Reform des Dublin-Systems Warum Europa ein strikteres Asylrecht braucht

Jeder Flüchtling muss dort Asyl beantragen, wo er die EU betritt. Die EU-Kommission will diesen Grundsatz wiederbeleben. Aber lässt sich das gescheiterte Dublin-System überhaupt reformieren? Und wenn ja – wie?

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„Die Anerkennungsquoten in Deutschland sind zu hoch – auch für Syrer. Nur wer individuell bedroht wird, sollte Asyl bekommen und nicht pauschal jeder Kriegsflüchtling

Die Bundesregierung hätte die Zahl der Flüchtlinge im vergangenen Jahr ganz einfach reduzieren können. Deutschland hätte jeden Flüchtling mit Blick auf die sogenannte Dublin-Verordnung zurückweisen können. Die besagt, dass ein Flüchtling dort ein Asylverfahren durchlaufen muss, wo er den Boden der EU betritt. Wer also über Griechenland zu Fuß nach Deutschland kam, hatte keinen rechtlichen Anspruch, hier einen Asylantrag zu stellen, sondern nur in Griechenland.

Soweit die Theorie. Das Problem ist, dass Griechenland, Italien und andere Staaten mit EU-Außengrenzen bislang weder die Kapazitäten noch den Willen hatten, faire Asylverfahren für mehr als eine Million Menschen pro Jahr oder mehr durchzuführen. Und weil vor allem Athen überfordert war, ließ das Land die Flüchtlinge in Richtung Deutschland passieren. Hätte sich Berlin auf Dublin berufen und Flüchtlinge abgewiesen, wäre es zu einem Rückstau der Asylsuchenden in Europa gekommen, möglicherweise gar zu humanitären Krisen.

Für den Asylrechtsexperten Kay Hailbronner von der Universität Konstanz ist das bisherige Dublin-System „gescheitert und muss dringend reformiert werden“. Das System der Rückführungen hatte in Deutschland auch vor der Flüchtlingskrise schon nicht funktioniert. Bei circa 25.000 bereits bewilligten Überstellungen wurden im Jahre 2014 nur etwa 4700 Personen in zuständige EU-Mitgliedstaaten zurückgebracht, die meisten davon nach Polen.

Die Europäische Kommission will die Dublin-Verordnung nun überarbeiten und wieder in Kraft setzen, schließlich sei die Zeit des Durchwinkens vorbei, wie die europäischen Regierungschefs mantra-artig wiederholen. Das bedeutet konkret: Wer in Griechenland oder Italien ankommt, soll dort bleiben und ein Asylverfahren durchlaufen. Mit der geschlossenen Balkanroute ist eine Weiterreise für die meisten Flüchtlinge derzeit ohnehin nicht möglich.

Wie aber umgehen mit möglicherweise hunderttausenden Menschen, die Italien oder Griechenland erreichen und Asyl in Europa beantragen wollen? Was kann die Europäische Union tun, um einen Kollaps der Asylbehörden in Griechenland zu verhindern? Wie sieht eine faire Lastenverteilung in Zeiten von Völkerwanderungen aus?

Jurist Hailbronner empfiehlt den EU-Staaten, mehr Entscheidungen direkt an den EU-Außengrenzen zu treffen. „Jeder Flüchtling muss in von der EU finanzierten und überwachten Aufnahmezentren registriert werden, wo er die EU betritt“, sagt der Jurist. Danach soll es eine beschleunigte Überprüfung geben, um zu ermitteln, wer eine Bleibeperspektive hat oder rasch in einen sicheren Herkunfts- oder Drittstaat abgeschoben werden kann. So macht es Griechenland seit Kurzem auch mit syrischen Flüchtlingen im Zuge des Türkei-Deals. Athen hat die Türkei zum sicheren Drittstaat erklärt, wodurch Syrer dorthin legal zurückgebracht werden können.

Dennoch gibt es Menschen, beispielsweise syrische Kurden, die in der Türkei nicht sicher wären und daher nicht abgeschoben werden dürfen. Zudem gibt es über Italien und andere Routen weitere Zugänge zur EU. Vollständig abschotten, kann sich der Kontinent also nicht. Diejenigen, die es weiterhin nach Europa schaffen und eine Schutzberechtigung nach EU-Recht haben, müssten nach Ansicht Hailbronners fortan fair auf alle Mitgliedsstaaten verteilt werden – anders als im bisherigen Dubliner System. Nur so kann sichergestellt werden, dass Griechenland, Italien und andere Staaten mit Außengrenze nicht (wieder) überfordert werden.

Warum der EU-Türkei-Deal zur Blaupause für Europa werden kann

Deutschland hatte sich vor wenigen Jahren noch gegen einen solchen Mechanismus gewehrt. Als Italien die europäischen Partner 2011 um Hilfe bat, sagte Innenminister Thomas de Maizière lapidar: „Italien ist gefordert, aber noch lange nicht überfordert.“

Josef Janning vom „European Council on Foreign Relations” glaubt, dass viele Staaten, auch Deutschland, im Zuge Flüchtlingskrise hinzugelernt haben. „Alle wissen, dass Dublin reformiert werden muss“, sagt Janning. Damit ein verbessertes System funktionieren kann, ist es aus Sicht von Hailbronner notwendig, das Asylrecht künftig wieder strikter auszulegen: „Die Anerkennungsquoten in Deutschland sind zu hoch – auch für Syrer. Nur wer individuell bedroht wird, sollte Asyl bekommen und nicht pauschal jeder Kriegsflüchtling.“

Wer vor Krieg flieht, sollte vielmehr die Chance haben, über humanitäre Kontingente nach Europa zu kommen. „Das sollten wir aber vom individuellen Asylrecht trennen“, sagt Hailbronner.

Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland

Viele Flüchtlinge sind sich aber darüber im Klaren, dass ihre Chancen auf Asyl in Deutschland potentiell größer sind als beispielsweise in Ungarn oder Frankreich.

Wäre es also sinnvoll, das Asylrecht vollständig zu europäisieren? Dafür müssten die europäischen Verträge geändert werden, was derzeit unrealistisch ist.

Hailbronner hält es für politisch klüger, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht in Frage zu stellen. Das hindere die EU aber nicht daran, mit qualifizierter Mehrheit Verfahrensregeln beschließen, die zu einer „Quasi-Europäisierung des Asylrechts“ führt. „Dann hätten wir eine stärkere Rechtsvereinheitlichung und gleichzeitig mehr Rechtssicherheit darüber, wer Chancen  auf ein Bleiberecht in der EU hat“, sagt der Asylrechtsexperte. So könnte unter anderem eine gemeinsame europäische Liste sicherer Herkunftsstaaten festgelegt werden.

Josef Janning erwartet nun schwierige Verhandlungen über eine Reform des Dublin-Systems. Der EU-Experte hält es für möglich, dass sich viele Staaten einem europäischen Verteilmechanismus verweigern könnten – vor allem die osteuropäischen. „Deutschland und andere könnten mit gutem Beispiel voran gehen“, sagt Janning. Die skandinavischen Staaten, Belgien, die Niederlande und Luxemburg ließen sich wohl einer Reform überzeugen – mit Verhandlungsgeschick und Zugeständnissen vielleicht auch Spanien, Frankreich, Italien und Österreich. „Nur so lässt sich der Schengen-Raum mit offenen Grenzen retten“, ist Janning überzeugt.

Gelingt es, das Dublin-System zu reformieren, könnte der EU-Türkei-Deal zu einer Art Blaupause für den ganzen Kontinent werden. Beschleunigte Asylverfahren an den Außengrenzen und rasche Rückführungen in sichere Drittstaaten wären dann der europäische Standard. Wer aus Kriegsgebieten flieht, muss sich dann um einen Platz in einem europäischen Flüchtlingskontingent bewerben.

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