Regierungsauftrag für Ökonom Carlo Cottarelli, Italiens Ausputzer

Italiens Staatspräsident Mattarella hat nach dem Scheitern der Regierungsbildung den Wirtschaftsexperten Carlo Cottarelli einbestellt. Quelle: imago images

Die Regierungsbildung zwischen Fünf Sterne und Lega in Italien ist gescheitert. Nun hat Staatspräsident Mattarella Ex-Sparkommissar Carlo Cottarelli den Regierungsauftrag erteilt. Wer ist der Mann?

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Und dann will diese verdammte Jalousie nicht. Zumindest nicht so wie Carlo Cottarelli will. Der hagere Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und den grauen Haaren drückt einen Knopf. Die Jalousie fährt komplett hoch. Er drückt den Knopf wieder. Die Jalousie fährt komplett runter. Nun ist es nahezu dunkel in Cottarellis Büro im Rektorat der Katholischen Universität zu Mailand. Cottarelli flucht. Er drückt den Knopf wieder. Das Teil rattert wieder hoch. Schließlich öffnet er das Fenster, schiebt den Arm durch den Schlitz, zieht mit der Hand die Jalousie auf die gewünschte Höhe, schließt das Fenster und setzt sich hinter seinen Schreibtisch.

Der Mann ist nun 63 und er mag mit dem ein oder anderen technischen Problem zu kämpfen haben, aber wie man Dinge löst, die sich einer nachvollziehbaren Steuerung widersetzen, darin hat der Ökonom nun sehr viel Erfahrung. Denn Cottarelli hat sich in den vergangenen vier Jahren zeitweilig einer Aufgabe gewidmet, an der man nur scheitern konnte. Und an der er auch gescheitert ist. Einerseits.

Andererseits hat er so Erfahrungen gesammelt, die den Mann wertvoll bei dem machen, was in den nächsten Wochen und Monaten noch auf Italien und die Euro-Währungsunion zukommen wird. Und deswegen dürfte er nun in den nächsten Wochen auf Bitten von Italiens Staatspräsident eine „technische“ Übergangsregierung führen. Die wird nötig, weil Präsident Sergio Mattarella eine Ministerliste einer schon besiegelten Koalition aus den Wahlgewinnern der vorerst letzten Parlamentswahlen vom 4. März, der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechten Lega, nicht genehmigen wollte. Beide Parteien ließen die Regierungsbildung daraufhin platzen und fordern nun Neuwahlen. Damit die Zeit bis dahin, sollte sie überhaupt kommen – darüber feilschen das Parlament und der Präsident nun – irgendwie geordnet verläuft, soll nun also Cottarelli im Palazzo Chigi übergangsweise antreten.

Der Ökonom ist Kummer gewohnt. Cottarelli war von der abgewählten sozialdemokratischen Regierung Italiens als oberster Spar- oder Schuldenkommissar des Landes eingesetzt, um irgendwie Licht in den italienischen Haushalt zu bringen. Diese Aufgabe ist kaum hoch genug einzuschätzen. Italien ist mit mehr als 2,2 Billionen Euro oder 132 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verschuldet. Nur die USA und Japan tragen eine noch höhere Staatsschuld mit sich herum. Anders als Italien aber stehen diese Länder nicht ständig in Verdacht, ihre Schuldenlast nicht mehr tragen zu können. Weswegen Italien wiederum ein beständiges Risiko für die Euro-Zone darstellt, sich nach Griechenland die nächste veritable Staatsschuldenkrise aufzuhalsen. Nun mögen sie in Rom den Vergleich mit Athen überhaupt nicht, weswegen sich die letzte sozialdemokratische Regierung einige Zeit Cottarelli leistete. Als unabhängiger und damit vermeintlich vom römischen Interessensgeflecht unbehelligter Sparkommissar sollte er Struktur in den italienischen Haushalt bringen. Sparideen entwickeln. Ein Bewusstsein für mehr Haushaltsdisziplin schaffen. An einem Frühsommertag dieses Jahres sitzt er also in seinem Büro mit der widerspenstigen Jalousie und sagt: „Es ist ein bisschen besser geworden. Aber nicht gut.“ Und wer mit ihm spricht, warum es nicht gut wurde, der lernt viel über eine der größten ökonomische Achillesfersen Europas in diesen Zeiten – und die Wirrnisse der italienischen Politik.

Italiens 50-Milliarden-Lücke

Als Cottarelli im November 2013 zum Sonderkommissar der Regierung berufen wurde, glaubte er, alles gesehen zu haben. Zumindest alles, was so ein Leben in einer Regierung anstrengend macht. Der Ökonom war auf verschiedenen Posten im italienischen Finanzministerium, arbeitete für den Internationalen Währungsfonds, beobachtete Europas Regierungen zudem immer wieder als Wissenschaftler. Dennoch startet er sein Amt frohen Mutes.

Schließlich verabschiedete Italien 2012 eine Verfassungsänderung, die perspektivisch einen ausgeglichenen Haushalt zum Staatsziel erklärte. Gerade war das Land, vom vorbestraften Medienunternehmer Silvio Berlusconi bis an den Rand des Bankrotts getrieben, noch einmal aus dem Visier der Finanzmärkte entkommen. Es wirkte, als habe dies als heilsamer Schock die Italiener zur Vernunft gerufen. Und die Regierung verschrieb sich auch noch einem Primär-Überschuss des Haushalts von vier Prozent. Dass man nach einem Jahr bei 2,3 war. Ach. Ein bisschen besser, aber nicht gut?

Cottarelli ließ sich nicht beirren. Er sezierte den Haushalt, entwickelte Ideen für Einsparungen, aber auch für strukturelle Verbesserungen. „Herr Verboten“, nannten ihn die italienischen Medien nun. Cottarelli fühlte sich missverstanden. „Ich will doch den Staat gar nicht klein machen“, sagte er. „Die schlechte Haushaltssituation ist in vielen Dingen vor allem ein Problem schlechter Organisation. Es gibt alle Zahlen, aber die Frage ist, ob die so zusammengeführt werden, dass man damit einen Staat führen kann.“

Also machte sich Cottarelli ans Zusammenführen. Doch nun ging er jenen auf die Nerven, die im Finanzministerium eigentlich den Haushalt zusammenführen. Zudem gab es einen Wechsel an der Spitze der Regierung: Der forsche Matteo Renzi putschte Cottarellis Förderer Enrico Letta weg. Mit Pier Carlo Padoan installierte Renzi einen Finanzminister, der wenig Wert auf einen Sparkommissar neben sich legte. Padoan begann mit der Neuordnung des Haushalts auf seine Art. Die Zahlen wurden schnell besser. Cottarelli saß zunehmend auf einem Beobachterposten und war machtlos. Er sagt: „Natürlich hat sich Padoan bemüht, den Haushalt in Ordnung zu bringen. Aber richtig ernst hat er damit auch nicht gemacht.“ Um Italien wirklich voran zu bringen hätte man die Korruption richtig bekämpfen, die Justiz entbürokratisieren, das Nord-Süd-Gefälle ernsthaft ausgleichen müssen. Die Regierung Renzi machte all das – aber eher langsam, hielt sich immer mehr mit Streitereien auf. Als Cottarellis Vorhaltungen nervten, wurde er auf einen Posten beim IWF abgeschoben.

Der nervige Kommissar war nun weg, das Problem blieb. Italiens Schuldenberg wuchs auch unter der Regierung Renzi weiter. Erst im letzten Jahr der Legislatur schaffte es die sozialdemokratische Regierung, die Neuverschuldung zurückzufahren. Die Trendwende? Der Mann, der den Schuldenberg systematisch abtragen sollte, sagt: Nein. „Sie müssen ja nur die völlig unrealistischen Privatisierungserlöse in der Haushaltsprojektion für die nächsten drei Jahren herausrechnen, dann kommen Sie auf eine Lücke von 50 Milliarden Euro im Vergleich von Ziel und Wirklichkeit.“

Dabei will der Ökonom, der heute zu öffentlichen Finanzen an der katholischen Universität Mailands lehrt und forscht und dort im Rektorat sitzt, gar nicht den vergrätzten Experten geben, der vor den Unbillen der Politik zurück in den Elfenbeinturm floh. „Das Problem ist ja längst nicht nur die Politik, sondern vor allem, dass die Bevölkerung die Notwendigkeit nicht einsieht.“ Allein wenn Cottarelli, dem sie in Rom eine gewisse Eitelkeit und bis an Sturheit grenzende Emsigkeit nachsagen, das jüngste Wahlergebnis sieht. Die Bewegung Fünf Sterne wurde da stärkste Fraktion, gefolgt von der PD, der rechten Lega und der konservativen Forza Italia von Silvio Berlusconi.

Das Versagen der anderen

Bis auf den PD haben alle dieser Parteien vor der Wahl das Blaue vom Himmel versprochen. Bedingungsloses Grundeinkommen, Flat-Tax-Steuern, gar keine Steuern – sowas eben. Für Cottarelli steht fest: „Es haben die gewonnen, die gegenüber fiskaler Seriosität nicht besonders aufgeschlossen sind.“ Vor der Wahl hat er die Parteien gefragt, wie sie zum Haushaltsdefizit stehen. Die Fünf-Sterne-Bewegung hat gar nicht geantwortet. Vom PD hieß es, wenn man so weitermache wie bisher, sei alles auf gutem Wege. Die Lega äußerte sich unverständlich. Und Berlusconis Forza Italia versprach, den Primärüberschuss des Landes auf vier Prozent zu treiben – schickte dann aber konkrete Ideen mit, die das Gegenteil bewirken würden. Cottarelli vermutet dahinter bereits System: „Vielleicht wollen manche auch den Haushalt nicht sanieren, weil sie einen Grund suchen, aus dem Euro zu kommen Die Situation ist schon gefährlich.“

Den Haushalt auszugleichen fände Cottarelli, theoretisch, gar nicht so schwer: „Es würden drei Jahre reichen, in denen wir die Primärausgaben senken.“ Ob es dazu kommt? Das dürfte auch deswegen nicht leicht fallen, weil unter dem Schlagwort Haushaltsdisziplin in Italien in den vergangenen Jahren mitunter verheerendes angerichtet wurde. Immer wenn ein Nordeuropäischer Politiker irgendetwas von „Austerität“ forderte, verschärfte das aus Sicht der meisten Italiener ihre Not: Öffentliche Ausgaben wurden so gestrichen, dass der Alltag mühsam wurde; Familien in Landstrichen mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent sahen, wie auch noch das letzte Geld, um jungen Menschen bei einer Perspektive zu helfen, gestrichen wurde.

Und waren es nicht die gleichen Nordeuropäer, die von Italien einen Sparkurs forderten dem Land dann aber die Lösung der Flüchtlingsprobleme Europas fast alleine aufhalsten? Mittlerweile ist das Wort Sparen in der italienischen Öffentlichkeit ob dieser Erfahrungen so verschrien, dass die alleinige Erwähnung einen Gegenreflex auslöst.

Insofern ist es gewissermaßen logisch, dass die Politik das Thema eher halbherzig angeht. Zudem das niedrige Zinsniveau, das die Europäische Zentralbank vorgibt, die Staatsschuld vergleichsweise händelbar macht. „Das tückische an der Politik der Europäischen Zentralbank, die ja erklärt hat, den Euro um jeden Preis zu retten, ist: Sie nimmt den Druck von der italienischen Politik“, sagt Cottarelli. Nun kann man geteilter Meinung sein, ob eine andere Politik der EZB wirklich ökonomisch sinnvoller gewesen wäre. Allerdings hat der Niedrigzins den italienischen Staat tatsächlich bisher gerettet. Cottarelli glaubt denn auch nicht, dass unter EZB-Präsident Mario Draghi die Zinsen so sehr steigen werden, dass sie Italien wieder in Nöte bringen. Angst hat er dennoch: „Und zwar davor, dass die Konjunktur in Europa abflaut. Dann ist Italien das erste Opfer – die Risikoaufschläge für die Neuverschuldung werden steigen, Italien an den Rand der Zahlungsunfähigkeit kommen. Unabhängig von den Zinsen. Das ist mein Alptraum Szenario.“

In Rom hört man in letzter Zeit oft, die italienische Wirtschaft müsse einfach weiterwachsen, dann erledige sich das mit dem Schuldenproblem schon. Es wachse sich quasi aus. „Was ein lächerlicher Quatsch“, sagt der ehemalige Schuldenkommissar. „Damit das funktioniert, bräuchten wir Wachstumsraten wie China.“ Das Land wuchs im vergangenen Jahr um gut sechs Prozent. Italien um 1,4 Prozent.

In Italien gibt es schon seit Wochen Medien und konservative Politiker, die Cottarelli als Teil der Regierung sehen wollen. „Lächerlich“, sagt Cottarelli an jenem Tag mit den streikenden Jalousien selbst noch. „Ich glaube weiter, dass man dafür werben muss, dass sich Einsicht durchsetzt. Aber nicht in so einer Regierung.“ Ob er Hoffnung habe, dass Italien sein Schuldenproblem irgendwann doch noch ernst nehme? „Hoffnung sollte nicht so eine Rolle spielen, die wird zu oft enttäuscht.“ Nun ist es an ihm, in den nächsten Wochen, die Hoffnungen vieler Italiener an die Handlungsfähigkeit ihrer Politik wieder herzustellen. An herausgehobenerer Stellung, als er selbst lange dachte. Ob er ein Programm dafür hat? Cottarelli, der vom Naturell her eher nicht mit Selbstlob hinter dem Berg hält, sagt: „Es geht einfach darum, die richtigen Ding zu tun.“ Dann drückt er den Knopf einer Fernbedienung. Und die Jalousie bewegt sich hoch.

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