Giuseppe Romano sollte an diesem Tag schlechte Laune haben. Als Chef der italienische Gewerkschaft CGIL in der süditalienischen Industrie-Stadt Taranto vertritt er die Interessen der mehr als 10.000 Arbeiter des Stahlwerks Ilva. Die Partei Cinque Stelle möchte dieses Werk schließen. Und an diesem Tag zeichnet sich ab, dass die Cinque Stelle als stärkste Partei nach den Wahlen am 4. März wohl auch in Rom die Regierung anführen werden. Doch Romano sagt: „Warten wir doch mal ab, chaotischer kann es eigentlich nicht werden.“
Chaotischer kann es nicht werden. Das können sie in Taranto wirklich behaupten. Seit mehr als einem Jahrzehnt befindet sich das örtliche Stahlwerk, Europas größtes, in der Krise. Erst flog ein gigantischer Umweltskandal auf, den eine sehr süditalienische Auslegung gängiger Compliance-Gepflogenheiten erst ermöglicht hatte. Dann traf die weltweite Stahlkrise das Werk, mittlerweile gibt es einen harten Restrukturierungsplan. Da Taranto aber der nahezu einzige industrielle Kern im Italien südlich von Rom ist, hat jeder Arbeitsplatzabbau dort nationale Bedeutung. Und so begleitet ein zähes Ringen jeden Schritt.
Soll man Umweltauflagen lockern oder schärfen? Darf der Staat das Werk finanziell unterstützen oder nicht? Bei fast allen diesen Fragen gibt es zwischen der Bundesregierung in Rom, der Regionalregierung in Bari und der Provinzregierung in Taranto unterschiedliche Positionen. „Und das, obwohl all diese Ämter bisher von einer Partei besetzt wurden“, sagt Romano. „Dem Partito Democratico. Bevor wir jetzt also Angst vor den Cinque Stelle haben, warten wir doch erstmal ab.“
Chaotischer kann es nicht werden – die Aussage ist so ziemlich das Gegenteil des internationalen Echos auf die sich abzeichnende neue italienische Regierung. Nach acht Woche Sondierung zeichnet sich tatsächlich eine Koalition der beiden Wahlsieger ab – der sich nicht klassischen politischen Positionen zuordenbaren Cinque Stelle, und der rechtsradikalen Lega. Europa und die so genannten Märkte zittern vor dieser Regierung. Tatsächlich hält vor allem die Lega eine ganze Reihe schwer akzeptabler Zumutungen in ihrem Programm parat: Sie hetzt offen gegen Ausländer, lehnt die Europäische Union grundsätzlich ab und säht Zweifel an der Demokratie. Das ist die eine Seite.ga eine ganze Reihe schwer akzeptabler Zumutungen in ihrem Programm parat: Sie hetzt offen gegen Ausländer, lehnt die Europäische Union grundsätzlich ab und säht Zweifel an der Demokratie. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite stehen: Als in den vergangenen Jahren etablierte Parteien die Regierung stellten, hat das Europäer wie Finanzmärkte ebenfalls nicht zufrieden gestellt. Zudem ermöglicht das neue Bündnis, dass der vorbestrafte und unter dem Verdacht von Mafia-Kontakten stehende Silvio Berlusconi keine Rolle mehr spielt. Und in Sachen Korruption sind vor allem die Cinque Stelle im Vergleich zu den vom Brüsseler und Berliner Behörden-Europa so geschätzten „etablierten“ Parteien Partito Democratico und Forza Italia unvorbelastet. Wie riskant ist die Regierung also wirklich? Ihre wirtschaftlichen Kernprojekte jedenfalls sind eine bunte Mischung aus Vorschlägen, die keiner klassischen Denkschule zuzuordnen sind.
Bedingungsloses Grundeinkommen
Schon am Tag nach den Wahlen war klar, wie Ernst die Italiener die Wahlversprechen der Cinque Stelle nehmen. Das ist nun neun Wochen her und der Effekt hat kein Stück nachgelassen. Immer wieder bilden sich vor allem im Süden Italiens, wie eben Taranto, lange Schlangen vor den örtlichen Behördenzentren. Die Menschen, die sich dort anstellen, fordern den Wahlkampfschlager der Partei von Spitzenkandidat Luigi di Maio ein: die Auszahlung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Nichts hat die Italiener jenseits der Flüchtlingsfrage im vergangenen Wahlkampf mehr elektrisiert.
Italiens Ökonomen sind mehrheitlich geschockt über den Vorschlag angesichts Italiens leerer öffentlicher Kassen. Die Tage der Regierungsbildung deuteten aber schon an: di Maio kommt nicht hinter dieses Versprechen zurück. Die Cinque Stelle haben alle Wahlkreise im von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsschwäche gekennzeichnetem Mezzogiorno, dem Italien südlich von Rom, gewonnen. Weil die Menschen dort durch das bedingungslose Grundeinkommen endlich eine Perspektive sehen. „Hier ist es doch so“, sagt Gewerkschaftssekretär Romano. „Entweder kriegt man einen Lohn aus dem Stahlwerk – oder man muss gucken, wo man bleibt. Da setzt ein bedingungsloses Grundeinkommen Fantasien frei.“
Und es ist ja nicht so, als seien die Cinque Stelle die einzigen Europäer, die das fordern. Längst haben sich auf dem ganzen Kontinent Unternehmensführer wie Siemens-Chef Joe Kaeser, Ökonomen wie der Hamburger Thomas Straubhaar oder Regionalregierungen wie die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein für ähnliche Experimente ausgesprochen.
Steuer-Flatrate, Stabilitätspakt aufweichen, Privatisierungen
Steuer-Flat
Neben der konsequenten Hatz gegen Flüchtlinge hat der kleinere Regierungspartner, die Lega, kein inhaltliches Thema in den vergangenen Jahren so verfolgt, wie eine Steuer-Flatrate. Auch bei den Cinque Stelle gibt es Sympathien dafür. Das Problem dürfte hier nicht das System an sich sein – sondern die Höhe des Einheitssatzes für die Einkommenssteuer. Lega-Chef Matteo Salvini warb für 15 Prozent.
Das wäre in der Tat finanzieller Selbstmord für den italienischen Staat, der schon jetzt mit 133 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet ist – Europa-Rekord. In den Regierungsverhandlungen wurde deswegen munter über die Höhe des Einheitssatzes gestritten.
Investieren und Konsumieren
Als der Komiker Beppe Grillo die Cinque Stelle einst gründete, hatte er neben der Wut auf „die da oben“ vor allem einen Programmpunkt im Repertoire: Italiens Austritt aus dem Euro. Das hat di Maio längst kassiert. Statt aus der Gemeinschaftswährung will er „nur“ aus den gemeinschaftlichen Stabilitätskriterien aussteigen. Dass eine Regierung di Maio-Salvini die so genannten Austeritäts-Regeln nach deutschen Vorstellungen einhält, gilt als ausgeschlossen.
In der Tat haben aber auch alle anderen italienischen Parteien diese Regeln als obsolet gebrandmarkt. Und auch jenseits der neuen italienischen Regierung gibt es mit dem französischen Präsidenten Emmanuelle Macron Sympathien dafür, den Stabilitätspakt neu zu verhandeln.
Keine Privatisierungen
Der bisherige Finanzminister Pier Carlo Padoan hatte einen klaren Plan: Privatisierungserlöse über mehr als 50 Milliarden Euro sollten bis 2020 dabei helfen, Italiens Staatsfinanzen ins Gleichgewicht zu bringen. Dafür wollte er vor allem Anteile der Post und des Bahnbetreibers Trenitalia an die Börse bringen.
Dass die neue Regierung das weiterverfolgt, gilt als unwahrscheinlich. Die Frage ist aber, welche praktischen Auswirkungen das hat. „Diese Erlöse waren völlig unrealistisch“, sagt der ehemalige italienische Sparkommissar Carlo Cottarelli. Und ein Mailänder Wettbewerbsrechtler sagt: „Die Privatisierungsschritte waren so unattraktiv konzipiert, dass es ohnehin kaum Interesse gegeben hätte.“
Und nun?
Das kommt drauf an. Natürlich kann ein Horror-Szenario aus außen- und gesellschaftspolitischer Krawallpolitik und ökonomischem Voodoo eintreten. Vor allem die Persönlichkeiten der beiden Führungsfiguren sprächen dafür. Andererseits ist es alles andere als ausgemacht, ob das sich anbahnende Regierungsbündnis wirklich schlechter für das Land ist als die vorangegangenen Koalitionen. Chaotischer kann es kaum werden.