Präsidentschaftswahlen in der Türkei „Erdoğan geht die Munition aus, um die Wirtschaft weiter anzukurbeln“

Am 14. Mai hat die Türkei die Wahl. Quelle: AP

Hohe Inflation, eine schwache Lira und stagnierendes Wachstum – wirtschaftliche Probleme könnten dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Wahlsieg kosten. Was die Wahl entscheiden wird, erklärt Ökonomie-Professorin Selva Demiralp im Interview.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

WirtschaftsWoche: Frau Demiralp, am Sonntag blickt die Welt auf die Präsidentschaftswahl in der Türkei. Wie ist die Stimmung im Land?
Selva Demiralp: Die meisten Menschen glauben an einen sehr knappen Wahlausgang. Sowohl der Sieg für Präsident Erdoğan als auch für die Opposition scheinen möglich. Im Zentrum der Diskussion stehen die wirtschaftlichen Probleme – und wahlentscheidend wird sein, ob diese als politisches Versagen oder als externe Schocks wahrgenommen werden, auf die die Regierung keinen Einfluss hat. Präsident Erdoğan erklärt beispielsweise die hohe Inflation mit dem globalen Preisdruck, der durch die gestörten Lieferketten und dem russischen Krieg gegen die Ukraine entstanden ist. Damit will er sagen, dass sich die hohe Inflation seiner Kontrolle entzieht. Aber das stimmt meiner Meinung nach nur zu einem gewissen Grad.

Sie haben gerade anhand von Umfragedaten der Wahl 2018 untersucht, wie sich die individuelle wirtschaftliche Lebenslage auf die Parteipräferenz auswirkt. Was kam dabei heraus?
Wir haben herausgefunden, dass sich die Leute eher von Erdoğans AKP abwenden, wenn sie wirtschaftliche Schwierigkeiten haben. Gleichzeitig sehen wir: Menschen mit hohem Einkommen stimmen seltener für die AKP als Menschen mit niedrigem Einkommen. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass niedrige Einkommensgruppen mehr von staatlichen Transferzahlungen und dem höheren Mindestlohn profitieren. Deswegen halten diese Menschen an der AKP fest, obwohl ihre Kaufkraft durch die hohe Inflation abgenommen hat.

Wie geht es der türkischen Wirtschaft aktuell?
Den Prognosen zufolge liegt das Wachstum der türkischen Wirtschaft im zweiten Quartal bei fast null Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Damit befindet sich die Wirtschaft in einer Abkühlungsphase. Die anhaltende Politik der niedrigen Zinsen hat die Wirtschaft überhitzt. Seit Dezember 2021 verfolgt Erdoğan ja eine stark expansive Geldpolitik. Damals lag der Leitzins bei 19 Prozent, die Inflation bei 20 Prozent. Heute steht der Leitzins bei 8,5 Prozent, die Inflation im April bei 44 Prozent. Im Oktober 2022 waren es sogar noch 85 Prozent. Um es zusammenzufassen: Die Türkei geht gerade durch eine schwierige wirtschaftliche Zeit – und Erdoğans Regierung wird dafür einen Preis zahlen müssen.

Die Ökonomie-Professorin Selva Demiralp lehrt seit 2005 an der Koç Universität in Istanbul. Quelle: Privat

Zur Person: Selva Demiralp

Und wie reagieren die Verbraucher?
Die Menschen verlieren durch die hohe Inflation an Kaufkraft und halten ihr Geld zusammen. Viele Haushalte haben aber zuletzt noch schnell ein neues Auto oder Elektrogerät gekauft, bevor die Preise weiter steigen. Dadurch ist die Nachfrage so stark gewachsen, dass das Angebot nicht mehr ausreicht – was die Preise für diese Produkte zusätzlich antreibt.

Die türkische Regierung hat nun den Mindestlohn erhöht und die Beamtenlöhne angepasst. Hat das die Kaufkraft nicht stabilisiert?
Das hat geholfen, dennoch ist die Kaufkraft insgesamt gesunken. Die Lohnsteigerungen können mit der hohen Inflationsrate nicht mithalten. Wir befinden uns aktuell in einer Situation, in der die Wirtschaft einen neuen Impuls braucht. Aber das niedrige Wirtschaftswachstum deutet darauf hin, dass Erdoğans Regierung die Munition ausgeht, um die Wirtschaft weiter anzukurbeln. 

19 Lira hat ein US-Dollar Anfang Mai gekostet – ein Rekord. Stärkt der schwache Wechselkurs nicht den Export?
Anfangs ja, denn der schwache Wechselkurs macht türkische Produkte für das Ausland billiger. Schaut man sich aber den realen Wechselkurs an, also berücksichtigt man die hohe Inflation in der Türkei im Vergleich zur USA, gilt das Export-Argument nicht mehr. Die Inflation hat die Produkte in der Türkei so verteuert, dass der Wechselkurs noch viel stärker hätte abwerten müssen, um das auszugleichen. Aber das ist nicht passiert – und das spüren die Exporteure nun.  

Was bezweckt Präsident Erdoğan mit seiner unorthodoxen Wirtschaftspolitik?
Das Ziel expansiver Wirtschaftspolitik ist es, Wachstum zu erzeugen. Und mit Hilfe der schwachen Lira wollte die Regierung die türkischen Exporte stärken. Die Produkte, die wir exportieren, haben keinen hohen Wertschöpfungsgrad, deswegen ist der niedrige Preis unser Wettbewerbsvorteil. Doch Leitzinssenkungen in einem inflationären Umfeld gehen nun mal nach hinten los. Die Regierung dachte, die Inflation sei der Preis, den sie für höheres Wachstum zahlen muss. Aber das funktioniert nur für eine kurze Zeit. Das sieht man auch an den Zinsen am türkischen Finanzmarkt: Die steigen nämlich, weil sie Inflationserwartungen und Risikoaufschläge einpreisen. Was wir gerade in der Türkei erleben, nenne ich „contractionary expansion“: In der Theorie treibst du die Wirtschaft an, in der Praxis schrumpft sie aber. 

Trotz der niedrigen Leitzinsen verteilen die Banken momentan also nicht mehr, sondern weniger Kredite?
Genau. Als die Marktzinsen angestiegen sind, hat die Regierung den Banken einen Riegel vorgeschoben und ein Limit für Kreditzinsen festgelegt. Über einem bestimmten Zinsniveau müssten die Banken demnach höhere Einlagereserven vorhalten. Gleichzeitig müssen die Banken höhere Zinsen auf Sparguthaben zahlen. So will die Regierung verhindern, dass Menschen ihr Erspartes von Lira in Dollar umtauschen, damit ihr Geld nicht an Wert verliert. Niedrige Kreditzinsen bei hohen Depotzinsen bedeuten für die Banken allerdings Verluste. Deswegen nimmt die Kreditvergabe ab. 

Das Erdbeben Anfang Februar im Osten der Türkei hat den Druck auf Präsident Erdoğan nochmal erhöht, sein Krisenmanagement steht in der Kritik. Was sind die wirtschaftlichen Folgen des Erdbebens?
Die Regierung beziffert die Schäden auf 100 Milliarden Dollar, das Wirtschaftswachstum wird wahrscheinlich um ein bis zwei Prozentpunkte sinken. In den betroffenen Gegenden standen vor allem Wohnhäuser und nur wenige Bürogebäude und Fabriken. Die Region ist von Landwirtschaft geprägt und trägt etwa 8,5 Prozent zum türkischen Bruttoinlandsprodukt bei.  

Könnten sich die Folgen des Erbebens auf die Wahl auswirken?
Schwer zu sagen. Die Frage ist, wie erfolgreich Regierung und Opposition ihre Versionen der Geschichte verkaufen können. Die Regierung sagt, dass ein Erdbeben dieses Ausmaßes überall auf der Welt solche Schäden anrichten würde. Die Opposition argumentiert, dass die Nicht-Einhaltung der Bauvorschriften der Hauptgrund sind, warum so viele Gebäude in sich zusammenfielen. Umfragen zeigen, dass die Basis der AKP-Wähler die Regierung für die Erdbebenschäden nicht verantwortlich macht. Daher wird es nur einen Unterschied machen, wenn die Opposition die unentschiedenen Wähler mit ihrer Darstellung erreichen kann. 

Bei all dem, was in der türkischen Wirtschaft gerade schiefläuft:  Was klappt ihrer Meinung nach richtig gut?
Die Haushaltsdisziplin der Regierung war schon immer eine der größten Stärken der Türkei. Vergangenes Jahr betrug das Budgetdefizit nur ein Prozent. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern wenig. Trotz populistischer Maßnahmen und der hohen zusätzlichen Ausgaben für die Erdbebenregion erwarten wir, dass das Defizit in diesem Jahr nicht mehr als fünf Prozent beträgt.  

Über Ihre Arbeit an der Universität haben Sie viel Kontakt mit Studierenden. Wie viel Einfluss hat die junge Generation auf die Wahl?
Die jungen Menschen werden das Schicksal der Wahl bestimmen. Mehr als fünf Millionen Türkinnen und Türken dürfen dieses Jahr zum ersten Mal wählen. Regierung und Opposition versuchen daher, insbesondere diese Gruppe mit ihren Botschaften zu erreichen. Die ältere Generation hat meist schon entschieden, für wen sie stimmen. Die jungen Menschen werden die ein oder zwei Prozent ausmachen, die es braucht, um zu gewinnen. Die Koç Universität ist privat, die Studierenden kommen aus gebildeteren und reichen Familien. Deswegen sind sie nicht repräsentativ. Viel mehr ins Gewicht fallen die Stimmen junger Menschen aus den ländlichen Gebieten in Anatolien, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei fast 20 Prozent liegt.  

Ein Jahr Atomausstieg „Natürlich wäre der Strom mit Atomkraft günstiger“

Vor einem Jahr gingen die letzten drei deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Kritiker halten das bis heute für einen Fehler. Zu Recht? Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm über mangelnden Pragmatismus und hohe Preise.

Volkswagens Sparprogramm VW macht Ernst: So will der Autobauer den Personalabbau vorantreiben

Die Volkswagen AG startet ihren Personalabbau: Dabei soll es auch ein Freiwilligenprogramm mit Abfindungen geben. Wer besonders schnell zusagt, erhält 50.000 Euro extra. Zudem wird die Altersteilzeit ausgeweitet.

Varengold Bank Was hat diese Hamburger Privatbank mit heiklen Irangeschäften zu tun?

Die Varengold Bank war Drehscheibe für den Handel mit dem Iran. Nun geben Dokumente Einblick in die mutmaßlichen Geschäfte – und offenbaren Mittelsmänner.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Schauen wir auf Deutschland: Wir werden sich die deutsch-türkischen Handelsbeziehungen nach der Wahl entwickeln?
Sie werden stark bleiben, allein schon aufgrund der geopolitischen Position der Türkei. Wir dürften davon profitieren, dass nach Pandemie und Lieferketten-Engpässen viele Unternehmen nun vermehrt Partner in ihrer Nähe suchen, anstatt nach China zu gehen. Sobald die türkische Wirtschaft ihre makroökonomische Schieflage überwunden hat, werden die ausländischen Direktinvestitionen aus Europa wieder substanziell steigen. Die türkische Opposition etwa rechnet mit 300 Milliarden Dollar Kapitalzufluss aus dem Ausland. Unser Wachstumspotenzial ist hoch – das spricht für eine Handelspartnerschaft, von der beide Seiten profitieren.

Lesen Sie auch: Warum der Westen die Türkei falsch versteht

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%