Am Ende war es wieder eine haushohe Niederlage: Bei der zweiten Abstimmung über den Brexit-Deal, den die Regierung von Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hat, haben nur 242 Abgeordnete dafür gestimmt. 391 votierten dagegen.
Nach der Bekanntgabe des Ergebnisses gab sich Theresa May unbeirrt. Sie trat selbstsicher an das Rednerpult im Unterhaus. Mit heiserer Stimme erklärt sie, sie glaube noch immer daran, dass ihr Brexit-Deal „der beste“ für das Land sei. Dann bestätigte sie, dass es in den kommenden Tagen weitere Abstimmungen geben werde.
Der Brexit-Prozess, der schon immer zäh verlaufen ist, steckt endgültig in der Krise.
Wie kam es zu der Niederlage?
Es war nicht das erste Mal, dass die Abgeordneten Mays Brexit-Deal abgelehnt haben. Bereits im Januar haben sie mit überwältigender Mehrheit dagegen gestimmt. May führte daraufhin mit Gegnern des Abkommens in den eigenen Reihen und mit Vertretern der Opposition Gespräche. Forderungen, von ihrem relativ harten Brexit-Kurs abzulassen und mit dem Parlament an einem einvernehmlicheren EU-Austritt zu arbeiten, lehnte sie allerdings ab. Stattdessen kündigte sie an, sie werde versuchen, die EU zu Zugeständnissen beim umstrittenen Nordirland- Backstop zu bewegen.
Doch Brüssel hielt konsequent an der Position fest, dass es am eigentlichen Vertragstext des Austrittsabkommens keine Änderungen geben dürfe. Am Ende kam May nur mit einigen ergänzenden Zusicherungen nach Hause.
Was war dieser „Backstop“ noch mal?
Beim Nordirland-Backstop handelt es sich um eine Art Versicherung, die in Kraft treten würde, falls es Brüssel und London bei den kommenden Gesprächen über die zukünftigen Beziehungen nicht gelingen sollte, eine Lösung zu finden, mit der eine harte Grenze zwischen dem britisch verwalteten Nordirland und der Republik Irland verhindert werden kann. Denn dort würde nach dem Brexit die neue EU-Außengrenze verlaufen.
Das Verschwinden der inner-irischen Grenze hat in den 1990er-Jahren wesentlich dazu beigetragen, den blutigen Nordirland-Konflikt zu beenden. Die erneute Einrichtung einer harten Grenze könnte im schlimmsten Fall zu einem erneuten Ausbruch der Gewalt führen. Um das zu verhindern, würde Nordirland über den Backstop im EU-Binnenmarkt für Waren und in der Zollunion und der Rest des Landes in der Zollunion verbleiben.
Viele Brexit-Hardliner befürchten, dass die EU den Backstop dazu nutzen könnte, um Großbritannien in der Zollunion „gefangen“ zu halten. Sie träumen von Handelsabkommen mit Ländern wie Indien, Australien und China und scheinen zu glauben, dass Großbritannien so zumindest ein Stück weit zu seiner alten Größe zurückfinden könne. Eine fortgesetzte Mitgliedschaft in der Zollunion würde Großbritannien daran hindern, solche Handelsabkommen zu unterzeichnen. Einige Brexit-Unterstützer, unter ihnen Handelsminister Liam Fox, streben eine Annäherung an die USA an.
Wie lautet die Position der EU?
Seit klar ist, dass viele Abgeordnete den Backstop ablehnen, fordert London von Brüssel, ihn aus dem Austrittsabkommen zu entfernen, ihn zeitlich zu befristen oder Großbritannien die Möglichkeit zu geben, ihn einseitig aufzukündigen. Das lehnte die EU ab – mit dem Hinweis darauf, dass solche Einschränkungen den Backstop überflüssig machen würden.
Nach endlosen Verhandlungsrunden hat sich Brüssel Anfang dieser Woche bereiterklärt, das Scheidungsabkommen durch ein „rechtlich verbindliches Instrument“ zu ergänzen. Beide Seiten verständigen sich darauf, über die zukünftigen Handelsbeziehungen „in gutem Glauben“ zu verhandeln. Weiter heißt es in der Vereinbarung, dass „ein einseitiger Versuch, den Backstop unbefristet anzuwenden“, mit den „Pflichten im Rahmen des Austrittsabkommens“ unvereinbar wäre.
Doch das reichte nicht aus, um die Zweifler zu besänftigen.
Was passiert in den kommenden Tagen?
Da die Abgeordneten Theresa Mays Deal abgelehnt haben, sollen sie am Mittwoch über einen No-Deal-Brexit abstimmen. Das wäre der Austritt, bei dem Großbritannien die EU ohne ein Abkommen verlassen würde. Eine Mehrheit im Parlament gibt es dafür allerdings mit ziemlicher Sicherheit nicht. Das Land würde dennoch auf einen Brexit am 29. März zusteuern. Der ist auf Drängen der Hardliner gesetzlich festgeschrieben worden.
In einer weiteren Abstimmung sollen die Abgeordneten daher am Donnerstag entscheiden, ob sich die Regierung bei der EU um eine Verschiebung des Brexit-Termins bemühen soll. Es ist relativ wahrscheinlich, dass sich dafür eine Mehrheit finden wird. Doch es dürfte sofort Streit geben: Soll sich London nur um einen Aufschub von mehreren Wochen bemühen, wie es die Brexit-Unterstützer fordern? Oder soll der Brexit gleich um mehrere Monate oder womöglich Jahre verschoben werden?
Gerät der Brexit nun endgültig zur Farce?
Es ist zugleich unwahrscheinlich, dass sich Brüssel auf eine längere Verschiebung einlassen wird. Diese könnte schließlich komplexe rechtliche und politische Folgen haben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nahm kein Blatt vor den Mund, als er kürzlich erklärte, er werde eine Verschiebung blockieren, falls daran nicht „deutliche Ziele“ geknüpft seien. „Wir brauchen nicht Zeit, wir brauchen Entscheidungen.“
Übernehmen die Abgeordneten jetzt die Kontrolle über den Brexit-Prozess?
Theresa Mays erneutes Scheitern macht es wahrscheinlicher, dass die Abgeordneten versuchen könnten, die Kontrolle über den Brexit-Kurs von der Regierung zu übernehmen. Das könnten sie über Anträge im Parlament erreichen.
Dagegen werden sich allerdings die Brexit-Hardliner nach Kräften wehren. Sie befürchten, dass das Land sonst auf einen sanfteren Brexit zusteuern könnte.
Ein Austritt, bei dem das Land dauerhaft in einer Zollunion mit der EU verbleiben würde, könnte im Unterhaus mehrheitsfähig sein. Einen solchen Brexit strebt auch Labour an, die wichtigste Oppositionspartei.
Ist Theresa Mays Zeit als Premierministerin vorbei?
Der Brexit ist Mays wichtigstes (böse Zungen würden sagen: ihr einziges) politisches Projekt. Dass ihr mühselig mit der EU ausgehandeltes Abkommen nun zum zweiten Mal so eindeutig gescheitert ist, müsste eigentlich ihr politisches Ende bedeuten.
Aber Theresa May hat ein ausgesprochenes Talent, Rückschläge zu ignorieren. In ihrer Zeit als Premierministerin hat sie mehrere schwere Schlappen ausgesessen. Und ihre selbstsichere Reaktion direkt nach der schweren Niederlage am Dienstagabend sprach Bände. Dass sie zurücktreten könnte, erscheint ausgesprochen unwahrscheinlich.
Drei Szenarien, wie es jetzt mit dem Brexit weitergeht
Die Verlängerung der zweijährigen Austrittsfrist über Ende März hinaus ist nach Artikel 50 des EU-Vertrags durchaus möglich und politisch letztlich auch wahrscheinlich. Allerdings müssten die 27 bleibenden EU-Staaten einen britischen Antrag einstimmig billigen. Und die wollen ein solches Anliegen nach eigenem Bekunden nicht einfach durchwinken.
Eine Hürde ist der Termin für die Europawahl vom 23. bis 26. Mai: Als EU-Mitglied müsste Großbritannien am 2. Juli Abgeordnete zur konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments schicken. Denkbar sind deshalb zwei Varianten: eine kurze Verlängerung um wenige Wochen - in der Hoffnung auf eine Wende oder Lösung in London. Oder eine längere Verschiebung als eine Art Denkpause.
May bekannte selbst, dass eine Verschiebung „ohne Plan“ die Probleme kaum mindern würde. Niemand kennt eine Alternative zu dem abgelehnten Abkommen, und in wenigen Wochen wäre auch kein neues auszuhandeln. Am Ende der verlängerten Austrittsfrist würde doch nur wieder die Drohung eines Chaos-Brexits stehen, sagte May und resümierte: „Die Optionen sind trostlos.“
Der Europäische Gerichtshof hat den Weg aufgezeigt: Die britische Regierung könnte ihren 2017 gestellten Austrittsantrag bis zuletzt einseitig zurückziehen. Politisch gilt das jedoch als unwahrscheinlich. Nötig wäre wohl ein zweites Referendum, um so eine Kehrtwende zu legitimieren. May ist strikt dagegen und warnt vor einem Vertrauensverlust in die Demokratie, nachdem die Briten 2016 mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt hatten.
Die Labour-Opposition ist für eine neue Volksabstimmung, mobilisiert aber bisher im Unterhaus keine Mehrheit dafür. Einige in der EU sehen das trotzdem als Option. „Für eine erneute Befragung der Bevölkerung spricht auch, dass - anders als im Jahr 2016 - die Brexit-Folgen heute deutlich klarer sind: keiner der versprochenen Vorteile, aber Unsicherheit und Arbeitsplatzverluste“, meinte zum Beispiel der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sieht immerhin auch eine gestiegene Wahrscheinlichkeit, dass der Brexit ausfällt.
Auch die Gefahr eines Ausscheidens ohne Abkommen ist aus Sicht der EU größer geworden. Sowohl May als auch die EU stemmen sich wegen des befürchteten Chaos gegen dieses Szenario. Doch wenn Großbritannien und die EU nicht aktiv die Bremse ziehen, endet die britische EU-Mitgliedschaft automatisch am 29. März um 24.00 Uhr Brüsseler Zeit. Auch im britischen EU-Austrittsgesetz ist dieses Datum als Brexit-Termin festgeschrieben und müsste gestrichen werden.
Eine Mehrheit im Unterhaus hat einen Brexit ohne Vertrag bereits einmal abgelehnt. Fehlt nun nur noch die Ansage, was sie stattdessen will.
Zu einem Rücktritt zwingen kann sie ihre Partei derzeit ebenfalls nicht. Da Ende des Jahres ein parteiinterner Putschversuch der Brexit-Hardliner gescheitert ist, ist May gemäß Parteistatut bis zum kommenden Dezember vor einem weiteren Umsturzversuch sicher.
Auch ein weiteres Misstrauensvotum im Parlament (wie im Januar) würde sie vermutlich erneut überstehen. Allem parteiinternen Gezanke zum Trotz gibt es bei den Tories kein erkennbares Interesse, ausgerechnet jetzt Neuwahlen zu riskieren.
Daher könnte sich das Brexit-Drama ein weiteres Mal im Kreis drehen: Sollten die Abgeordneten in den kommenden Tagen nicht die Kontrolle über den Brexit-Kurs übernehmen und sollte sich die EU auf eine kurze Verschiebung des Brexit-Termins einlassen, wird May wohl ein weiteres Mal versuchen, mit Brüssel über den Nordirland-Backstop zu verhandeln.
Spätestens dann würden die Bemühungen Großbritanniens, die EU zu verlassen, endgültig zur Farce verkommen.
Wären nicht ein zweites Referendum ein Ausweg?
Die Befürworter eines zweiten EU-Referendums erhalten seit einiger Zeit Auftrieb. Aus gutem Grund: Immer mehr Umfragen deuten darauf hin, dass sich mittlerweile eine Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU aussprechen würde. Die Brexit-Hardliner lehnen ein solches Referendum daher vehement ab.
Seit Kurzem betrachtet auch die Labour-Führung ein solches Referendum als möglichen Ausweg aus der Brexit-Krise. Doch dabei wird es auf das Timing ankommen: Eine zu früh angesetzte Abstimmung im Unterhaus würde vermutlich scheitern. Denn auch bei Labour gibt es eine Reihe von Brexit-Hardlinern, die ein zweites Referendum ablehnen. Bei den Tories dürfte sich derzeit nur eine Handvoll von Rebellen dafür aussprechen.
Dauert die Krise allerdings an und zeichnet sich keine andere Lösung ab, könnte sich eine Mehrheit der Abgeordneten für ein zweites Referendum aussprechen.