
Nach mehr als elf Jahren als Regierungschef will der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Staatsoberhaupt seines Landes werden. „Er ist unser Kandidat für die Präsidentschaft“, sagte AKP-Vizechef Mehmet Ali Sahin am Dienstag bei der im Fernsehen übertragenen Nominierungsveranstaltung in Ankara. Die Parteimitglieder hätten sich übereinstimmend für die Kandidatur Erdogans (60) bei der Wahl in knapp sechs Wochen ausgesprochen.
Übersicht der Kritik an Erdogan
2008 steht Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit der Opposition im Konflikt um die geltende Trennung von Staat und Religion. Das Parlament kippt auf Initiative der AKP per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an Hochschulen. Daraufhin eröffnet das Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Eine Million Menschen demonstrieren in Izmir für eine laizistische Türkei. Das Gericht kippt schließlich die Entscheidung des Parlaments zur Aufhebung des Kopftuchverbots. Das Verbotsverfahren gegen die AKP scheitert 2010 aber knapp an der Stimme eines Richters.
Ein ultranationalistischer Geheimbund namens „Ergenekon“ soll versucht haben, die islamisch-konservative Regierung zu stürzen. Viele der mehr als 270 Beschuldigten müssen für Jahrzehnte ins Gefängnis - darunter Militärs, Politiker und Journalisten. Der frühere Armeechef Ilker Basbug wird im August 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Protestbewegung gegen die Erdogan-Regierung dauert 2013 wochenlang an. Im Mai räumen Polizisten mit einem brutalen Einsatz ein Protestlager im Istanbuler Gezi-Park. Es folgen weitere Proteste in mehreren Städten - vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des Ministerpräsidenten. Mehrere Menschen kommen ums Leben, Hunderte werden verletzt.
Die Türkei wird seit Mitte Dezember 2013 von einem Korruptionsskandal erschüttert. Die Ermittlungen erstreckten sich auch auf die Familien mehrerer Minister. Erdogan sieht eine Kampagne gegen seine Politik und reagiert mit einer „Säuberungswelle“ in Polizei und Justiz, bei der Hunderte Beamte zwangsversetzt werden. Die AKP setzt zudem eine Gesetzesänderung durch, die dem Justizminister mehr Macht geben soll. Das Verfassungsgericht annulliert allerdings im April 2014 teilweise Erdogans Justizreform.
Das Parlament nimmt im Februar 2014 einen Gesetzentwurf der Regierung für eine verschärfte Internetkontrolle an. Demnach dürfen Behörden Seiten auch ohne richterlichen Beschluss sperren. Erdogans Zorn auf soziale Netzwerke hat sich an auf YouTube veröffentlichten Telefonmitschnitten entzündet. Darin war angeblich zu hören, wie er seinen Sohn auffordert, große Geldsummen vor Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen. Im März wird der Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter gesperrt, das Verfassungsgericht hebt die Regierungsentscheidung aber wieder auf.
Bei der Präsidentenwahl am 10. August können die Bürger und auch die im Ausland lebenden Türken das Staatsoberhaupt erstmals direkt bestimmen. Der seit 2007 amtierende Präsident Abdullah Gül - der wie Erdogan zu den AKP-Gründern gehört - tritt nicht mehr an. Gül beschränkt sich als Präsident weitgehend auf die zeremonielle Rolle des Amtes. Erdogan hat bereits deutlich gemacht, dass er im Fall seiner Wahl zum Präsidenten die in der Verfassung vorgesehenen Spielräume voll nutzen möchte. Das Staatsoberhaupt ernennt etwa den Regierungschef und ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Gesetze kann der Präsident ans Parlament zurückschicken.
Die beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP haben den früheren Generalsekretär der Organisation der Islamischen Kooperation (OIC), Ekmeleddin Ihsanoglu, als Gemeinschaftskandidaten nominiert. Die pro-kurdische Partei HDP schickt ihren Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas ins Rennen. Umfragen sehen Erdogan als klaren Favoriten. Allerdings ist unklar, ob Erdogan die in der ersten Wahlrunde erforderliche absolute Mehrheit gewinnt. Andernfalls ist für den 24. August eine Stichwahl geplant. Güls Amtszeit endet am 28. August. Die Statuten von Erdogans Partei AKP verbieten mehr als drei Amtszeiten in demselben politischen Amt. Erdogan ist demnach eine vierte Amtszeit als Ministerpräsident in Folge nach der Parlamentswahl im kommenden Jahr verwehrt.
Erdogans Erklärung zur Kandidatur waren wochenlange Spekulationen vorausgegangen, ob er antreten würde. Seine Partei hatte sich klar dafür ausgesprochen. Wer ihm als Ministerpräsident und an der Spitze der AKP nachfolgt, ist noch nicht bekannt. Erdogan hatte das Amt des Regierungschefs Anfang 2003 übernommen. Zuletzt hatten in der Türkei Ende März landesweite Kommunalwahlen stattgefunden, die Erdogan zu einer Art Referendum über seine Politik erklärt hatte. Die AKP war mit rund 43 Prozent der Stimmen als mit Abstand stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen. Besonders seit den landesweiten Gezi-Protesten vor einem Jahr ist Erdogan international zunehmend umstritten. Ihm wird vorgeworfen, immer autoritärer zu regieren und regierungskritische Proteste von der Polizei gewaltsam zerschlagen zu lassen.