Protest der Gelbwesten Milliarden sollen Frankreich den sozialen Frieden bringen

Emmanuel Macron: Milliarden sollen Gelbwesten besänftigen Quelle: AP

Staatschef Macron reagiert mit einer TV-Ansprache ans Volk auf die Proteste. Mit teuren Zugeständnissen riskiert er den Bruch des Defizitlimits. Doch die Demonstranten in den gelben Warnwesten lassen sich nicht umstimmen.

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Es war ein Countdown zur Stunde Null. So häufig bekommt man im Radio und Fernsehen die noch fehlenden Stunden und Minuten ansonsten nur an Silvester zu hören. Noch vier Stunden, noch eine Stunde und 5 Minuten, noch 39 Minuten, in zehn Minuten, in zwei Minuten. Dann war der den ganzen Tag über mit Spannung erwartete Moment da, eingeleitet durch die französische Nationalhymne. Präsident Emmanuel Macron wandte sich von seinem Elysée-Palast aus an das Volk, um die seit einem Monat anschwellende Staatskrise zu beenden.

13 Minuten später, nach dem obligatorischen Schlusswort „Es lebe Frankreich“, waren zwei Dinge klar: Unternehmer und Vermögende konnten ein wenig aufatmen. Auf sie kommen zumindest keine neuen Belastungen zu. Die befürchtete Wiedereinführung der Vermögenssteuer steht nicht zur Debatte. Auch an den geplanten Steuerentlastungen für nächstes Jahr wird nicht gerüttelt. Doch die Proteste der „Gilets Jaunes“, der Demonstranten in ihren gelben Warnwesten, werden anhalten. Macron erreicht die finanziell Schwächeren nicht mehr, die sich abgehängt und ungerecht behandelt fühlen von einem Staatschef, den sie den „Präsidenten der Reichen“ schimpfen. Auch wenn er nun bis zu zehn Milliarden Euro zusätzlich zu ihren Gunsten ausgeben und die Neuverschuldung in die Höhe treiben wird.

Damit bleibt Frankreich in einem gefährlichen Aufruhr gefangen. Dem Land stehen sehr wahrscheinlich weitere hässliche Szenen wie an den vergangenen von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägten Wochenenden bevor. Das kommt ihn teuer zu stehen. Für das vierte Quartal hat die französische Nationalbank die Wachstumserwartungen bereits halbiert, von 0,4 auf 0,2 Prozent. Grund dafür ist größtenteils der fehlende Umsatz von Einzelhändlern und Hotelbetreibern. Die einen verbarrikadieren sich ausgerechnet in der wichtigen Vorweihnachtszeit vor Schlägern und Plünderern und müssen das Geschäft Online-Händlern wie Amazon überlassen. Die anderen erhalten täglich Stornierungen von verschreckten Touristen.

Präsident Macron zahlt zudem einen weiteren Preis. Er gibt eines seiner wichtigsten Wahlversprechen auf, mit dem er den notorischen Defizitsünder Frankreich in Brüssel und Berlin erneut als verlässlichen Partner positionieren wollte. 2019 wird das für die Euro-Staaten obligatorische Verschuldungs-Limit von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nur schwer zu halten sein.

Unter dem Druck der Straße und womöglich auch unter dem Eindruck, dass Frankreichs fiskalisches Wohlverhalten in den 19 Monaten seiner Amtszeit vor allem in Berlin nicht das erwartete Entgegenkommen bei EU-Reformen brachte, weicht Macron von seinem gesteckten Kurs ab. Er erklärt den „wirtschaftlichen und sozialen Ausnahmezustand“.

„Die Idee ist, das Land zu verändern, aber nicht auf dem Rücken der Menschen. Das kann es erforderlich machen, zeitweilig gegen die Normen zu verstoßen,“ verteidigt Philippe Grangeon die Entscheidung des Präsidenten. Der ehemalige Kommunikationschef der größten europäischen Unternehmensberatung Capgemini mit Sitz in Paris gehört seit 2017 zum engen Beraterkreis Macrons. „In Brüssel wissen die Leute, dass wir Reformen angepackt haben. Deshalb können wir uns das jetzt erlauben.“ Grangeon ist überzeugt, dass die angekündigten Maßnahmen die Kaufkraft der Bürger stärken werden. Schon bald werde deshalb das Wirtschaftswachstum die zusätzlichen Ausgaben kompensieren. Die EU-Kommission teilte am Montagabend mit, sie werde „wachsam“ sein.

„Meine einzige Sorge sind Sie“

Konkret soll der monatliche Mindestlohn von heute knapp 1500 Euro brutto ab Januar um 100 Euro erhöht werden. Das allerdings nicht zulasten der Unternehmen. Vielmehr handelt es sich um eine staatliche Prämie für Geringverdiener. Außerdem sollen Überstunden von Steuern und Abgaben befreit werden. Allein diese Maßnahme, die bereits unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy mit geringem Erfolg für die Arbeitnehmer getestet worden war, wird nach Schätzung von Ökonomen die Staatskasse nächstes Jahr mit rund 4 Milliarden Euro belasten.

Rentner, die weniger als 2000 Euro monatlich zur Verfügung haben, sollen von der auf alle Einkommensarten anfallenden Sozialsteuer CSG ausgenommen werden. Auch dies ist ein kostspieliges Friedensangebot. Noch zu Beginn des Jahres war die CSG um 1,7 Prozent auf 9,2 Prozent erhöht wurden, und nur Rentner mit weniger als 1300 Euro Altersruhegeld waren ausgenommen. Macron hatte damals geltend gemacht, er wolle Arbeitnehmer entlasten, gut situierte Rentner könnten dazu einen Beitrag leisten. Das hatte ihm bei den älteren Bürgern viele Sympathien gekostet. An Unternehmen, die es sich leisten können, appellierte der Präsident zudem, ihren Mitarbeitern eine von Abgaben befreite Jahresendprämie auszuzahlen.

Der Staatssekretär im Ministerium für öffentliche Ausgaben, Olivier Dussopt, bezifferte die Kosten für die von Macron gemachten Ankündigungen am Montagabend im Wirtschaftssender BFMTV auf 8 bis 10 Milliarden Euro. Zusammen mit den bereits vergangene Woche ausgesetzten Ökosteuern auf Diesel und Benzin, die ab Januar rund 4 Milliarden Euro in die Staatskassen gespült hätten, lässt sich Macron sein Friedensangebot an die aufgebrachten Bürger also zwischen 12 und 14 Milliarden Euro kosten. Ob und wie sie gegenfinanziert werden können, ist unklar.

Die Absicht ist klar: Der Präsident will die Protestbewegung der „Gilet Jaunes“ von der bisher überwältigenden Zustimmung der Bevölkerung kappen. Trotz der gewaltsamen Ausschreitungen der vergangenen Wochenenden hielten zuletzt immer noch mehr als zwei Drittel der Franzosen deren Aufruhr für gerechtfertigt. Der Staatschef rief die Bürger zur Ruhe und zum Dialog auf. „Es kann sein, dass ich den Eindruck erweckte, andere Prioritäten zu habe, einige von Ihnen verletzt habe durch meine Worte,“ spielte er auf seine bisher vor allem wirtschaftsfreundlichen Reformen an und auf manche abfällige Bemerkung gegenüber Arbeitslosen. „Meine einzige Sorge sind Sie,“ betonte er.

Bei vielen Demonstranten, die auch gestern noch im ganzen Land an Brücken und Kreisverkehren ihren Forderungen nach besseren Lebensbedingungen Nachdruck verliehen, stieß er damit allerdings auf taube Ohren. Ihnen gehen die Ankündigungen nicht weit genug. „Wir wollen 1500 Euro Mindestlohn netto. Der Aufschlag von 100 Euro ist brutto, da bleibt doch nicht viel,“ ärgerte sich in einer Live-Schalte des französischen Radiosenders France Info die Demonstrantin Eliane in der Kleinstadt Pineuilh östlich von Bordeaux. Die Großverdiener würden nicht belangt. Alexandre Chantry, einer der Organisatoren der Proteste im nordfranzösischen Lille, ließ keinen Zweifel: „Das ist großes Geschwätz,“ kanzelte der 27-Jährige die Rede des Präsidenten ab. „Das ist nicht genug. Die Bewegung wird weitermachen, und wir werden ohne Sie weitermachen, Herr Macron.“

Unterstützung bekommen die „Gilets Jaunes“ von den Oppositionsparteien, die mit dem politischen Newcomer Macron des Jahres 2017 noch immer eine Rechnung offen haben. Sie lassen kein gutes Haar an seiner Rede. Vor allem Jean-Luc Mélenchon, Anführer der linksgerichteten „Unbeugsamen“ von La France Insoumise, und Marine Le Pen vom Rassemblement National (ehemals Front National) würden ihn zu gerne über die Proteste stürzen sehen. Die radikale Gewerkschaft CGT hat für Freitag zu einem Tag des Ausstands aufgerufen. Am Samstag wollen die Demonstranten mit den gelben Warnwesten dann wieder nach Paris und in andere Großstädte ziehen. „Akt V“ nennen sie die nächste Folge der Proteste, wie in einem Theaterstück. Wann der letzte Vorhang fällt, und wer als Held von der Bühne gehen wird, ist offen.

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