




Letztlich ist die Ukraine kulturell ein sowjetisch geprägtes Land. Und in der Sowjetunion brauchte man Helden, um die Bindung zwischen Volk und dem Staatswesen herzustellen – so wie Lenin oder Juri Gagarin. In der Ukraine ist der Boxweltmeister Vitali Klitschko der Nationalheld. Einer, der vor Kraft strotzt und austeilen kann, der obendrein noch klug ist und ein umgänglicher Sympathieträger, einer der reden kann.
Das zahlt sich auch auf der Straße aus. Täglich mobilisiert Klitschkos Oppositionspartei Udar („Schlag“) neue Demonstranten, die für Neuwahlen skandieren und den Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Amt jagen wollen. Der war selbst mal ein Schläger, aber nur als Türsteher in Donezk. Je länger die Proteste in Eiseskälte dauern, desto größer werden die Chancen für Neuwahlen. Für Klitschko wäre dies ein politischer Sieg, einer nach Punkten.
Am Ende könnte der Nationalheld gar Präsident der Ukraine werden. Der promovierte Sportwissenschaftler ist intelligent, redegewandt, charismatisch – auf den ersten Blick die Idealbesetzung für diesen Posten. Karrierestrategisch wäre ein Wahlsieg allerdings das schlechteste, was Klitschko passieren könnte. Die Erwartungen und Anforderungen an einen neuen Präsidenten sind im Moment so hoch, dass der Stuhl des Präsidenten selbst für den beliebten Boxer zum Schleudersitz werden würde.
Ein Problem ist die Opposition selbst. Klitschkos „Schlag“ ist nur eine von vielen Parteien in Gegnerschaft zu Janukowitschs „Partei der Regionen“. Klitschko scheint momentan gut zu können mit Arsenij Jazenjuk, dem Vorsitzenden der Partei „Vaterland“. Der ist aber nur Platzhalter von Julia Timoschenko, die inhaftierte Strippenzieherin im Hintergrund der Partei. Sollte die Opposition an die Macht kommen, würde sie Timoschenko freilassen. Und Klitschko müsste die charismatische wie egozentrische Alpha-Frau einbinden. Das hat schon nach der „orangenen Revolution“ nicht geklappt, als Timoschenko Premierministerin war und mit ihren Machtkämpfen mit dem damaligen Präsidenten Viktor Juschtschenko das Land in der Finanzkrise blockierte.
Schwieriger noch dürfte die Lösung der Wirtschaftskrise werden. Die Ukraine steht am Rande des Staatsbankrotts. Der ließe sich nur abwenden, wenn eine Regierung die Zahlungsfähigkeit mit harten Einschnitten sicherstellt – etwa die Erhöhung der Gastarife, die Senkung der Staatsverschuldung durch Einsparungen, die Privatisierung der Wirtschaft, die Freigabe der Währung. Die Folgen einer schmerzhaften Rosskur würde die Bevölkerung spüren, was die Opposition rasch ihre Popularität kosten wird. Ob sich Klitschko das zutraut, ist fraglich.
Kompliziert dürfte auch das Zusammenspiel mit den Oligarchen werden. Dem Vernehmen nach hat sich Klitschko mit dem Gashändler und zweitreichsten Ukrainer Dmytro Firtasch geeinigt. Der lässt auf seinen Fernsehkanälen schon aus allen Rohren gegen die Regierung Janukowitsch schießen. Ob dessen Unterstützung genügt, um Wahlen zu gewinnen, ist allerdings ebenfalls fraglich. Vor allem muss es Klitschko schaffen, die Interessen der Oligarchen im Vorfeld auszubalancieren.
Gut beraten wäre Klitschko, wenn er jetzt auf Zeit spielt. Präsident Viktor Janukowitsch ist dabei, sich selbst und seine Partei der Regionen zu demontieren. Bis zu den regulären Wahlen im Jahr 2015 könnte sich Klitschko mit Opposition und Oligarchen einigen und auf ein Programm verständigen, wie das Land nachhaltig nach vorne gebracht werden kann. Eine planlose und zerstrittene neue Regierung würde der Ukraine in der Krise kurzfristig nicht helfen.
Wenn das Klitschko-Projekt aber scheitert, dürfte die Ukraine wieder in eine lang anhaltende Lethargie zurückfallen. Wie einst die Sowjetunion.