Pipeline-Patt „Europa muss Russland beim Gasstreit die Stirn bieten“

Die Gaspipeline Nord Stream 2 kommt. Für die Ukraine bedeutet das sinkenden Einfluss – und das, was davon noch übrig ist, verspielt das Land leichtfertig. Quelle: dpa

Die Verhandlungen über ein Ende des Gasstreits zwischen Russland und der Ukraine stocken. Die Zeit drängt. Der Vertrag über den Transport von russischem Gas durch die Ukraine nach Europa läuft dieses Jahr aus. Die Europäer sind auf das Erdgas angewiesen, solange die neue russische Gasleitung Nord Stream 2 noch nicht gebaut ist. Wie die Spieltheorie hilft, den Konflikt zu lösen, erklärt Verhandlungsexperte René Schumann, Geschäftsführer von Kerkhoff Negotiations.

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WirtschaftsWoche: Herr Schumann, die Gräben zwischen Russland und der Ukraine sind tief. Die Verhandlungsrunde über einen neuen Transitvertrag für russisches Gas durch die Ukraine ist gescheitert. Wie lässt sich dieser Konflikt lösen?
René Schumann: In so einer komplexen Situation hilft die Spieltheorie. Mit ihr lassen sich solche schwierigen Verhandlungssituationen sehr gut analysieren: Wie sieht das Spielfeld aus, auf dem sich die Akteure befinden? Wer bringt was mit an den Verhandlungstisch? Wer hat welche Verhandlungsmacht? In diesem Konflikt zeigt sich: Die Ukraine hatte in der Vergangenheit eine sehr hohe Verhandlungsmacht. Russland war abhängig davon, dass die Ukrainer das russische Erdgas über ihren Boden transportieren lassen. Diese Situation hat sich mit dem Bau der neuen Gasleitung Nord Stream 2 für die Ukraine verändert. Die Ukraine muss also das Spielfeld ändern, es größer machen, um ihre Verhandlungsmacht zu stärken. Zum Beispiel, indem sie zusätzliche Spieler dazu holt.

Welche neuen Spieler könnten das denn sein, um die Verhandlungsmacht der Ukraine zu stärken?
Das könnten zum Beispiel die USA sein. Die Ukraine könnte sich die USA als Verbündete in diesem Streit suchen, um ihre Verhandlungsmacht gegenüber Russland zu stärken. Aber das tut sie nicht. Dabei ist das ihre einzige Chance, will sie in diesem Machtspiel nicht verlieren. Die Ukraine müsste sich entscheiden, wem sie sich annähern will: Europa oder den USA. Doch die Ukraine entscheidet sich weder in die eine noch in die andere Richtung. So fällt es schwer, die USA als Verbündete gegen Russland für sich zu gewinnen. Das Risiko für die Ukraine, sich zu günstig zu verkaufen, ist sehr hoch.

René Schumann, Jahrgang 1986, ist seit 2019 Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Kerkhoff Negotiations in Düsseldorf. Quelle: Kerkhoff Group/Nick Wolff

Die Russen sind also in der besseren Verhandlungsposition?
Russland hat sich sehr professionell in diesem Streit aufgestellt und sich konsequent überlegt, wie sie die Abhängigkeit von der Ukraine verringern kann. Das ist den Russen mit dem Bau der neuen Gasleitung Nord Stream 2 gelungen. Aber noch ist diese neue Pipeline nicht fertig. Und dieses Zeitfenster muss die Ukraine unbedingt ausnutzen. Aber das tut sie nicht, sondern spielt auf Zeit und verspielt damit ihre verbleibende Verhandlungsmacht.

Welche Rolle spielt die EU in diesem Konflikt? Und wie sollte sie sich verhalten, um den Gas-Streit zu schlichten?
Die EU sitzt mit am Verhandlungstisch und ist in einer guten Verhandlungsposition: Sie ist der Kunde. Sie könnte die beiden Partner zur Besonnenheit aufrufen. Aber sie schafft es nicht, sich zu koordinieren. Die EU spricht in dieser Verhandlungssituation eben nicht mit einer Stimme, sie verhandelt nicht stringent und schwächt so ihre Verhandlungsposition. Aber auch der EU muss es an einer Lösung dieses Konfliktes liegen: Kurzfristig ist die Versorgung Europas mit Gas zwar gesichert. Bis die neue Leitung Nord Stream 2 gebaut ist, werden die Vorräte reichen. Aber auch die EU muss sich absichern. Und das scheint sie nicht zu erkennen. Die europäischen Länder machen sich komplett abhängig von Russland mit Nord Stream 2. Die EU könnte die Ukraine also stärken bei den Verhandlungen über den neuen Transitvertrag mit Russland – aus purem Eigeninteresse, damit sie langfristig nicht abhängig von den Russen ist bei der Gasversorgung. Aber diese Chance nutzt die EU nicht. Die Amerikaner springen den Europäern nicht zur Seite. Sie mischen sich in diesen Konflikt nicht ein.

Die USA torpedieren die neue Gasleitung der Russen mit allen Mitteln. Insofern mischen sie sich sehr wohl ein.
Das ist richtig. Aber die Amerikaner haben keine erkennbare Verhandlungsstrategie. Es ist auch nicht erkennbar, welche gemeinsame Strategie die Ukraine mit den USA hat. Die USA müssten ein Interesse daran haben, dass die Ukraine Transitland bleibt. Nur gegen Nord Stream 2 zu poltern, ist keine Lösung. Die Leitung wird gebaut werden. Die Frage ist, was kommt danach? Die USA und die Ukraine spielen nur auf Zeit, haben aber keine langfristige Strategie.

Kann die EU noch vermitteln zwischen Russland und der Ukraine?
Die EU muss ihre Hausaufgaben machen. Und das heißt, sie muss klären, wie ihr Verhandlungsteam aussieht: Wer spricht mit den anderen Parteien? Sie muss die Emotionen aus dem Spiel nehmen. Die eine EU-Stimme gegenüber den anderen Akteuren in diesem Spiel gibt es nicht. Sie können an den schwachen Punkt der Russen gehen: Und das ist die Abhängigkeit Russlands von der EU. Die Russen brauchen die EU als Kunden für die Abnahme ihres Erdgases. Das erkennt die EU aber offensichtlich nicht.

Bietet die EU den Russen die Stirn, belastet das die Beziehungen mit dem Land noch mehr.
Je schwieriger und komplexer eine Verhandlungssituation ist, desto schwieriger ist es, sich auf eine Verhandlung vorzubereiten. Das Spielfeld in diesem Konflikt ist seit Jahren beliebig komplex. Die EU muss ein dezidiertes Verhandlungsteam schicken. Die Frage ist doch: Möchte man sich von einem Partner abhängig machen? Es ist klar, dass es ideal ist, sich eben nicht von einem abhängig zu machen. Die EU ist überhaupt noch nicht so weit. Russland hat das ganz professionell durchgezogen. Hier wird mit einer Stimme gesprochen.

Wenn Nord Stream 2 fertiggestellt ist, verhandelt die EU tatsächlich nur noch mit Russland. Welche Folgen hat das für Europa?
Das ist eine klassische Monopolisten-Situation. Die EU und Russland sind aufeinander angewiesen. Das ist das Positive. Das Negative ist: Russland verhandelt besser und professioneller als die EU. Das heißt, die EU hat einen taktischen Nachteil gegenüber Russland. Die EU könnte das Spielfeld ändern, um ihre Position zu stärken, indem sie Dritt-Lieferanten für Gas hereinholt. Die EU muss bereit sein, mit Russland etwa bei Preisverhandlungen kontrovers in die Diskussion einzusteigen und Russland klarzumachen, es gibt Alternativen, zum Beispiel von Flüssiggas-Lieferanten. Die USA, die sehr interessiert daran sind, mehr von ihrem Flüssiggas in Europa zu verkaufen, könnten ein Teil der Lösung sein.

Ist die Ukraine langfristig der Verlierer in diesem Gasstreit?
Definitiv. Russland hat sämtliche Erpressungsversuche umgangen. Die Ukraine wird systematisch an die Wand gefahren.

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