Mit einer Leitzinssenkung auf 0,05 Prozent hat EZB-Präsident Mario Draghi zuletzt überrascht. Es dürfte die vorletzte Verzweiflungstat gewesen sein. Die letzte besteht in der Inflationierung der Wirtschaft und der Zerstörung von Schulden und Guthaben gleichermaßen.
Keynesianische Maßnahmen wie das Fluten der Märkte mit billigem Geld sind jedoch grundfalsch. Und zwar aus drei Gründen: Erstens ist die Euroraum-Krise keine klassische Konjunktur-Krise, zweitens sind die Rahmenbedingungen heute ganz andere als Keynes sie in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts vorfand. Drittens wird die Geldpolitik als Therapieinstrument dermaßen überdehnt, dass den Volkswirtschaften in Europa ein nachhaltiger Schaden droht.
Zur Person
Prof. Dr. Reiner Osbild promovierte in Volkswirtschaftslehre in Trier. Danach arbeitete er 12 Jahre lang im internationalen Investment Banking. Nach Lehraufträgen und Professuren in Dalian (China) und Heidelberg übernimmt er in Kürze einen Lehrstuhl in Emden. In seinem Buch „Finanzkrise – Geld, Gier und Gerechtigkeit“ vom März 2014 geht er auch auf die ethische Dimension der Eurokrise ein.
Keine Konjunkturkrise
Die Krise in Euroland ist keine konjunkturelle Erscheinung. Sie ist nicht keynesianisch und kann daher auch nicht mit keynesianischen Mitteln bekämpft werden. Sie kann übrigens auch nicht durch einen zinsinduzierten Abwertungswettlauf behoben werden.
Keynes entwickelte seine Theorie auf Basis der Erfahrungen der Großen Depression. Das ist mehr als 80 Jahre her. Damals entdeckte der englische Ökonom die Bedeutung der aggregierten Nachfrage: Lasse sie nach, könne die Wirtschaft in Unterbeschäftigung und Rezession abrutschen. Staat und Notenbank sollten mit einer Ausweitung oder Stimulierung der kreditfinanzierten Nachfrage den temporären Einbruch kurieren und die Wirtschaft wieder auf Kurs bringen.
Die Konjunkturkrisen, die seither mit expansiver Geld- und Fiskalpolitik bekämpft wurden, waren allesamt kurzfristiger Natur. Wenn man sich die Wirtschaft als ein Auto vorstellt, dann schwebte Keynes ein Hilfsprogramm im Sinne der Gelben Engel vor: Ist die Panne behoben, kann das Auto selber weiterfahren.
Die Probleme in Euroland sind hingegen langfristiger und struktureller Natur. Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit im Verbund mit verkrusteten Strukturen behindern die Angebotsseite. Im Prinzip ist eher ein Abschleppdienst denn eine rasche Pannenhilfe gefordert.
Andere Rahmenbedingungen
Analogien sind häufig bedenklich. Vor allem aber muss die keynesianische Theorie vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte interpretiert werden. Und Südeuropa ist nicht mit den USA oder Großbritannien der Dreißigerjahre vergleichbar.
Keynes fand damals hoch entwickelte Industriestaaten vor, mit risikofreudigen Unternehmern und ausgebildeten Arbeitskräften. Die öffentlichen Schulden waren in Friedenszeiten nicht so hoch, als dass sie die Bonität gefährdet hätten. Die Verwaltungen der Industrieländer funktionierten im Großen und Ganzen gut. Schließlich handelte es sich um relativ geschlossene Ökonomien, für die der Außenhandel nur einen geringen Anteil des BIP ausmachte.
Stimmen aus dem Ausland zur EZB-Politik
„Bei der Verkündung der EZB-Maßnahmen war ein Hauch von Verzweiflung zu spüren. Europa befindet sich im Sog eines Deflationsstrudels. Es ist zwar gut, zu wissen, dass sich die EZB dessen bewusst ist. Aber die Erleuchtung könnte zu spät gekommen sein.“
„Die Notenbank in Frankfurt hat ihr wirksamstes Instrumentarium weitgehend ausgereizt, die Strukturschwäche in der Euro-Zone kann und wird sie mit ihren Mitteln nicht überwinden können. […] Die EZB will um jeden Preis den Eindruck vermeiden, ihr gingen im Kampf um die Erhaltung der Währungsunion und des Euro die Mittel aus. Doch ihr Präsident gibt inzwischen unumwunden zu, dass es immer schwieriger werde, allein mit der Geldpolitik für Preisstabilität in der Euro-Zone zu sorgen.“
„Jetzt ist die perfekte Zeit für eine fiskalische Expansion und nicht für eine weitere Schrumpfung. Europa kommt gerade aus einer schweren Rezession, die von unzureichender Nachfrage verursacht wurde. Die Rentenerträge sind auf einem historischen Tiefpunkt, und viele Länder haben ungenutzte Kapazitäten im Bausektor. Wer glaubt, die EZB könne die Lage mit noch niedrigeren als den ohnehin schon minimalen Zinsen retten, der irrt.“
„Genau in dem Moment, als die amerikanische Notenbank Fed ihre Geldpolitik strafft, entschied sich die EZB, ihre zu lockern. Das Zusammenwirken wertet logischerweise den Euro ab, zur Zufriedenheit Frankreichs. Doch Draghi kann die Wirtschaften Europas nicht allein ankurbeln. Jetzt liegt es an jedem Land selbst, sich zu reformieren.“
„Es ist keine starke Waffe, wie das Quantitative Easing, um die Stagnation zu bekämpfen. Doch das neue Programm, das Mario Draghi zum Ankauf von Bankpapieren angekündigt hat, könnte sich trotzdem als sehr effizientes Instrument erweisen.“a
Im Euroraum ist vieles anders. Die südeuropäischen Staaten und Irland verdanken ihren Boom der Jahre 1998 bis 2007 gerade nicht den klassischen Wachstumstreibern, also innovativen Unternehme(r)n und hoch produktiven Beschäftigten - sondern einer Ausgabenorgie, die durch Kapitalzuflüsse und niedrige Zinsen gespeist war.
Die Ausgaben flossen in Irland und Spanien in den Hausbau, in Griechenland und Portugal in (staatsfinanzierten) Konsum. Zu wenige Investitionen wurden getätigt. Die Staaten selbst sind durch teils hohe Korruption, Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung gekennzeichnet. Ihre Einbindung in den internationalen Handel ist hoch, so dass die aufgeblähte Nachfrage in großem Stile in Importe floss anstatt die heimische Wirtschaft zu stimulieren.
Ein weiterer Unterschied: Keynes ging von homogenen Staatsgebilden aus. England, die USA und Co. konnten „durchregiert” werden. Das erhöhte die Wirkung der Geld- und Fiskalpolitik.
In Euroland aber gibt es gerade keine Fiskalunion. Die bestehenden Verträge (Maastricht, Lissabon) wurden laufend gebrochen und die Auflagen der Troika nur zögerlich und unvollständig umgesetzt, wie etwa der enttäuschende Verlauf des griechischen Privatisierungsprogramms belegt.
Auch die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte hinsichtlich zukünftiger Zins-, Inflations- und Einkommensentwicklung sind in der Kakophonie der Eurozone viel heterogener als zu Keynes´ Zeiten und erschweren damit eine glaubwürdige Globalsteuerung.
Preisstabilität adé
Gerade an den Erwartungen will aber die Geldpolitik verstärkt ansetzen. Der EZB ist sehr wohl bewusst, dass der Nominalzins nicht tiefer als null sinken kann. Nur unter dem Einsatz von Strafzinsen können Nominalzinsen gelegentlich ins Minus abgleiten.
Anders die Realzinsen: Sie können sehr wohl negativ werden. Definiert man den Realzins als Differenz zwischen Nominalzins und Inflationserwartungen, so besteht keynesianische Geldpolitik 3.0 fortan darin, möglichst hohe Inflationserwartungen zu wecken.
Nobelpreisträger Paul Krugman, unverdrossener Anhänger expansiver Geldpolitik, fordert, „…the central bank must credibly promise to be irresponsible”.
Eine verantwortungslose EZB soll also, statt für Preisstabilität zu sorgen, den Bürger beunruhigen, damit er schnell noch mehr ausgibt, damit die Investoren, geblendet von der Aussicht auf ein Wegschmelzen ihrer realen Schulden, investieren auf Teufel komm raus. Makroökonomische Energiewende: Die moderne Geldtheorie hat das Strohfeuer als Wärmequelle entdeckt.
Reaktionen auf EZB-Zinssenkung und Wertpapierkäufe
Die EZB senkt im Kampf gegen eine drohende Deflation ihren Leitzins überraschend auf das neue Rekordtief von 0,05 Prozent. Der Schlüsselsatz für die Versorgung des Bankensystems mit Zentralbankgeld lag seit Juni bei 0,15 Prozent. In der anschließenden Pressekonferenz kündigte Zentralbank-Chef Mario Draghi zudem an, dass die EZB sogenannte Kreditverbriefungen (ABS) sowie Pfandbriefe aufkaufen wird. Ökonomen und Händler sagten dazu in ersten Reaktionen:
"Die EZB hatte ihr Pulver schon viel zu früh verschossen und die Zinsen zu weit gesenkt. Jetzt ist sie in der Liquiditätsfalle. Sie kann an dieser Stelle kaum noch etwas tun. Bedauerlicherweise deutet sich auch der Kauf von Anleihen durch die EZB an. Damit würde sie das Investitionsrisiko der Anleger übernehmen, wozu sie nicht befugt ist, weil es sich dabei um eine fiskalische und keine geldpolitische Maßnahme handelt. Eine solche Politik ginge zulasten der Steuerzahler Europas, die für die Verluste der EZB aufkommen müssten."
"Die Notenbanker argumentieren mit den zuletzt schwachen Konjunkturdaten und der geringen Inflation. Auch die gesunkenen mittelfristigen Inflationserwartungen wurden thematisiert. In diesem Zusammenhang wurden auch die Projektionen für Wachstum und Inflation in diesem Jahr nach unten angepasst. Insofern bleibt die Tür für weitergehende Lockerungsschritte weit geöffnet."
"EZB-Chef Mario Draghi hat geliefert, warum auch immer. Für uns ist das nicht gerade eine glückliche Maßnahme. Alle Banken und Vermögensverwalter sind jetzt in noch größerer Not, ihre Liquidität irgendwo zu parken, ohne bestraft zu werden. Auch die Sparer dürften sich verraten fühlen und werden immer mehr ins Risiko gezwungen."
"Die ökonomischen Wirkungen der heutigen Zinssenkung sind vernachlässigbar. Die EZB hat sich im Vorfeld der Zinsentscheidung unnötig unter Zugzwang gesetzt. Die Gefahr, dass der Euro-Raum in eine gefährliche Deflationsspirale rutscht, ist nach wie vor gering. Auf der anderen Seite wächst mit den Aktivitäten der EZB die Gefahr, dass die in mehreren Euro-Ländern dringend erforderlichen Wirtschaftsreformen weiter verschleppt werden."
"Das ist überraschend. Eine Zinssenkung hatte niemand so richtig auf der Agenda - zumal sie konjunkturell nichts bringt und verpuffen wird. Die Deflationsgefahr lässt sich damit nicht vertreiben. Dazu bedarf es eher eines Anleihen-Kaufprogramms. Die EZB signalisiert mit ihrer Maßnahme aber, dass sie sehr weit zu gehen bereit ist. Das ist eher ein symbolischer Schritt. Die realwirtschaftlichen Folgen sind bescheiden."
"Beginnt jetzt auch EZB-Chef Mario Draghi damit, Geld aus dem Hubschrauber abzuwerfen? Wenn Draghi um 14.30 Uhr mit der Pressekonferenz beginnt, wissen wir mehr. Dann wird sich zeigen, ob die Zinssenkung nur das Vorspiel für weiteres geldpolitisches Feuerwerk sein wird oder er damit den bequemsten Weg wählte, um unkonventionelle Maßnahmen in großem Stil ohne Gesichtsverlust abzuwenden."
"Das war schon eine heftige Überraschung, mit einer Zinssenkung hat kaum einer gerechnet. Bei der Senkung der Zinsen handelt es sich zwar nur noch um Nuancen, aber das ist ein wichtiges Signal an die Kapitalmärkte, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, was nötig ist."
Leider hat das Ganze gleich mehrere Haken. So stehen die unterschiedlichen Bedingungen im Süden und Norden von Euroland einer einheitlichen Erwartungsbildung entgegen. Denn im Süden, wo Arbeitslosigkeit herrscht oder droht, wo Immobilien zwangsversteigert werden, wo Schuldenabbau unumgänglich ist: wo sollen da hohe, inflationstreibende private und öffentliche Ausgaben herkommen?
Im Norden ist es der Sparer, der den Geldpolitikern einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Angesichts der demographischen Misere ist private Altersvorsorge das Gebot der Stunde. Pro 100 Euro Zusatzrente muss nämlich immer mehr beiseite gelegt werden, je niedriger der (Real-)Zins ausfällt. Ein 35-Jähriger, der eine monatliche Zusatzrente von 600 Euro ab dem 65. Lebensjahr anstrebt, muss bei zwei Prozent realer Verzinsung monatlich 242 Euro zur Seite legen; bei minus ein Prozent (Inflation um einen Prozentpunkt höher als Nominalzins) jedoch schon 513 Euro, mehr als das doppelte. Bereits einmal, zwischen 2000 und 2005, kam es in Deutschland trotz historisch niedriger Realzinsen zu einem Anstieg der Sparquote.
Umverteilung vom privaten Sektor zur öffentlichen Hand
Sollte die erwartete Inflation eintreten, findet eine gigantische Umverteilung von privat zu Staat statt: die Geldvermögen der Privaten werden real ebenso entwertet wie die Schulden der öffentlichen Hand. Obendrein begünstigt eine (progressive) nominalwertbasierte Besteuerung der Arbeits- und Kapitaleinkommen die öffentliche Hand.
Selbst wenn es der Notenbank gelingen sollte, Inflationserwartungen zu wecken, ist nicht gewährleistet, dass gewünschte Ausgaben auch finanziert werden. In Zeiten der Inflation wächst im Allgemeinen die Unsicherheit. Daher werden Banken erhöhte Risikoprämien in ihre Kredite einpreisen und die Kreditvergabe tendenziell drosseln.
Banken könnten stattdessen, wie jetzt schon, Vermögensgüter erwerben und die Vermögenspreise nach oben treiben. Wenn indes die Konsumentenpreise nur verhalten reagieren, würde ein wichtiger Impuls für die Unternehmer, mehr zu produzieren, wegfallen. Bei einer Inflation „mit Ansage“ reagieren die Tarifparteien und fordern höhere Löhne ein, so dass keine Mehrbeschäftigung durch niedrigere Reallöhne (gleiche Geldlöhne bei höheren Produktpreisen) zustande kommt.
Der Chefvolkswirt des IWF, Oliver Blanchard, sagte über das Spiel mit den Inflationserwartungen, dies sei alles andere als eine sichere Sache. Die Wirkung einer entfesselten keynesianischen Geldpolitik ist nicht nur höchst ungewiss, sie droht auch mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Wie immer, wenn die Verabreichung eines Medikaments auf einer fehlerhaften Diagnose beruht.