Die ersten schließen schon Wetten ab. „Das sind keine Soldaten, die in einer Reihe marschieren, da gehe ich jede Wette ein,“ unkt der Links-Politiker Jean-Luc Mélenchon über die Halbwertszeit der Fraktionsdisziplin im künftigen französischen Abgeordnetenhaus. „Eine Mehrheit auf Dauer zu erhalten, das ist schwer,“ weiß der ehemalige konservative Premierminister Jean-Pierre Raffarin. Eine absolute Mehrheit gar, wie sie der neue französische Präsident Emmanuel Macron nach der zweiten Runde der Parlamentswahl am Sonntag erwarten darf, sei in Wahrheit „eine Falle für ihn“, warnt der Vorsitzende der konservativen Partei UDI.
Na klar, diese Politiker müssen der eigenen Seele Balsam verschaffen. Sie haben noch nicht verwunden, dass Macron als relativer Politneuling im Mai erst die Präsidentschaftswahlen gewonnen und seine erst vor gut einem Jahr gegründete Bewegung La République en Marche in der ersten Runde der Parlamentswahl am vergangenen Wochenende auch noch die Perspektive ihrer Parteien auf eine starke Oppositionsrolle in Schutt und Asche gelegt hat.
Aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts und massiver Wahlenthaltung werden LREM-Abgeordnete mit einem Bruchteil der Stimmen vermutlich mehr als 400 der insgesamt 577 Sitze einnehmen.
Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron
Die Unternehmenssteuer soll von derzeit 33 auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE) soll umgewandelt werden in eine dauerhafte Entlastung für Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.
An der 35-Stunden-Woche soll festgehalten werden. Allerdings könnte sie flexibler geregelt werden, indem Betriebe über die tatsächliche Arbeitszeit mit ihren Beschäftigten verhandeln.
Sie sollen von bestimmten Sozialabgaben befreit werden. Dadurch könnten Niedriglohnempfänger einen zusätzlichen Monatslohn pro Jahr in ihren Taschen haben.
Binnen fünf Jahren sollen 50 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern investiert werden. 15 Milliarden Euro davon sollen in bessere Aus- und Weiterbildung gesteckt werden, um die Einstellungschancen von Jobsuchenden zu verbessern. Ebenfalls 15 Milliarden Euro sind geplant, um erneuerbare Energien zu fördern. Weitere Milliarden sind für die Landwirtschaft, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen geplant.
60 Milliarden Euro an Einsparungen sind bei den Staatsausgaben vorgesehen, die in Frankreich traditionell hoch sind. Zehn Milliarden Euro soll der erwartete Rückgang der Arbeitslosenquote von derzeit etwa zehn auf sieben Prozent bringen, indem die Ausgaben für Arbeitslosengeld sinken. Durch eine verbesserte Effizienz soll das Gesundheitswesen zehn Milliarden einsparen, weitere 25 Milliarden Euro die Modernisierung des Staatsapparates.
In Gegenden mit niedrigem Einkommen soll die Schülerzahl auf zwölf pro Klasse begrenzt werden. Lehrer sollen als Anreiz für eine Arbeit in solchen Regionen einen Bonus von 3000 Euro pro Jahr bekommen. Mobiltelefone in Schulen sollen für Kinder bis 15 Jahren verboten werden. Alle 18-Jährigen sollen einen Kulturpass im Wert von 500 Euro erhalten, den sie beispielsweise für Kino-, Theater- und Konzertbesuche ausgeben können.
Doch ein „Durchmarsch“, wie zahlreiche Kommentatoren in Anspielung auf den Parteinamen nun texten, ist damit in der Tat nicht garantiert. Auch nicht die widerstandslose Verabschiedung umstrittener Pläne wie die Reform des komplexen Arbeitsrechts. In der Nationalversammlung könnte Macron stattdessen bald Mühe haben, seine Eleven in Schach zu halten.
Die jüngere Geschichte Frankreichs zeigt, dass selbst auf ausgesprochen komfortable Parlamentsmehrheiten kein Verlass ist. Da erging es dem Übervater Charles de Gaulle nicht besser als später François Mitterrand. De Gaulle musste sogar zweimal Neuwahlen ansetzen. „Der Mangel an Disziplin ist praktisch die Regel,“ sagt Historiker Jean Garrigues von der Universität von Orléans. „Je größer eine Mehrheit ist, desto diverser ist sie auch, und desto mehr starke Persönlichkeiten gehören ihr an.“ Außerdem werde der Bruch der Fraktionsdisziplin nicht als gravierend empfunden. „Man denkt, man hat ja Spielraum. Bei knappen Mehrheiten dagegen funktioniert der Reflex der Solidarität.“
Wenn die stets gut informierte Investigativ-Redaktion der Zeitschrift „Le canard enchainé“ sich auch diesmal nicht verhört hat, hat Macron selbst im kleinen Kreis seiner Vertrauten gewarnt, man müsse einen „Saustall“ verhindern. Zumal rund die Hälfte der Abgeordneten keinerlei Erfahrung mit Parteiräson gemacht haben. Er selbst hatte dafür gesorgt, dass vor allem Neulinge für die LREM kandidierten. Einige der Novizen werden dem Präsidenten sicher zumindest zu Beginn dankbar für die neue Erfahrung sein, meint Thomas Erhard, Politikprofessor an der Universität Pantheon-Assas. „Sie wurden gewählt, weil sein Foto neben ihnen auf dem Plakat prangte.“ Bei ihrer Kandidatenkür haben sie die Verpflichtung unterzeichnet, das Programm von Macron zu unterstützen.
Allerdings sind die künftigen LREM-Abgeordneten überwiegend gut ausgebildete Akademiker, die sich vermutlich weder selbstständiges Denken noch den Mund verbieten lassen werden. Erfolgreiche Unternehmer wie Bruno Bonnell aus der Nähe von Lyon oder Corinne Versini in Marseille werden im Fall ihres Wahlsiegs das Management ihrer Firmen in fremde Hände legen, um den Wandel mitzugestalten - aber wohl nicht, um künftig voller Demut „den kleinen Finger an den Hosensaum zu legen“, wie eine französische Redewendung lautet. Übersetzt bedeutet das dem Militär entlehnte Bild „stramm stehen“.
Risiko bleibt
„Wir sind dazu da, die Bürger zu schützen und manchmal vielleicht auch ihn vor sich selbst“ lässt Paul Molac den Staatschef schon mal wissen. Der 55-Jährige war in der vergangenen Legislaturperiode als Vertreter der den Sozialisten nahe stehenden und für politische Autonomie kämpfenden bretonischen Regionalpartei UDB ins Parlament gewählt worden. Er gehörte zu den Kritikern, als die Regierung im vergangenen Jahr mit einem Verfassungskniff die ausufernde Debatte über die Arbeitsmarktreform abbrach und eine abgespeckte Fassung der nun geplanten Neufassung durchdrückte. Grundsätzlich aber sah er eine Notwendigkeit für das Gesetz - eine der Voraussetzungen, dass er nun auf dem Ticket der Macron-Partei kandidieren durfte. Bereits in der ersten Runde erhielt er 54 Prozent der Stimmen in seinem Wahlkreis Morbihan.
Was Macrons Sieg für Europa bedeuten könnte
Wichtig ist der Erfolg Macrons vor allem deswegen, weil sonst Marine Le Pen Staatschefin geworden wäre. Die Rechtspopulistin hatte im Wahlkampf für eine Abkehr Frankreichs von der Europäischen Union und vom Euro geworben. Ein EU-Austritt Frankreichs würde das komplette europäische Einigungsprojekt infrage stellen - vor allem vor dem Hintergrund des bevorstehenden Brexits.
Frankreich ist nach Deutschland das bevölkerungsreichste EU-Land. Zudem wird es nach dem Brexit das einzige EU-Land mit Atomwaffen und ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat sein. Auch die Wirtschaftleistung ist enorm.
Macron will sich für tiefgreifende Reformen der Union einsetzen. Die Eurozone mit 19 Ländern soll einen eigenen Haushalt, ein Parlament und einen Finanzminister bekommen. Zudem spricht er sich für europäische Mindeststandards in Bereichen wie Gesundheitsvorsorge und Arbeitslosenversicherung aus.
Macron sagt: „Ich bin ein Pro-Europäer.“ Er verteidige die europäische Idee und die europäische Politik, weil er glaube, „dass sie sehr wichtig für die französische Bevölkerung und für unser Land in Zeiten der Globalisierung sind.“
Auf absehbare Zeit gering. Vieles, was Macron fordert, wird in der EU schon seit langem diskutiert. Mangels Einigkeit gab es allerdings kaum Fortschritte. In Brüssel wird darauf gehofft, dass sich das nach dem für 2019 vorgesehenen EU-Austritt Großbritanniens ändern könnte. Macron warnt davor, sich zuviel Zeit zu lassen. Wenn in der EU alles beim Alten bleibe, drohe der „Frexit“ (Austritt Frankreichs) oder ein weiteres Erstarken der Front National.
„Ich bin überzeugt, das Emmanuel Macron ein guter Partner für Deutschland sein wird.“ Mit diesen Worten hatte Frankreichs scheidender Präsident François Hollande in der vergangenen Woche auf den möglichen Wahlsieg seines früheren Wirtschaftsministers geblickt. Das dürfte jedoch nicht heißen, dass Macron immer ein leichter Partner sein wird.
Das ist schwer zu sagen. Macron selbst sagt, er sei „weder rechts noch links.“ Im Wahlkampf bekam der frühere Sozialist deswegen sowohl von Unionspolitikern als auch von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen Unterstützung. Kanzlerin Merkel sagte jüngst mit Blick auf einen möglichen Wahlsieg Macrons: „Sein Erfolg wäre ein positives Signal für die politische Mitte, die wir ja auch hier in Deutschland stark halten wollen.“ Nachdem Merkel ihn im März im Kanzleramt empfangen hatte, sprach Macron von „großer Übereinstimmung“.
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz stellte schon einmal selbstbewusst fest: Macron als Präsident in Frankreich und „ich als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland“ würden die Reform der EU in Angriff nehmen. Für Schulz etwas misslich ist nur, dass er sich in der ersten Wahlrunde für Benoît Hamon von den französischen Sozialisten stark gemacht hatte. Der Kandidat der SPD-Schwesterpartei PS war dort mit einem deutlich linkeren Programm angetreten als Macron und klar gescheitert.
Abgesehen von der Reform der Euro-Zone vor allem in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Macron ist - wie US-Präsident Donald Trump - ein scharfer Kritiker des deutschen Exportüberschusses. Neulich sagte er: Deutschland müsse zu der Einsicht kommen, „dass seine wirtschaftliche Stärke in der jetzigen Ausprägung nicht tragbar ist“. Deutschland profitiere vom Ungleichgewicht in der Eurozone und erziele sehr hohe Handelsüberschüsse. „Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden.“
Der deutsche Exportüberschuss könnte zum Beispiel abgebaut werden, indem die Bundesregierung die Überschüsse im Bundeshaushalt nutzt, um mehr zu investieren, etwa in den Straßenbau. Zudem fordern manche Ökonomen, dass die Löhne in Deutschland stärker steigen müssten, um die Binnennachfrage zu stärken. Die Kaufkraft ließe sich auch über Steuersenkungen erhöhen.
„Wenn ich noch einmal für die Sozialisten kandidiert hätte, hätte ich sicher nicht das gleiche Ergebnis erreicht,“ räumt er ein. Eine Verpflichtung zum bedingungslosen Schulterschluss mit dem Präsidenten ist das für ihn aber nicht. „Ich erwarte schon, dass es die Möglichkeit zur Diskussion über die Arbeitsmarktreform gibt,“ sagt Molac. „Natürlich brauchen wir eine gewisse Ruhe. Wozu die Meuterei einiger Sozialisten in der vergangenen Legislaturperiode geführt hat, haben wir ja gesehen.“ Deren Widerstand hatte schließlich die komfortable Mehrheit an Abgeordneten, über die auch Präsident François Hollande eigentlich verfügte, aufgezehrt. „Aber nur weil ich Hollande grundsätzlich unterstützt habe, habe ich auch nicht allem zugestimmt.“
„Wir haben so unterschiedliche berufliche Erfahrungen und Expertisen, dass wir bereits aus diesem Grund sehr lebhafte Debatten im Parlament haben werden,“ ist die ehemalige Diplomatin und Unternehmensgründerin Delphine O überzeugt. Die Mitstreiterin und potenzielle Nachrückerin von Mounir Mahjoubi wirbt an diesem Vormittag auf dem Wochenmarkt auf der Place des Fêtes im 19. Verwaltungsbezirk von Paris noch einmal für den LREM-Kandidaten. „Jeder einzelne wird seine Kenntnisse aus seiner Branche einbringen. Das schafft vermutlich eine größere Meinungsvielfalt, als wir es bisher von den Berufspolitikern gekannt haben.“
Versprechen oder Warnung? „Langfristig könnte die Heterogenität der Profile eher zu einer Spaltung führen,“ sagt Yves-Marie Cann, Direktor für politische Studien am Meinungsforschungsinstitut Elabe in Paris. Philippe Martinez sieht da schon jetzt einen Angriffspunkt für den Widerstand gegen die geplante Arbeitsmarktreform. „Die Volksvertreter müssen auf die Bürger hören,“ betont der Chef der radikalen Gewerkschaft CGT. „Wir werden sie daran erinnern, dass sie zwar sicherlich gewählt wurden, dass sie aber angesichts der besonderen Umstände der Wahl nicht behaupten können, eine große Mehrheit stehe hinter ihnen. Wir werden alles tun, damit die Arbeitnehmer ihre Unzufriedenheit ausdrücken und man diese Unzufriedenheit auch in der Öffentlichkeit sieht. Es wird Demonstrationen geben und Streiks.“ Der Herbst, wenn die Regierung die Reform auf den Weg bringen will, werde heiß, verspricht Martinez.
Es wäre nicht die erste Reform, über die in Frankreich auf der Straße entschieden wird. Trotz klarer Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Nach gewaltsamen Massenprotesten musste der damalige konservative Premierminister Dominique de Villepin 2006 auf Druck von Präsident Jacques Chirac sogar die bereits in Kraft getretene Lockerung des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger wieder zurücknehmen. Damals waren lang gediente und mit der französischen Protestkultur bestens vertraute Politiker im Amt, keine Anfänger, die auf die Wut von Freunden und Nachbarn womöglich sensibel reagieren. Es besteht also durchaus noch das Risiko, dass auch Macron kolossal scheitern wird.