Regierungskrise in Großbritannien Auch der neue Brexit-Minister wird May nicht retten

Die britische Premierministerin ernennt mit Dominic Raab wieder einen Hardliner zum Brexit-Minister. Der Rücktritt des Vorgängers David Davis lässt aber immer noch Fragen offen. Auch die nach Mays eigener Zukunft im Amt.

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Premierministerin Theresa May hat mit Ernennung von Dominic Raab erneut einen überzeugten Euroskeptiker zum Brexit-Minister ernannt und damit die heikle Balance zwischen Pro- und Anti-Europäern in ihrem Kabinett gewahrt. Raab war bisher Bauminister und vor dem EU-Referendum im Sommer 2016 einer der prominentesten Leave-Befürworter. Der Jurist ist zwar kein politisches Schwergewicht, aber ein ehrgeiziger Politiker, der zu der jüngeren Generation aufstrebender Parteimitglieder zählt. Seiner Berufung am Montagvormittag waren turbulente Stunden vorausgegangen: Nur wenige Minuten vor Mitternacht hatte Brexit-Minister David Davis mit sofortiger Wirkung seinen Rücktritt erklärt und damit einen brisanten politischen Sprengsatz gezündet.

Anders als Innenminister Horst Seehofer nahm er seinen Rücktritt im Verlauf der Nacht auch nicht zurück, sondern erklärte in einem Brief an Premierministerin Theresa May, er könne ihren Kurs nicht länger mittragen, denn der versetze Großbritannien gegenüber Brüssel in eine „schwache Verhandlungsposition“. Auch sein Staatssekretär, Steve Baker, warf das Handtuch. Für May, die ihr Kabinett erst am Freitag bei einer Klausurtagung auf eine weichere Brexit-Linie eingeschworen hatte, war das ein Tiefschlag. Nun wartet das politische London auf die Reaktion von Außenminister Boris Johnson, der im Hinblick auf den bevorstehenden Abschied Großbritanniens aus der EU wie Davis einen harten Schnitt fordert.

Erst am Freitag hatte May ihr Kabinett auf einen Plan eingeschworen, der Großbritannien beim Warenhandel auch in Zukunft eng an die EU gebunden und Kontrollen an der Landesgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindert hätte. Ihr Kompromissvorschlag sah eine enge Zollpartnerschaft vor und auch, dass die britische Industrie bei ihrer Produktion alle EU-Standards einhalten sollte. Damit wären tarifäre und nichttarifäre Handelsbarrieren vermieden worden. Dienstleistungen waren allerdings nicht eingeschlossen. Mays Plan sollte Anfang dieser Woche in einem detaillierten Weißbuch veröffentlicht werden und als Grundlage der Verhandlungen mit der EU dienen. Doch ob das angesichts der jüngsten Ereignisse noch der Fall sein wird, ist unklar. Am heutigen Montag will sie ihren Kurs vor dem Parlament verteidigen.

Der Rücktritt des Ministers neun Monate vor dem offiziellen Austrittstermin könnte auch das Ende der politischen Karriere von May einläuten. Denn wenn 48 Tory-Abgeordnete ihren Rücktritt fordern sollten, müsste die Konservative Partei offiziell einen Wettbewerb um das höchste Parteiamt in Gang setzen – ein komplizierter Prozess, der ihren Sturz einleiten könnte. Der ultrakonservative Brexitier Jacob Rees-Mogg steht einer Gruppe von 60 Euroskeptikern vor, verfügt damit also über die nötige Macht, um einen Putsch gegen die ohnehin angeschlagene Premierministerin anzufachen, die seit den Wahlen im letzten Jahr eine Minderheitsregierung leitet. May ist an diesem Freitag zwei Jahre im Amt, sie war nach dem EU-Referendum ohne parteiinterne Abstimmung zur Premierministerin gekürt worden.

Bisher hatte sie es vermocht, sowohl die Euroskeptiker als auch die europafreundlichen Minister in ihrer Regierung durch zahlreiche Kompromisse und semantische Verrenkungen in Schach zu halten und so eine offene Rebellion in ihrer Partei zu verhindern. Selbst die Eskapaden des aufmüpfigen Außenministers Johnson hatte sie toleriert. Doch am Freitag machte sie klar, dass diese Toleranz nun ein Ende hat und die Minister sich ihrer Richtlinienkompetenz fügen müssen. Mit dem Rücktritt Davis` ist die über die letzten zwei Jahre hinweg mühsam gezimmerte gemeinsame Front endgültig zerbrochen. Davis dürfte als Hinterbänkler keine Hemmungen mehr haben, scharfe Attacken gegen die Regierung zu reiten. Er begann damit schon am Montagmorgen, als er in einem BBC-Interview kritisierte, Mays Haltung bedeute, dass Großbritannien die Zollunion aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verlassen werde – damit aber breche sie das Versprechen ihres Wahlprogramms vom vergangenen Jahr.

Der Rücktritt von David Davis wurde in London allerdings nicht nur mit rein ideologischen Gründen in Verbindung gebracht. Es war schon lange ein offenes Geheimnis, dass der 69jährige Minister amtsmüde war und es May übel nahm, dass sie die Verhandlungsführung mit EU-Unterhändler Michel Barnier de facto längst an den Spitzenbeamten Oliver Robbins delegiert hatte. Offizielle Dokumente des Brexit-Ministeriums zeigen, dass Davis im letzten halben Jahr nur knapp vier Stunden direkt mit Barnier verhandelte, er war längst auf ein Seitengleis geschoben worden und hatte kaum Einfluss auf die Gespräche. Robbins war es auch, der den weichen Brexit-Kurs konzipiert hatte, den May ihrem Kabinett am Freitag vorstellte. Davis hatte sich im Parlament auch häufiger blamiert, weil es ihm an Kenntnissen über die EU und die Brexit-Modalitäten fehlte. Er galt als faul und hatte wenig Interesse, sich in die Materie einzuarbeiten. Raab ist von einem anderen Kaliber.

Für Brüssel bedeutet der neue Minister zunächst mehr Ungewissheit. Die Verhandlungen waren in den letzten Wochen ja nahezu zum Stillstand gekommen, weil May keine Vorschläge für die künftigen Beziehungen präsentiert hatte. Die Uhr tickt, wie Barnier stets betont, und bis zum nächsten entscheidenden EU-Gipfel im Oktober bleibt angesichts der langen Sommerpause in London und Brüssel nur noch wenig Zeit. Außerdem stehen im Herbst in Großbritannien die Parteitage an – traditionell betreibt das politische Großbritannien in diesen Wochen nur noch Nabelschau.

Darüber hinaus gibt es ernste Zweifel, ob Mays Soft-Brexit-Plan für die EU akzeptabel sein wird. Barnier flüchtete sich bisher in diplomatischen Formulierungen, die nicht erkennen lassen, wie er Mays Vorschläge tatsächlich beurteilt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am morgigen Dienstag anlässlich des Balkan-Gipfels für eine Stippvisite nach London kommt, blieb bisher ebenfalls stumm. May hatte Merkel am Donnerstag in Berlin besucht, sie skizzierte der  Bundeskanzlerin die wesentlichen Punkte ihres Plans und warb um ihre Zustimmung.

Klare Worte fand bisher nur die niederländische Europaabgeordnete Sophia in 't Veld, die Stellvertreterin von Guy Verhofstadt, der als Brexit-Chefunterhändler des Europaparlaments fungiert. Sie verwies darauf, dass die vier Säulen des Binnenmarktes untrennbar miteinander verbunden seien. Die Freizügigkeit einzuschränken und gleichzeitig eine Freihandelszone im Güterverkehr mit der EU anzustreben, wie May es vorgeschlagen habe, sei nicht akzeptabel, denn das stelle die Integrität des Binnenmarktes in Frage.

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