben Brexit-Befürworter die EU kritisiert und sich Einmischungen aus Brüssel verboten. Dass die EU-Regeln eine individuelle Notfallzulassung erlauben, verschweigen dieselben Politiker nun.


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Die britische Regierung will mit der schnellen Zulassung des Impfstoffs auch von ihrer bisher miserablen Bilanz in der Pandemie ablenken. In Großbritannien sind weit mehr Menschen an Corona verstorben als in vergleichbaren Ländern. 60.000 Corona-Toten stehen in Großbritannien den knapp 18.000 Corona-Toten in Deutschland gegenüber, bei einer um ein Viertel größeren Bevölkerung in Deutschland.

Nach den großspurigen Ankündigungen der Politiker steht Großbritannien nun zudem vor einem gewaltigen logistischen Problem. Der Covid-Impfstoff von Biontech wird in Belgien produziert. Gibt es bis zum Jahresende keine Einigung mit der EU über die künftigen Beziehungen, so droht der Impfstoff-Nachschub bald in den Staus an der Grenze festzustecken.

Mehr zum Thema: Großbritannien will schon in wenigen Tagen gegen Covid-19 impfen. Eile ist auch geboten, denn Premier Johnson steht unter Druck.

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