Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld "Europa ist eine kopflose Weltmacht"

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"Das Potenzial Europas ist enorm"

Auf welchen Feldern braucht Europa derzeit am dringendsten Führung?

Wenn die leidigen Personalfragen um die Besetzung der neuen EU-Kommission durch sind, dann gibt es in Europa zwei Megathemen. Zum einen müssen wir uns fragen, wie wir Einfluss auf die Konflikte und Kriege in der Welt nehmen können. Denn klar ist: Europa hat eine weltpolitische Mitverantwortung. Und kein Staat, weder die Konfliktparteien, noch die Bündnispartner, fragen die Position eines einzelnen EU-Landes ab. Sondern die Frage „Wo steht ihr?“ bezieht sich immer auf ganz Europa. Dort muss es Brüssel endlich schaffen, einen kompetenten Ansprechpartner zu installieren.

Und das zweite große Thema ist die Verwirklichung der politischen Union, um die Euro-Krise nachhaltig in den Griff zu bekommen.

Was Manager, Intellektuelle und Geldleute den europäischen Politikern raten

Haben Europas Staats- und Regierungschefs die Legitimation der Bürger, noch mehr Rechte nach Brüssel zu verlagern?

Das ist sicherlich eine große Hürde. Diese Frage wird uns in den kommenden Monaten und Jahren begleiten – und alle Akteure, die die Verwirklichung der politischen Union wollen, müssen mehr Kraft investieren und Überzeugungsarbeit leisten. Ein Hauch von Legitimationskultur ist ja durch die Wahl zum Europäischen Parlament aufgekommen, die gleichzeitig eine Wahl zur EU-Kommission war. Das ist ein erster Schritt, darf aber nicht alles sein. Die EU muss transparenter und bürgernäher werden. Wir erleben ein Zeitalter, in dem das Volk souveräner denn je ist und mitsprechen will. Dieser Wunsch wird nicht durch eine distanzierte Institution in Brüssel verkörpert.

Wie realistisch ist es in Ihren Augen, dass die politische Union zeitnah kommt? 

Ich bin da ganz optimistisch, gerade weil wir uns im Krisenmodus befinden. Solange eitel Sonnenschein herrscht, gibt es keinen Drang nach Veränderungen. Die Probleme, die die Euro-Krise offenbart hat, die waren ja fast so erwartet worden. Helmut Kohl sprach 1992 kurz vor der Unterzeichnung der Maastricht-Verträge, die den Euro ermöglichten, davon, dass es „abwegig“ sei, auf eine stabile Währung zu hoffen, sofern es keinen politischen Rahmen gäbe. Alle Fraktionen im Bundestag applaudierten. Trotzdem ist nichts dergleichen in den folgen Jahren passiert. Das Ergebnis kennen wir. Jetzt, durch den Druck der Krise, lässt sich die Vertiefung der Europäischen Union nicht länger aufhalten.

Und noch einmal: Diese Vertiefung der Union lässt sich auch gut begründen, wenn man es denn nur versucht. Europa hat das Potenzial zur Weltmacht, wenn es endlich vereint wird.

Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter

Achja? Das sehen nicht alle so: Der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore erklärte unlängst in einem Interview mit WirtschaftsWoche Online, dass Europa vor einem „historischen Niedergang“ stehe.

Das habe ich schon oft gehört. Zwischen 1973 und 1984 – Stichwort: Eurosklerose – wurde die Europäische Union ja bereits totgesagt. Es hieß, wer Zukunft haben will, müsse nach Asien schauen. Europa sei nur noch interessant für Museumswärter und Archäologen. Aus dieser Krise haben wir uns befreit, Europa hat sich weiterentwickelt: die EU hat sich nach Osten geöffnet, in der Mehrzahl der EU-Länder wurde der Euro eingeführt. Die Anziehungskraft auf die Anrainerstaaten ist nach wie vor enorm hoch, acht Staaten wollen derzeit Mitglieder des Staatenbunds werden. Das Potenzial Europas ist enorm. Europa ist eine Weltmacht – aufgrund der Führungsschwäche aber derzeit eine kopflose Weltmacht. Dennoch: Es gibt gute Gründe, Herrn Gore zu widersprechen und auf die Prognosefähigkeit der Amerikaner zu Europa nicht allzu viel zu geben.

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