
Die EU-Kommission hat die rechtskonservative ungarische Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban wegen weitreichender Verfassungsänderungen scharf kritisiert. „Diese Änderungen werfen Bedenken auf bezüglich des Respekts für das Rechtsstaatsprinzip, für das EU-Recht und die Standards des Europarates“, schrieb Kommissionschef José Manuel Barroso in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Generalsekretär des Europarates, Thorbjörn Jagland. Verfassungsexperten des Europarates und der EU-Kommission würden die beschlossenen Novellierungen jetzt genauer prüfen, hieß es in der Mitteilung.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle forderte die Einhaltung europäischer Grundwerte. „Wir sind in Europa eine Wertegemeinschaft. Und das muss sich auch nach innen in der Verfasstheit der Länder zeigen“, sagte er vor einem Treffen der EU-Außenminister in Brüssel.
Die umstrittenen Verfassungsänderungen
Die Höchstrichter dürfen Verfassungsänderungen und -zusätze künftig nur mehr noch verfahrensrechtlich, nicht mehr inhaltlich prüfen. Darüber hinaus ist es ihnen verwehrt, sich auf die eigene Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der derzeitigen Verfassung im Januar 2012 zu berufen.
Die vom Ministerpräsidenten ernannte Leiterin des Nationalen Justizamtes bekommt eine Vollmacht, um in bestimmten Fällen die Gerichte zuzuweisen.
Es soll die Möglichkeit geben, dass Wahlwerbung in privaten Medien verboten werden kann.
Wenn Obdachlose auf der Straße übernachten, können sie dafür ins Gefängnis kommen.
Die Regierungsmehrheit im Parlament erhält die Möglichkeit willkürlich über die Zuerkennung des Kirchenstatus zu entscheiden.
Der bisher von der Verfassung gewährte Schutz der Familie soll auf Mann und Frau, die miteinander verheiratet sind und Kinder großziehen, eingeengt werden.
Die Finanzautonomie der Universitäten wird durch von der Regierung eingesetzte Wirtschaftsdirektoren („Kanzler“) eingeengt.
Es gibt per Gesetz die Möglichkeit, Universitätsabgänger, die ohne Studiengebühren studiert haben, auf das Bleiben in Ungarn zu verpflichten.
Die vom ungarischen Parlament am Montag verabschiedete Novelle beinhaltet unter anderen eine Beschneidung der Befugnisse des Verfassungsgerichts. Damit kann die Regierung künftig in die Tätigkeit der unabhängigen Justiz eingreifen. Für die Vorlage stimmten die 265 Abgeordneten der Regierungspartei Fidesz (Bund Junger Demokraten), was die nötige Zweidrittelmehrheit ergab. Elf Abgeordnete stimmten dagegen, 33 weitere enthielten sich der Stimme. Die Delegierten der oppositionellen Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) boykottierten das Votum.
Die Verfassungsänderungen hatten schon im Vorfeld wegen ihrer möglicherweise demokratieschädigenden Stoßrichtung in Ungarn für Proteste und Besorgnis im Ausland gesorgt. Eine Anti-Terror-Einheit nahm Montagmittag etwa 20 Schüler fest, die mit einer Sitzblockade einen Zugang zum Parlament blockiert hatten.
Die 4. Verfassungsnovelle ergänzt das erst seit Anfang 2012 geltende neue Grundgesetz. Unter anderen sieht sie vor, dass sich das Verfassungsgericht künftig nicht mehr auf seine Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der neuen Verfassung stützen darf. Kritiker befürchten eine Marginalisierung des obersten Gerichts, das sich zuletzt häufig auf seine frühere Grundrechte-Interpretation berufen hatte, wenn es demokratisch bedenkliche Gesetze außer Kraft setzte.
Europa
Darüber hinaus darf das Verfassungsgericht künftig vom Parlament beschlossene Änderungen der Verfassung nur noch in verfahrensrechtlicher Hinsicht, nicht aber inhaltlich prüfen. Eine weitere Bestimmung sieht vor, dass die Präsidentin des Nationalen Justizamtes - eine von Orban eingesetzte loyale Funktionärin - bestimmte Fälle bestimmten Gerichten zuweisen kann. Diese Regelung war auch von der EU-Kommission ausdrücklich kritisiert worden.
Andere Bestimmungen erheben Gesetze in den Verfassungsrang, die zuvor vom Verfassungsgericht gekippt wurden. Darunter fallen die willkürliche Zuteilung des Kirchenstatus durch die Regierungsmehrheit im Parlament und das Verbot von Wahlwerbung im privaten Fernsehen. Außerdem wird Obdachlosigkeit unter Strafe gestellt.