Herr Lamy, noch nie hat es in Europa so viele Proteste gegen ein Freihandelsabkommen gegeben wie gegen den Handels-Deal mit den USA. Warum ist das transatlantische Projekt TTIP so unbeliebt?
Pascal Lamy: Von Beginn an haben die Verantwortlichen so getan, als ginge es dabei um ein gewöhnliches Handelsabkommen. Aber zum ersten Mal in der Geschichte wird über die Annäherung von Standards verhandelt – das ist etwas völlig anderes. Die Europäer wissen das nur zu gut, sie haben den Binnenmarkt von 1992 erfunden.
Wieso sind die Verhandlungen nun so anders?
Früher ging es darum, Zölle zu senken. Die Richtung war klar, und Tauschgeschäfte waren möglich. Heute geht es darum Standards anzugleichen. Ich kann aber nicht die Normen für Feuerzeuge als Verhandlungsmasse anbieten und dafür Normen bei Autostoßstangen bekommen. Das funktioniert nicht.
Kritik der Umweltschützer an TTIP
Egal ob Creme, Lippenstift oder Mascara – in Europa müssen solche Produkte eine Zulassung überstehen, die es in den USA so einheitlich nicht gibt. Sicherheitstests erfolgten dort freiwillig, heißt es beim Sachverständigenrat. Sonnenmilch allerdings gelte in Amerika als Medikament und sei streng reguliert.
Die Europäer wollen geklonte Nutztiere und Klonfleisch verbieten, auch deren Import. In den USA gibt es dagegen kein einheitliches Verbot. Gentechnisch veränderte Tiere, etwa Lachse, die schneller wachsen, sind dort bereits zugelassen und im Handel. Eine besondere Kennzeichnung ist nicht vorgeschrieben.
Gentechnisch veränderte Pflanzen und Nahrungsmittel müssen in der EU zugelassen und später gekennzeichnet werden. Das gilt auch für Futtermittel. Einzelne Mitgliedsstaaten können seit 2015 auf ihrem Gebiet sogar einzelne gentechnisch veränderte Pflanzen verbieten. In den USA ist nicht nur die Zulassung großzügiger, gentechnisch veränderte Lebensmittel werden regelmäßig nicht kenntlich gemacht.
Pflanzenschutzmittel, die möglicherweise Krebs erregen oder vielleicht das Erbgut schädigen können in der EU erst gar nicht auf den Markt – anders als in den USA.
Die Verordnung REACH gilt mit als schärfstes Chemikaliengesetz weltweit. Darin wird ein Zulassungsverfahren, eine Risikobewertung und teils eine Beschränkung für Chemikalien von der Herstellung in der Fabrik bis zum buntgefärbten T-Shirt beim Endverbraucher festgeschrieben. In den USA gilt kein vergleichbares „Vorsorgeprinzip“ bei Chemieprodukten.
Wie sollen Europa und die USA dann jemals die gleichen Standards bekommen?
Das wird nur funktionieren, wenn beide das jeweils höhere Niveau übernehmen. Die Anpassung muss nach oben stattfinden. Das hat die EU-Kommission, die für die 28 EU-Mitgliedsländer die Verhandlungen führt, nun klargestellt – sehr spät..
Wäre der Deal dann für die Wirtschaft noch interessant?
Absolut! Die Belastungen durch höhere Standards würden mehr als wettgemacht durch die Gewinne, die in einem größeren Markt entstehen würden. Die Unternehmen würden von Skalenökonomien profitieren.
Viele Verbraucher fürchten, es werde hinter ihrem Rücken verhandelt. Lässt sich dieser Eindruck überhaupt noch ausräumen?
Was Deutsche und Amerikaner über TTIP denken
Dieser Meinung ist jeder zweite Amerikaner – aber nur jeder fünfte Deutsche.
Hier sind sich die Deutschen und die Amerikaner nahezu einige: Jeweils jeder Fünfte glaubt das.
Dieser Ansicht sind zwölf Prozent der befragten Amerikaner und 61 Prozent der Deutschen.
Die Geheimniskrämerei am Anfang war ein Problem. Diskussionen über Standards können nur funktionieren, wenn man mit offenen Karten spielt. Die unterschiedlichen kollektiven Präferenzen müssen weiterhin bestehen können. In manchen Bereichen werden wir sehen, dass wir nicht dieselben Präferenzen wie die Amerikaner haben, etwa bei gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Aber bei der Markteinführung von Medikamenten wäre eine Einigung möglich.
Unterhändler bei Freihandelsabkommen sind an Geheimhaltung gewohnt. Können sie sich umstellen?
Es fällt ihnen schwer. Die tun sich überhaupt schwer mit der neuen Realität, weil man sie vielleicht bald nicht mehr braucht. Es sind ja die Regulierer, die zusammenarbeiten müssen.