„Operation Yellowhammer“ Notfallplan offenbart: Das wären die Folgen eines No-Deal-Brexit

Downing Street geht davon aus, dass ein No Deal-Brexit schwere Folgen hätte Quelle: REUTERS

Verzögerungen an der Grenze, Lebensmittelengpässe und möglicherweise knappe Medikamente: Downing Street geht von schweren Folgen bei einem No-Deal-Brexit aus. Die Verfassungskrise des Landes weitet sich unterdessen aus.

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Der Schlagabtausch zwischen der Regierung und dem Parlament in London geht in die nächste Runde: Am Mittwochabend gab Downing Street einem Beschluss des Parlaments nach und veröffentlichte ein fünfseitiges Dokument, das darlegt, was aus der Sicht der Regierung im Fall eines No-Deal-Brexits zu erwarten wäre. Es ist Teil der „Operation Yellowhammer“-Notfallplanungen, mit denen sich Downing Street auf einen ungeordneten Brexit vorbereitet.

Und das Papier hat es in sich:

  • So räumen die Verfasser des Dokuments gleich zu Beginn ein, dass sich die Wirtschaft nur äußerst unzureichend auf einen No-Deal-Brexit vorbereitet hat. Zudem herrsche derzeit bei vielen Unternehmen eine „EU-Austritts-Müdigkeit“.
  • Frankreich werde vom ersten Tag an Kontrollen durchführen. Darauf wären allerdings 50 bis 85 Prozent der LKW, die über den Ärmelkanal nach Frankreich gelangen, nicht vorbereitet.
  • Die schlimmsten Unterbrechungen an der Grenze könnten bis zu drei Monate lang anhalten, jedoch könnte es noch weitaus länger Störungen geben.
  • Es dürfte „erheblich“ Preisanstiege für Strom und Gas geben, und das sowohl für Privat- als auch für Geschäftskunden. Einige Anbieter können sich vom Markt zurückziehen und das Problem so verstärken.
  • Falls keine Gegenmaßnahmen ergriffen würden, könnte es zu Engpässen bei Medikamenten und medizinischen Gütern kommen. Verzögerungen bei der Einfuhr von Tierarzneien könnten zum Ausbruch von Tierseuchen führen.
  • Einige Lebensmittel könnten knapp werden, die Lebensmittelpreise dürften steigen.
  • Es könnte Unterbrechungen bei grenzüberschreitenden Finanzdienstleistungen geben und beim Informationsaustausch mit der EU, wovon auch Strafverfolgungsbehörden betroffen wären.
  • Britische Staatsbürger, die in der EU leben, müssten sich Krankenversicherungen besorgen, da die EU-Staaten sie nach einem No-Deal-Brexit wie Bürger von Drittstaaten behandeln dürften.
  • Es könnte zu landesweiten Protesten kommen, was die Spannungen zwischen Gemeinschaften erhöhten könnte.
  • Unterbrechungen beim Handel in Irland würden vor allem den Agrarsektor in beiden Landesteilen schwer treffen.
  • Hunderte Fischerboote aus EU-Staaten könnten weiter in britischen Gewässern fischen, was zu Zusammenstößen mit britischen Fischern führen könnte.
  • Die wirtschaftlichen Folgen eines ungeordneten Brexits könnten den Pflegesektor schwer treffen und zu zahlreichen Konkursen von Anbietern führen.

Die Veröffentlichung dieser Erkenntnisse ist für die Regierung ausgesprochen brisant. Denn Premier Boris Johnson hat in den vergangenen Wochen gegenüber der EU einen erstaunlich konfrontativen Kurs eingeschlagen und droht nun damit, das Land am 31. Oktober, dem kommenden Brexit-Termin, aus der EU zu führen, „komme, was wolle“.

Was wohl als Verhandlungstaktik gedacht ist, könnte allerdings schnell nach hinten losgehen. Denn ein ungeordneter Brexit wäre das Szenario, zu dem es automatisch kommen würde, falls der Brexit-Termin nicht verschoben wird oder es zu einer Einigung mit der EU kommt. Mehr noch: Johnson hat angedeutet, dass er ein vor wenigen Tagen verabschiedetes Gesetz ignorieren könnte, das ihn eigentlich dazu zwingt, die EU um einen Aufschub zu bitten, falls er bis zum 19. Oktober keine andere Lösung findet, mit der ein ungeordneter Brexit vermieden werden kann.

Und jetzt können die Briten schwarz auf weiß alles nachlesen, was die Regierung befürchtet, wenn es zu einem No-Deal-Brexit kommt. Beziehungsweise fast alles: Ein Absatz in dem veröffentlichten Dokument war geschwärzt.

Regierungsvertreter bemühten sich, das Dokument herunterzuspielen. So erklärte Andrea Leadsom, Ministerin für Wirtschaft, Energie und Industriestrategie, am Mittwochmorgen, das Papier beschreibe ohnehin nur „das schlimmstmögliche Szenario“. Sie könnte ja auch von einem Auto überfahren werden, wenn sie nach dem Interview auf die Straße tritt. Das sei zwar „möglich, aber nicht wahrscheinlich“.

Dieser Darstellung widersprach die Sunday Times-Journalistin Rosamund Urwin. Sie hat das Dokument bereits im vergangenen Monat zugespielt bekommen und über Teile davon berichtet. Urwin bestätigt am Mittwochabend in einem Tweet , dass das veröffentlichte Dokument weitgehend mit jenem Papier übereinstimmt, das sie gesehen hat. Bis auf zwei Stellen: In ihrer Version gab es keine geschwärzte Passage. Und der Titel des Dokuments sei verändert worden. In der veröffentlichten Version lautet er „Angemessene Planungsannahmen für das schlimmstmögliche Szenario“. Urwins Kopie ist überschrieben mit: „Basisszenario“.

Später legte Urwin nach und veröffentlichte den Absatz, der in ihrer Kopie nicht geschwärzt war . Darin heißt es, britische Treibstoffexporte in die EU könnten wegen der drohenden Zölle unwirtschaftlich werden. Es drohten schwere Verluste und die Schließung von zwei Raffinerien, wovon 2000 Arbeitsplätze betroffen wären. Streiks könnten zu Unterbrechungen bei der Treibstoffversorgung führen.

Schon kurz nach der Veröffentlichung des Dokuments hagelte es Kritik. Beobachter vermuteten, dass die Regierung sowohl wegen der geschwärzten Passage als auch wegen der Änderung des Titels der „Missachtung des Parlaments“ bezichtigt werden könnte. Und die Regierung hat dem Parlament noch mehr vorenthalten: Denn die Abgeordneten haben auch die Herausgabe sämtlicher Kommunikationen gefordert, die Regierungsberater im Zusammenhang mit Operation Yellowhammer und mit der Suspendierung des Parlaments getätigt haben. Die Regierung weigerte sich jedoch, diese Informationen herauszugeben.

Auch hinsichtlich dieser Suspendierung, die in der Nacht auf Dienstag in Kraft getreten war, gab es am Mittwoch Entwicklungen, die Downing Street in Bedrängnis bringen könnten: Das oberste schottische Gericht befand diese Suspendierung für unrechtmäßig. Die Regierung hatte als Grund angegeben, dass die laufende Sitzungsperiode des Parlament beendet und Mitte Oktober eine neue Sitzungsperiode mit der traditionellen „Queen's Speech“ gestartet werden müsse, damit die Regierung ihr Regierungsprogramm implementieren kann. Kritiker bemängelten jedoch, dass die routinemäßige Suspendierung des Parlaments vor einer solchen Neueröffnung meist nur wenige Tage dauert. Die aktuelle Suspendierung sollte sich jedoch über fünf Wochen hinziehen. Zudem mehrten sich die Zweifel an dem angegeben Grund. Kritiker warfen Johnson vor, er habe damit das Parlament in einer wichtigen Zeit mundtot machen wollen.

Die Richter schlossen sich nun dieser Einschätzung an. Mehr noch: Sie legten nahe, dass Johnson die Königin, die Suspendierungen des Parlaments anordnen muss, falsch informiert habe.

Oppositionspolitiker forderten die Regierung am Mittwoch sogleich dazu auf, das Parlament wieder zu eröffnen. Downing Street weigerte sich, dieser Forderung nachzukommen und verwies darauf, dass sich das oberste Gericht des Landes kommende Woche mit dem Fall befassen soll. Einige Oppositionspolitiker forderten Johnsons Rücktritt für den Fall, dass das oberste Gericht in London ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass Johnson die Monarchin belogen hat.

Großbritanniens Verfassungskrise weitet sich mit jedem Tag aus.

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