Auf welchen Feldern braucht Europa derzeit am dringendsten Führung?
Wenn die leidigen Personalfragen um die Besetzung der neuen EU-Kommission durch sind, dann gibt es in Europa zwei Megathemen. Zum einen müssen wir uns fragen, wie wir Einfluss auf die Konflikte und Kriege in der Welt nehmen können. Denn klar ist: Europa hat eine weltpolitische Mitverantwortung. Und kein Staat, weder die Konfliktparteien, noch die Bündnispartner, fragen die Position eines einzelnen EU-Landes ab. Sondern die Frage „Wo steht ihr?“ bezieht sich immer auf ganz Europa. Dort muss es Brüssel endlich schaffen, einen kompetenten Ansprechpartner zu installieren.
Und das zweite große Thema ist die Verwirklichung der politischen Union, um die Euro-Krise nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Was Manager, Intellektuelle und Geldleute den europäischen Politikern raten
„Zuerst müssen wir anders über Europa denken und reden: über unsere industriellen Kompetenzen, unsere Handwerkskultur, die nachhaltiges Wirtschaften erlaubt, über die Rolle eines starken Europas in einer globalisierten Welt, über Chancen, die es jungen Menschen bietet. Dann müssen wir die Ärmel hochkrempeln, um wieder zu wachsen: durch einen funktionierenden Binnenmarkt, mehr Mobilität, höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, durch Infrastrukturprojekte, einen transatlantischen Wirtschaftsraum – und Strukturreformen. 500 Millionen begeisterte Europäer können die Welt verändern!“
„Wichtig ist, dass sich keine so massiven Ungleichgewichte mehr entwickeln. Die EZB hat mit ihren Operationen Zeit gekauft. Das darf aber nur eine vorübergehende Lösung sein. Die Zentralbank muss sich wieder darauf konzentrieren, was ihre Hauptaufgabe ist: Gewährleistung der Preisstabilität!“
„Europa sollte sich daran erinnern, dass es viel mehr ist als die Europäische Union oder der Euro. Damit es eine Zukunft hat, muss der Kontinent auf seine ureigenen Stärken setzen. Das heißt: mehr Vielfalt, mehr Wettbewerb der Kulturen und Ideen, mehr pragmatische Lösungen; weniger großsprecherische Visionen, politische Zwangskonvergenz und doktrinäre Einheitssuppe aus Brüssel.“
„Das Europa des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr der Nabel der Welt. Wenn wir im Konzert der Kontinente die erste Geige spielen wollen, darf sich Brüssel nicht mehr damit befassen, ob Olivenöl nur in geschlossenen Flaschen oder auch in offenen Karaffen serviert werden darf. Wir brauchen ein geeintes Europa, das seine Stärken in den Welthandel einbringt und durch kooperative Handelspolitik ein Ende der schädlichen Strafzölle und Subventionen einleitet. Wenn es gelingt, die Staatshaushalte zu sanieren und den Euro zu stärken, und wir den europäischen Gedanken weiter denken – mit gemeinsamer Wirtschafts- und Finanzpolitik – stehen uns alle Türen offen.“
„Wer die Krise Europas überwinden will, muss den Bürgern klarmachen, dass und warum es sich lohnt, alle dafür notwendigen Anstrengungen auf sich zu nehmen. Von dieser Überzeugungsarbeit ist wenig zu sehen. Kaum ein Politiker traut sich noch, die einzigartigen Vorteile dieses Zivilisationsmodells zu verteidigen. Angela Merkels Methode, die Deutschen in eine immer höhere Haftung hineinzutricksen und den südeuropäischen Ländern nichts als Hungerkuren zu verordnen, funktioniert offensichtlich nicht. Bei den Deutschen hat diese Politik das (falsche) Gefühl bestärkt, dass sie allein für Europa zahlen und nichts von Europa haben; der jungen Generation in den Schuldenländern bringt sie Massenarbeitslosigkeit und eine Zukunft ohne Hoffnungen. Die Politik der Gipfeltreffen und ständig nachjustierten Beschlüsse hinter verschlossenen Türen ist zu Ende. Wenn das Projekt Europa noch zu retten ist, dann nur durch die Mitwirkung der Bürger, nicht hinter ihrem Rücken.“
Haben Europas Staats- und Regierungschefs die Legitimation der Bürger, noch mehr Rechte nach Brüssel zu verlagern?
Das ist sicherlich eine große Hürde. Diese Frage wird uns in den kommenden Monaten und Jahren begleiten – und alle Akteure, die die Verwirklichung der politischen Union wollen, müssen mehr Kraft investieren und Überzeugungsarbeit leisten. Ein Hauch von Legitimationskultur ist ja durch die Wahl zum Europäischen Parlament aufgekommen, die gleichzeitig eine Wahl zur EU-Kommission war. Das ist ein erster Schritt, darf aber nicht alles sein. Die EU muss transparenter und bürgernäher werden. Wir erleben ein Zeitalter, in dem das Volk souveräner denn je ist und mitsprechen will. Dieser Wunsch wird nicht durch eine distanzierte Institution in Brüssel verkörpert.
Wie realistisch ist es in Ihren Augen, dass die politische Union zeitnah kommt?
Ich bin da ganz optimistisch, gerade weil wir uns im Krisenmodus befinden. Solange eitel Sonnenschein herrscht, gibt es keinen Drang nach Veränderungen. Die Probleme, die die Euro-Krise offenbart hat, die waren ja fast so erwartet worden. Helmut Kohl sprach 1992 kurz vor der Unterzeichnung der Maastricht-Verträge, die den Euro ermöglichten, davon, dass es „abwegig“ sei, auf eine stabile Währung zu hoffen, sofern es keinen politischen Rahmen gäbe. Alle Fraktionen im Bundestag applaudierten. Trotzdem ist nichts dergleichen in den folgen Jahren passiert. Das Ergebnis kennen wir. Jetzt, durch den Druck der Krise, lässt sich die Vertiefung der Europäischen Union nicht länger aufhalten.
Und noch einmal: Diese Vertiefung der Union lässt sich auch gut begründen, wenn man es denn nur versucht. Europa hat das Potenzial zur Weltmacht, wenn es endlich vereint wird.
Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter
Die EU gilt vielen als Verwaltungsmoloch. Mit rund 33.000 Mitarbeitern beschäftigt die EU-Kommission in etwa so viele Menschen wie die Stadtverwaltung München.
Seit der Einführung direkter Europawahlen 1979 hat das EU-Parlament deutlich mehr Einfluss gewonnen. Die Abgeordneten bestimmen über die meisten Gesetze mit, haben das letzte Wort beim Haushalt und wählen den Kommissionspräsidenten.
Deutschland leistet den größten Beitrag zum EU-Haushalt. 2012 zahlte Berlin netto 11,9 Milliarden Euro. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind Dänemark oder Schweden aber noch stärker belastet.
Zehn Jahre nach der Osterweiterung erweist sich die Angst vor dem „Klempner aus Polen“ als unbegründet. Stattdessen wächst die Wirtschaft in den neuen Mitgliedstaaten.
Neue Sanktionen gegen Russland beweisen: Die EU spielt eine Rolle in der Ukraine-Krise - ebenso wie bei anderen Krisenherden in aller Welt. Den EU-Staaten fällt es dennoch oft schwer, in der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen.
Bereits seit 2009 abgeschafft, lastet die „Verordnung (EWG) Nr. 1677/88“ noch wie ein Fluch auf Brüssel. Die Vorschrift setzte Handelsklassen für das grüne Gemüse fest und gilt als Paradebeispiel für die Regulierungswut von Bürokraten.
In diesem Jahr verfügt die EU insgesamt über mehr als 130 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, entspricht aber nur rund einem Prozent der Wirtschaftsleistung der Staaten.
Die Landwirtschaft macht einen sehr großen, aber kleiner werdenden Teil des EU-Haushalts aus. Der Agrar-Anteil am Budget ist in den vergangenen 30 Jahren von 70 auf 40 Prozent geschrumpft.
Die EU-Abgeordneten erhalten monatlich zu versteuernde Dienstbezüge von 8020,53 Euro. Hinzu kommen stattliche Vergütungen etwa für Büros, Mitarbeiter und Reisen. Ein Bundestagsabgeordneter erhält 8252 Euro, ebenfalls plus Zulagen.
Achja? Das sehen nicht alle so: Der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore erklärte unlängst in einem Interview mit WirtschaftsWoche Online, dass Europa vor einem „historischen Niedergang“ stehe.
Das habe ich schon oft gehört. Zwischen 1973 und 1984 – Stichwort: Eurosklerose – wurde die Europäische Union ja bereits totgesagt. Es hieß, wer Zukunft haben will, müsse nach Asien schauen. Europa sei nur noch interessant für Museumswärter und Archäologen. Aus dieser Krise haben wir uns befreit, Europa hat sich weiterentwickelt: die EU hat sich nach Osten geöffnet, in der Mehrzahl der EU-Länder wurde der Euro eingeführt. Die Anziehungskraft auf die Anrainerstaaten ist nach wie vor enorm hoch, acht Staaten wollen derzeit Mitglieder des Staatenbunds werden. Das Potenzial Europas ist enorm. Europa ist eine Weltmacht – aufgrund der Führungsschwäche aber derzeit eine kopflose Weltmacht. Dennoch: Es gibt gute Gründe, Herrn Gore zu widersprechen und auf die Prognosefähigkeit der Amerikaner zu Europa nicht allzu viel zu geben.