Sie haben mit allem gerechnet, nur nicht mit Aktionen aus dem eigenen Fanblock. Seit Monaten lässt Frankreichs sozialistische Regierung Polizei und Militär für den Ernstfall proben und Sicherheitskonzepte ausarbeiten. 90.000 Uniformierte werden vom Anpfiff der Fußballeuropameisterschaft am 10. Juni bis zum Endspiel einen Monat später im Einsatz sein, um Terroranschläge auf Stadien und Public-Viewing-Zonen zu verhindern.
Doch nun müssen sich die Sicherheitskräfte weniger mit Islamisten als mit heimischen Krawallmachern auseinandersetzen. Die seit Wochen andauernden Demonstrationen gegen die geplante Arbeitsmarktreform der Regierung sind eskaliert. Aktivisten blockieren Straßen, Kraftstofflager, Raffinerien und sogar Kernkraftwerke und Müllverbrennungsanlagen, um eine Rücknahme des in erster Lesung verabschiedeten Gesetzes zu erzwingen. Frankreichtouristen fühlten sich in der vergangenen Woche bisweilen an ein Dritte-Welt-Land erinnert. Das Benzin war so knapp, dass das Auswärtige Amt in Deutschland in seinen Reisehinweisen Urlauber vor Problemen warnte. Demnächst gehen womöglich auch noch die Lichter aus – der Energieversorger EDF will Stromausfälle nicht ausschließen.
Gewerkschaften drohen mit EM-Blockade
Mittlerweile drohen Gewerkschafter offen an, ihr Land während der EM ins Chaos zu stürzen – und nicht alle haben dabei die Arbeitsmarktreform im Blick. „Wir werden nicht zögern, die EM in Geiselhaft zu nehmen und alle Fußballspiele zu blockieren“, kündigt etwa Ibrahima Sylla an, Vorsitzender der Vereinigung Taxis de France. Er und seine Kollegen wollen ein Ziel durchsetzen, das mit Fußball wenig zu tun hat – das Verbot privater Fahrdienste in Frankreich. Vor den Stadien treffen die Taxifahrer dann womöglich auf die Betreiber der Tabakkioske, die ihrerseits die Zugänge der zehn EM-Stadien blockieren wollen. Ihre Forderung: Weg mit der geplanten Einheitsverpackung für Zigaretten und rauf mit der Kommission pro verkaufter Schachtel.
Womöglich schaffen es viele der erwarteten 1,5 Millionen ausländischen EM-Besucher – knapp ein Drittel aus Deutschland und Großbritannien – ohnehin nicht in die Nähe der Fußballarenen. Denn auch die Piloten der Fluggesellschaft Air France und die Mitarbeiter der Staatsbahn SNCF sowie der Pariser Metro RATP haben das Großereignis als innenpolitisches Druckmittel entdeckt – und unbefristete Streiks ab Ende Mai angekündigt.
Derweil laufen die militanten Proteste gegen die Arbeitsmarktreform weiter. „Die Mobilisierungen und Streiks werden nächste Woche anhalten und übernächste Woche und auch die Woche darauf, wenn sich nichts ändert“, droht Philippe Martinez, Chef der linksradikalen Gewerkschaft CGT. Vor dem Kraftstofflager des Ölkonzerns Total im nordfranzösischen Haulchin warf er selbst einen Reifen in die brennenden Barrikaden. Für den 14. Juni, nach Beginn der EM, ist der nächste landesweite Protesttag geplant.
Das Chaos kommt für die französische Wirtschaft und Politik gleichermaßen zur Unzeit. Die Fußball-EM sollte eigentlich helfen, die malade Wirtschaft anzukurbeln und Frankreichs Image aufzupolieren; es sollten sich Bilder eines Landes um den Globus verbreiten, in dem man sorglos und fröhlich Urlaub machen kann.
Tourismus leidet noch unter Terroranschlägen
Denn Frankreichs Tourismus- und Luxusindustrie leidet immer noch unter den Folgen der islamistischen Terroranschläge von November. In Paris büßte der Luxuskonzern LVMH seit den Attentaten zehn Prozent seiner Umsätze der Mode- und Ledermarke Louis Vuitton ein, weil kaufkräftige Kundschaft ausbleibt. Auch Dior leidet, und Hermès erwartet ein „schwieriges“ Jahr. Seit Januar sind die Buchungen in Hotels der gehobenen Preisklasse um ein Fünftel zurückgegangen. Die Reservierungen für die Sommermonate Juni bis August sind gegenüber dem Vorjahr um bis zu 50 Prozent eingebrochen.
„Die Streiks, die Benzinverknappung, die Blockaden und die gewaltsamen Auseinandersetzungen bei den Demonstrationen vermitteln jetzt ein Image von Frankreich, das für den Tourismus desaströs ist“, klagt der französische Hotel- und Gaststättenverband UMIH. Restaurants und Hotels hätten bereits Lieferprobleme und verzeichneten erneut Stornierungen.
Ölkonzern erwägt, Investitionen in Frankreich zu beenden
Nachteilig seien die gewalttätigen Protestaktionen auch für das Investitionsklima, warnt Denis Ferrand, Direktor des Konjunkturforschungsinstituts Coe-Rexecode. Zumal diese ein Indiz für einen nicht funktionierenden sozialen Dialog im Land seien. Der Ölkonzern Total überlegt, keinen Cent mehr in das ohnehin nur durch politischen Druck aufrechterhaltene Geschäft mit Raffinerien in Frankreich zu investieren. Aber auch kleinere Unternehmen leiden unter den Streiks und Blockaden. „Zwei Drittel müssen die Produktion zurückfahren, wenn die Störaktionen anhalten“, fürchtet der Chef der Mittelstandsvereinigung CGPME, François Asselin.
Dabei hatten sich der Geschäftsklimaindex und das Verbrauchervertrauen gerade etwas verbessert. Nach einem Wachstum von 0,6 Prozent im ersten Quartal stufte zudem der Internationale Währungsfonds seine Prognose für das Gesamtjahr 2016 von 1,1 auf 1,5 Prozent hoch.
Etwa 0,2 Prozentpunkte könnten die Protestaktionen Frankreich nun kosten. Das ist exakt so viel, wie Experten an Stimulation durch die EM erwartet hatten. Allein die ausländischen Besucher der Stadien und Fanzonen sollen – Eintrittskarten nicht mitberechnet – knapp 1,3 Milliarden Euro im Land lassen und sich dabei nicht von den um 21 Prozent gestiegenen Hotelpreisen abschrecken lassen. Mittlerweile aber ist es durchaus möglich, dass die EM ein Minusgeschäft für Frankreich wird. Zahlreiche an Fußball weniger interessierte Touristen verzichten womöglich auf ihre Frankreichreise, weil sie brennende Autoreifen auf Hauptstraßen ebenso wenig schätzen wie grölende Fangruppen auf überfüllten Plätzen.
Gestiegene Ausgaben für Sicherheit drücken die Bilanzen
Eine vom Europäischen Fußballverband Uefa in Auftrag gegebene Studie spricht zwar von rund 26.000 Arbeitsplätzen als Folge des Neubaus und der Renovierung der Stadien, was sich Staat und private Investoren 1,7 Milliarden Euro kosten ließen. Die Studie wurde allerdings vor den November-Attentaten verfasst. Sie berücksichtigt bei der Kosten-Nutzen-Analyse nicht die gestiegenen Ausgaben für die Sicherheit. Allein die Polizeipräsenz und die Videoüberwachung auf den Fanmeilen vor dem Eiffelturm in Paris oder an den Stadtstränden in Marseille kosten mit 24 Millionen Euro doppelt so viel wie ursprünglich veranschlagt.
Fanmeilen nur an den Austragungsorten der EM
Auch die psychologischen Effekte der Terrorgefahr sind nicht zu unterschätzen. Womöglich huschen viele Fans in die Stadien und verlassen nach dem Spiel schnell wieder das Land. Ihr Beitrag zum französischen Bruttoinlandsprodukt könnte sich dann auf den Kauf einer Bratwurst beschränken.
„Wir wissen, dass der ,IS‘ die EM ins Visier genommen hat“, warnt der deutsche Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen. Patrick Calvar, Chef des französischen Inlandsgeheimdienstes DGSI, hält „neue Formen von Angriffen“ für denkbar, etwa mit Sprengstoff, der an Orten mit großen Menschenansammlungen deponiert werde.
Frankreich hat jedoch nicht halb so viele Sicherheitskräfte rekrutieren können, wie nötig gewesen wären. Deshalb wird es Fanmeilen nur in jenen Städten geben, in denen die insgesamt 51 Spiele ausgetragen werden. Wegen der vielen Einsätze bei Demonstrationen und Protestaktionen der vergangenen Wochen klagt aber die Polizeigewerkschaft schon vor Beginn der EM über Erschöpfung und Überforderung ihrer Beamten – und hat selbst zu Protesten aufgerufen. Beim Pokalendspiel zwischen Paris Saint-Germain und Olympique Marseille, das zur Generalprobe für die EM deklariert worden war, gelangten am vorletzten Mai-Wochenende Fußballfans mit Brandgeschossen durch die Sicherheitskontrollen.
Frankreich und der Terror
Am französischen Nationalfeiertag am 14. Juli rast in der Hafenstadt Nizza ein Attentäter mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge. Mindestens 84 Menschen werden getötet, mehr als 200 verletzt.
Am 26. Juli haben in Saint-Étienne-du-Rouvray in der Normandie zwei Geiselnehmer einen Priester getötet, ein weiteres Opfer schwebt in Lebensgefahr. Die mutmaßlichen Täter wurden getötet. Der IS reklamierte die Tat über sein Sprachrohr Amak für sich.
Ein Mann ersticht in Magnanville westlich von Paris einen Polizisten und dessen Lebensgefährtin. Die Polizei erschießt den Täter, der sich zuvor zum IS bekannt hatte.
Am Jahrestag der Anschläge auf „Charlie Hebdo“ schießen Polizisten vor einem Pariser Kommissariat einen Mann nieder. Er war mit einem Messer bewaffnet und trug die Attrappe einer Sprengstoffweste.
Bei einer koordinierten Anschlagsserie in Paris töten IS-Extremisten 130 Menschen. In der Konzerthalle „Bataclan“ richten sie ein Massaker an, Bars und Restaurants werden beschossen, am Stade de France sprengen sich während des Fußball-Länderspiels Frankreich-Deutschland drei Selbstmordattentäter in die Luft.
Ein 25-jähriger Islamist wird im Thalys-Schnellzug auf dem Weg von Brüssel nach Paris bei einem Anschlagversuch mit einem Schnellfeuergewehr von Fahrgästen überwältigt. Zwei Zuginsassen werden verletzt.
Bei einem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ in Paris werden zwölf Menschen ermordet. Die beiden islamistischen Attentäter Chérif und Said Kouachi kommen zwei Tage später bei einer Polizeiaktion nordöstlich von Paris um. Der Islamist Amedy Coulibaly, der die Brüder Kouachi kannte, erschießt bei Paris eine Polizistin und nimmt mehrere Geiseln in einem jüdischen Supermarkt. Er tötet dort vier Menschen, bevor er von der Polizei erschossen wird.
Die Gruppe Jund al-Khilafa („Soldaten des Kalifats“), ein Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat, enthauptet einen in Algerien entführten französischen Touristen.
In Mali werden zwei Mitarbeiter von Radio France Internationale (RFI) entführt und ermordet. Die Terrororganisation Al-Kaida im islamischen Maghreb bekennt sich zur Tat. Zuvor hatte sich die Gruppe dazu bekannt, eine andere französische Geisel getötet zu haben.
Ein Serien-Attentäter erschießt sieben Menschen, darunter drei Kinder und einen Lehrer einer jüdischen Schule. Er wird nach rund 32-stündiger Polizeibelagerung seiner Wohnung erschossen. Zuvor hatte er sich als Al-Kaida-Anhänger bezeichnet.
Vor der Küste Jemens rammt ein mit Sprengstoff beladenes Boot den französischen Tanker „Limburg“. Ein Matrose kommt ums Leben. Al-Kaida bekennt sich zu dem Anschlag.
Bei einem Anschlag mit einer Gasflaschen-Bombe im Pariser S-Bahnhof Port Royal kommen vier Menschen ums Leben. Bereits 1995 waren bei einer Serie von Terroranschlägen, die islamischen Fundamentalisten aus Algerien zugeschrieben werden, in Frankreich insgesamt acht Menschen getötet worden.
Bei einem Absturz eines französischen Flugzeugs in Folge einer Bombenexplosion an Bord über dem afrikanischen Staat Niger sterben 170 Menschen. Ein französisches Gericht verurteilt sechs Libyer in Abwesenheit zu lebenslanger Haft, unter ihnen einen Schwager des damaligen libyschen Staatschefs Muammar el Gaddafi.
Für die Regierung ist das alles ein Desaster. Das Schicksal von Präsident François Hollande scheint besiegelt – egal, ob er bei der Arbeitsmarktreform nun hart bleibt oder seinen Premier Manuel Valls opfert und nachgibt. Im Parlament lässt sich der Bruch in der Sozialistischen Partei zwischen Reformern und Fundamentalisten nicht mehr kitten. Die Arbeitsmarktreform wurde in erster Lesung per Verfassungstrick ohne Abstimmung durchgedrückt. Den Krawallen steht Hollande hilflos gegenüber.
62 Prozent der Franzosen stehen hinter den Protestaktionen
„Ein Psychiater würde sagen, Frankreich ist depressiv. Es hat seine Probleme zu lange unterdrückt. Das erklärt die Gewalt, die sich nun bei der kleinsten Gelegenheit Luft macht“, analysiert der Ökonom Nicolas Bouzou die jüngsten Ausschreitungen. Dass dabei eine linksradikale Gewerkschaft wie die CGT mit nur noch 700.000 Mitgliedern ein ganzes Land paralysieren kann, erscheint zunächst paradox. Doch weiß Martinez 62 Prozent der Franzosen hinter sich und den Protestaktionen, ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop. Eine Mehrheit im nostalgisch um alte Zeiten ohne Wettbewerbsdruck und Globalisierung trauernden Volk solidarisiert sich lieber mit Straßenkämpfern als mit der politischen Elite.
Wie kann da die Stimmung und Leichtigkeit entstehen, die sportliche Großveranstaltungen brauchen? „Nicht alles ist eine Frage des Geldes“, sagt Alain Juppé, der Bürgermeister von Bordeaux. Der Konservative ist Vorsitzender der EM-Gastgeber-Städte und möglicher Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2017. Seine Mahnung an die Franzosen: „Ein bisschen Optimismus und geteilte Freude zählen auch.“
Wenigstens die Spieler der französischen Nationalmannschaft wollen diese Freude nicht durch Streikaktionen – wie bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika – trüben. Bei den Buchmachern gelten sie neben der deutschen Elf als Favorit.