
Wirtschaftswoche: Herr Gurría, in ihrer neuesten Studie wagt die OECD eine steile Prognose: In Deutschland könnten die Einkommensunterschiede 2060 so groß sein wie heute in den USA. Haben die Autoren da nicht ein wenig Science-Fiction betrieben?
Angel Gurría: Wenn man 50 Jahre vorausblickt, weiß man eigentlich nur, dass man vermutlich falsch liegen wird. Kleine Veränderungen bei den Annahmen können über einen so langen Zeitraum große Abweichungen beim Ergebnis bedeuten. Die Studie dient dazu, den Blick und die Gedanken zu schärfen. Es geht darum, einzelne Reformen nicht isoliert umzusetzen, sondern eine ganze Serie von Reformen anzupacken.
Seit dem Welterfolg des Buches „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty redet auch die OECD über Ungleichheit. Stellt Ihre Organisation jetzt auf einmal die Marktwirtschaft infrage?
Über Ungleichheit haben wir bereits vor zehn Jahren gesprochen, und wir haben als Erste damit begonnen, sie zu dokumentieren. Heute sind wir glücklich, dass sich ein Bestseller dieses Problems annimmt und dass US-Präsident Barack Obama erklärt hat, der Kampf gegen die Ungleichheit sei das wichtigste Thema seiner verbleibenden Amtszeit. Sogar der Internationale Währungsfonds schreibt heute Papiere über Ungleichheit.
Zur Person
Gurría, 64, ist seit 2006 Generalsekretär der OECD. In seinem Heimatland Mexiko war er von 1994 bis 1998 Außenminister und anschließend bis 2000 Finanzmister. Der studierte Ökonom arbeitete auch für einige internationale Non-Profit-Organisationen.
Also ein Modethema?
Mode kommt und geht. Die Ungleichheit aber wächst. Das hat bereits vor der Krise begonnen. Aber damals wuchs sie noch langsamer. In den ersten drei Krisenjahren nahm die Ungleichheit stärker zu als in den zwölf Jahren zuvor. Im Durchschnitt der OECD-Länder verdienen die obersten zehn Prozent der Bevölkerung heute 9,5 Mal so viel wie die untersten zehn Prozent. Die Ungleichheit ist um 35 Prozent gewachsen. In den USA sind die Auswirkungen dieser Entwicklung deutlich spürbar. Dort gibt es nicht den europäischen Wohlfahrtsstaat.
Ist die Sorge um die wachsende Ungleichheit auch der Grund dafür, dass Sie die Einführung eines Mindestlohns in Deutschland begrüßen?
Der Mindestlohn ist sinnvoll – und er wird die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nicht gefährden.
Das überrascht uns, denn die französische Variante haben Sie kritisiert. Liegt das daran, dass der französische Mindestlohn mit derzeit 9,53 Euro pro Stunde höher ist als der deutsche?
Ein Stundenlohn von 8,50 Euro ist für Deutschland nicht außergewöhnlich hoch. Aber die Politik geht damit ein Problem an, das nicht besonders bekannt ist: dass es nämlich ein Lumpenproletariat gibt, einen sehr schlecht ausgebildeten und schlecht bezahlten Teil der Arbeiterschicht. Der lebt und arbeitet unter Bedingungen, die man in einem Land wie Deutschland nicht unbedingt erwarten würde.





Es gibt Warnungen, dass gerade dieser Teil wegen des Mindestlohns noch schwerer Arbeit finden wird...
Diese Sorge teile ich nicht. Jeden Cent, den diese Menschen mehr verdienen, werden sie ausgeben, um ihre Bedürfnisse zu decken. Das wird den Privatkonsum stärken, die Importe und damit auch die Handelsbilanz ein wenig ausgleichen, die ja Gegenstand einiger Kontroversen ist.
Wo liegt das Problem des französischen Mindestlohns?
In Frankreich liegt der Mindestlohn sehr nahe am Durchschnittslohn. In so einem Fall gibt es für Unternehmer keinen Grund, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und wer wird draußen bleiben? Die jungen Leute natürlich. Wir haben deshalb eine differenzierte Herangehensweise vorgeschlagen, einen nach Regionen und Alter gestaffelten Mindestlohn. Ein 15-Jähriger kann keinen vollen Mindestlohn erwarten, weil er auch nicht die volle Arbeitsleistung bringt, weil er noch sehr grün und unerfahren ist.
Großen Anklang findet Ihr Vorschlag in Paris nicht. Überhaupt scheinen dort viele der Überzeugung anzuhängen, dass Reformen schädlich sind und dass Sparen und Wachstum sich ausschließen.
Das Gegeneinanderstellen von Austerität und Wachstum führt zu einer falschen Debatte. Das Problem liegt eher darin, dass die Politiker mit Entscheidungen konfrontiert sind, die sich scheinbar gegenseitig ausschließen.