
Verschrotter, Speedy Gonzalez, Senkrechtstarter, Hoffnungsträger, italienischer Tony Blair: Lang ist die Liste der Beinamen, die Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi trägt. Als der 40-jährige Sozialdemokrat vor einem Jahr in Rom das Amt des Regierungschefs antrat, waren die Erwartungen in seiner Heimat und in Europa groß. Das hoch verschuldete Land endlich aus der Krise führen, jeden Monat eine Reform, die alte Politikerkaste in die Tonne treten, Bürokratie abschaffen und Wachstum schaffen.
Nach einem Jahr ist der junge Florentiner zwar immer noch voller Tatendrang, Selbstbewusstsein und Optimismus. Doch die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei mehr als zwölf Prozent, die Verschuldung mit 130 Prozent der Wirtschaftsleistung weit über der erlaubten Grenze der EU und die Wirtschaft will einfach nicht wachsen. „Renzi hat sein erstes Jahr vor allem institutionellen Reformen gewidmet, die alle noch eine Baustelle sind – erst seit Ende letzten Jahres hat er sich der Finanzpolitik zugewandt“, sagt Francesco Galietti vom politischen Think Tank Policy Sonar, der Deutschen Presse-Agentur. Seine Popularität sei extrem gesunken, wegen der Art, wie er Wirtschaftsreformen angehe.
Krisenländer im Check
- LICHT: Das Land steckt in der tiefsten Rezession seit den 1970er Jahren. Doch der Abwärtsstrudel verliert an Stärke: Die Arbeitslosenquote sank im Mai und im Juni, das Geschäftsklima hellte sich sieben Monate in Folge auf. Die gesamte Wirtschaft wuchs im zweiten Quartal überraschend um 1,1 Prozent, es war das erste Plus seit rund zweieinhalb Jahren.
- SCHATTEN: Die jüngste Regierungskreise hat Investoren verunsichert und Zweifel geschürt, dass sich Portugal ab Mitte 2014 wieder vollständig über den Finanzmarkt finanzieren kann. Nur ein Rettungspaket über 78 Milliarden Euro bewahrte das Land vor der Staatspleite.
- LICHT: Die Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds hat dem Euro-Land jüngst Fortschritte bei der Sanierung seines Staatshaushalts bescheinigt. Die internationalen Geldgeber müssen Zypern mit insgesamt rund zehn Milliarden Euro vor der Staatspleite retten.
- SCHATTEN: Wegen des harten Sparkurses als Gegenleistung für das Rettungspaket steht Zypern konjunkturell noch ein tiefes Tal bevor. Die Arbeitslosenquote stieg zuletzt stetig auf gut 17 Prozent - dies ist hinter Griechenland, Spanien, und Portugal der höchste Wert in der EU. Im zweiten Quartal schrumpfte die Wirtschaft um 1,4 Prozent. Für das Gesamtjahr 2013 sagt die EU-Kommission ein Minus von 8,7 Prozent voraus.
- LICHT: Die Immobilienkrise, die das Land in den Abgrund getrieben hat, nähert sich ihrem Ende. Die Hauspreise stiegen im Juni erstmals seit Ausbruch der Misere wieder, und zwar um durchschnittlich 1,2 Prozent zum Vorjahresmonat. Sie waren seit 2008 um rund 50 Prozent eingebrochen. Dadurch erlitten die Banken des Landes milliardenschwere Verluste. Sie mussten mit Steuergeldern gerettet werden, was wiederum den Staat an den Rand der Pleite trieb. Da die Regierung zahlreiche Reformen umgesetzt hat, hob die Rating-Agentur S&P ihren Ausblick für die Kreditwürdigkeit des Landes von "stabil" auf "positiv" an.
- SCHATTEN: Die Konjunktur läuft schlechter als erwartet, die Wirtschaft schrumpfte zuletzt drei Quartale in Folge. Die Notenbank senkte deshalb ihre Wachstumsprognose für 2013 von 1,2 auf 0,7 Prozent. Damit wird es auch schwerer, das Defizit wie geplant auf 7,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu drücken.
- LICHT: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone galt zuletzt als Sorgenkind. Nun verließ das Land aber die Rezession - und das mit deutlich mehr Schwung als erwartet. Im zweiten Quartal stieg das Bruttoinlandsprodukt um 0,5 Prozent und damit mehr als doppelt so schnell wie erwartet.
- SCHATTEN: Die Lage bleibt fragil. Die Regierung in Paris hatte zuletzt nicht mehr ausgeschlossen, dass das Bruttoinlandsprodukt 2013 leicht schrumpft. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Zudem hat die Regierung Mühe, den Haushalt in den Griff zu bekommen. Präsident Francois Hollande, dessen Popularität auf Tiefstwerte gerutscht ist, räumte kürzlich ein, Frankreich könnte sein Defizitziel von 3,7 Prozent der Wirtschaftskraft 2013 verfehlen. Der Internationale Währungsfonds legte Frankreich bereits nahe, aus Rücksicht auf die Konjunktur die Haushaltskonsolidierung abzubremsen.
- LICHT: Auch Italien hat ein Ende der Rezession vor Augen. Von April bis Juni schrumpfte die Wirtschaft zwar das achte Quartal in Folge, mit 0,2 Prozent aber nur halb so stark wie befürchtet. Zuletzt mehrten sich die Hinweise darauf, dass Italien der Dauer-Rezession in den Sommermonaten entkommen kann: Die Produktion im verarbeitenden Gewerbe wuchs im Juni mit 0,3 Prozent den zweiten Monat in Folge, der Einkaufsmanager-Index für die Industrie stieg im Juli auf den höchsten Stand seit mehr als zwei Jahren, der Einzelhandelsumsatz legte nach 14-monatiger Pause zuletzt wieder zu. Und auch die Kauflaune der Verbraucher besserte sich.
- SCHATTEN: Die schwache Konjunktur gefährdet die Sanierung des Haushalts. Im Juli lag das Defizit bei fast neun Milliarden Euro. Italien ist damit weit davon entfernt, die Neuverschuldung unter die EU-Obergrenze von drei Prozent der Wirtschaftskraft zu drücken. Gefährdet wird die Erholung auch von politischer Instabilität. Die Koalition von Silvio Berlusconis Partei Volk der Freiheit und der linken Demokratischen Partei hing zuletzt am seidenen Faden. Mit Warnungen vor einem Bürgerkrieg und Rücktrittsforderungen von Ministern und Abgeordneten machte das rechte Lager gegen die Verurteilung Berlusconis Front, der vom Obersten Gerichtshof zu vier Jahren Haft wegen Steuerhinterziehung verdonnert worden war.
- LICHT: Das Land nähert sich dem Ende der Dauer-Rezession. Im zweiten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt mit 0,1 Prozent nur noch minimal. Für die zweite Jahreshälfte wird wieder ein leichtes Wachstum erwartet. Die Zahl der Arbeitslosen fiel im Juli den fünften Monat in Folge - um knapp 65.000 auf 4,7 Millionen. Hauptgrund dafür ist der Aufwind der Tourismusindustrie, die in der Ferienzeit viele zusätzliche Mitarbeiter benötigt. Die Branche macht etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Auch einige Banken lassen die Krise nach der geplatzten Immobilienblase allmählich hinter sich. Branchenprimus Santander steigerte seinen Überschuss im ersten Halbjahr um 29 Prozent auf 2,25 Milliarden Euro.
- SCHATTEN: Die Industrie kommt nicht auf die Beine. Die Unternehmen drosselten ihre Produktion im Juni bereits den 22. Monat in Folge. Der Rückgang zum Vorjahresmonat fiel mit 1,9 Prozent sogar deutlicher aus als erwartet. Sorgen bereitet zudem das hohe Defizit. Der Staat musste bereits mehrfach den Reservefonds der Sozialversicherung anzapfen, um Pensionszahlungen leisten zu können. Spanien leidet immer noch unter den Folgen des 2008 geplatzten Immobilienbooms. Offiziellen Angaben zufolge sind die Grundstückpreise seit ihrem Höhepunkt 2007 um 43 Prozent eingebrochen. Immobilienexperten gehen sogar von einem Minus von mindestens 70 Prozent aus. Banken mussten deshalb milliardenschwere Abschreibungen vornehmen. Das Geld fehlt nun, um es in Form von Krediten an Unternehmen zu vergeben.
- LICHT: Der Tourismus brummt wieder. In diesem Jahr werden 17 Millionen Urlauber erwartet und damit so viele wie noch nie. Die Branche rechnet mit einem Umsatzplus von zehn Prozent auf elf Milliarden Euro. Der Tourismus macht etwa 17 Prozent der Wirtschaftsleistung aus; jeder fünfte Grieche arbeitet in dieser Branche. Auch bei der Sanierung der Staatsfinanzen kommt das Land langsam voran. Der Primärhaushalt - bei dem die Zinskosten nicht berücksichtigt werden - wies in den ersten sieben Monaten völlig unerwartet einen Überschuss von 2,6 Milliarden Euro aus.
- SCHATTEN: Die Wirtschaft schrumpfte im zweiten Quartal mit 4,6 Prozent so langsam wie seit fast zwei Jahren nicht mehr. Doch das reicht längst nicht aus, um neue Jobs zu schaffen. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit mit 27,6 Prozent auf einem Rekordwert. Die Zentralbank geht davon aus, dass sie noch bis auf 28 Prozent steigen wird. Erst 2015 soll sie zurückgehen.
Trat Renzi am Anfang nicht nur im eigenen Land sondern auch in Europa sehr forsch auf, scheint er sich nun mehr der Realität des politischen Geschäfts gefügt zu haben. „Er hat schnell verstanden, dass in Europa die Dinge ein bisschen komplizierter sind“, sagt Ezio Mauro, Herausgeber der Zeitung „La Repubblica“. Immerhin konnte er seine Kandidatin Federica Mogherini für das Amt der EU-Außenbeauftragten durchdrücken. Zudem zeigte Brüssel Milde mit Defizitsündern wie Italien und verlängerte eine Frist, in der über mögliche Strafverfahren entschieden wird, bis März.
Kooperation mit Berlusconi-Partei zerbröselt
Innenpolitisch untermauerte Renzi mit der Wahl seines Kandidaten Sergio Mattarella zum neuen italienischen Staatspräsidenten seinen Machtanspruch und bewies, dass er hinter den Kulissen geschickt die Fäden ziehen kann. Aber innerhalb seiner Partei Partito Democratico (PD), vor allem im linken Flügel, und bei den Gewerkschaften ist er wegen seiner liberalen Wirtschaftspolitik umstritten und kämpft mit Gegenwind.
Zudem zerbröselt gerade die Kooperation mit Italiens ehemaligem Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und dessen Partei Forza Italia, die ihn zum Beispiel bei der wichtigen Wahlrechts- und Senatsreform unterstützten wollte. „Renzis größte Herausforderung bleibt es, Reformen in einem feindlichen und sehr fragmentierten parlamentarischen Umfeld durchzubringen, wo Konsens nur wegen des Paktes mit Berlusconis Forza Italia möglich war“, sagt Experte Galietti.
Renzis Manko ist auch, dass er nicht durch Wahlen an die Macht kam, sondern weil er seinen Vorgänger und Parteikollegen Enrico Letta quasi gestürzt hatte. Zwar holte Renzi bei den Europawahlen letztes Jahr 41 Prozent – ein Riesenerfolg. Aber seine Kritiker sehen darin noch keine demokratische Legitimierung. Derzeit zeichnet sich jedoch nicht ab, dass Renzi Neuwahlen anstrebt.
Letzten Endes werden seine Landsleute ihn einzig daran messen, ob er es schafft, das Land endlich aus der Krise zu führen. „Renzi wird als Mann des Wechsels wahrgenommen, aber es gibt eine Lücke zwischen seinen Versprechen und seinen Errungenschaften. Viel von seiner Glaubwürdigkeit hängt davon ab“, sagt „Repubblica“-Herausgeber Mauro.