In seinem Rücktrittsschreiben nahm Rishi Sunak kein Blatt vor den Mund: „Ein Ministeramt zu verlassen ist eine ernste Angelegenheit. Zurückzutreten, während die Welt unter den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und anderen gravierenden Herausforderungen leidet, ist mir nicht leichtgefallen.“ Die Öffentlichkeit erwarte jedoch „zu recht eine ordnungsgemäße, kompetente und seriöse Regierungsführung.“ Er glaube daran, dass es sich lohne, für diese Standards zu kämpfen. „Und deshalb trete ich zurück.“
Mit seinem Rücktritt vom Posten des Schatzkanzlers, zog Sunak offenbar einen persönlichen Schlussstrich unter die nicht endenden Skandale um Premier Boris Johnson. Nach Lockdown-Partys in der Downing Street, goldenen Tapeten in Johnsons Dienstwohnung, die ein Tory-Parteispender bezahlt hat und zahlreichen weiteren Affären, Unwahrheiten und Ungereimtheiten kam zuletzt ein Aufschrei um die Besetzung eines Spitzenpostens innerhalb der Regierung hinzu, bei dem Johnson Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens ignoriert (und darüber gelogen) hat.
Im Lauf des Dienstags traten auch Gesundheitsminister Sajid Javid und acht weitere Amtsträger in geringeren Posten zurück. Die Rücktrittswelle, die sich am nächsten Tag fortsetzte, besiegelte dann auch das politische Schicksal des Skandalpremiers mit dem Hang zur Unwahrheit.
Noch vor wenigen Monaten hätte allein Sunaks Rücktritt Johnson vermutlich den Todesstoß versetzt. Noch zum Jahresbeginn war der Schatzkanzler der mit Abstand beliebteste britische Politiker. In einem potentiellen Rennen um den Posten des Premiers war er einer der Favoriten. Die britische Öffentlichkeit sah in dem stets adrett gekleideten Ex-Banker einen Retter in der Not: Während Johnson die Öffentlichkeit mit seiner oft chaotischen Antwort auf die Pandemie zunehmend verärgerte, griff Sunak den britischen Haushalten und der Wirtschaft finanziell unter die Arme. Das war bitter notwendig, schließlich verfügt Großbritannien heute nur über eingeschränkte soziale Sicherungssysteme.
Als das Schatzamt im Sommer 2020 auch noch begann, im großen Stil Restaurantbesuche zu bezuschussen (Restaurantbesucher konnten bis zu 10 Pfund pro Besuch sparen), fanden die Zeitungen des Landes schnell den passenden Spitznamen für den Politiker: „Dishy Rishi“. „Dishy“ bedeutet dabei zugleich „attraktiv“ und ist ein Wortspiel mit „dish“ – Gericht.
Doch seitdem hat Sunak viel von seinem Superstar-Status eingebüßt. Sein Frühjahrshaushalt, den er im März vorstellte, war phantasielos und enthielt kaum etwas, um den explodierenden Lebenshaltungskosten entgegenzuwirken. Im April wurde dann bekannt, dass Sunaks Frau Akshata Murthy, Tochter eines indischen IT-Milliardärs, einen äußerst umstrittenen Steuerstatus besaß, der es ihr erlaubte, in Großbritannien keine Steuern auf Einkommen aus dem Ausland zu zahlen. Die BBC schätzte, dass sie damit mehr als zwei Millionen Pfund an britischen Steuern im Jahr sparte. Der Vorfall sorgte für einen wohlverdienten Aufschrei. Murthy gab sich reuig und erklärte, sie werde in Zukunft auch ihr Einkommen im Ausland in Großbritannien versteuern. Ein wütender Sunak leitete eine Untersuchung ein, die klären sollte, wie Informationen über den Steuerstatus seiner Frau an die Öffentlichkeit gelangen konnten.
Etwa zur selben Zeit wurde bekannt, dass Sunak selbst dann noch eine amerikanische Arbeitserlaubnis (Green Card) besaß, die ihn als in den USA ansässig auswies, als er bereits mehr als ein Jahr lang Schatzkanzler war. Ein gravierender Fauxpas. Die Seifenblase vom neuen Star am britischen Politikhimmel platzte endgültig.
Die Skandal-Chronik von Boris Johnson und seiner Regierung
28. April: Die britische Wahlkommission leitet eine förmliche Untersuchung der Finanzierung der Renovierung von Johnsons Wohnung in der Downing Street ein und begründet dies mit dem Verdacht, dass eine Straftat begangen worden sein könnte.
26. Oktober: Dem konservativen Abgeordnete Owen Paterson aus dem ländlichen North Shropshire droht eine 30-tägige Suspendierung. Das Komitee zur Wahrung der Standards kommt zu dem Schluss, dass Paterson sich für Lobby-Arbeit hat bezahlen lassen und damit die Statuten missachtet hat.
3. November: Die Regierung stimmt für eine Aufweichung der Regeln des Parlaments im Kampf gegen Korruption. Das könnte einen Abgang von Paterson verhindern. Der Vorstoß löst jedoch eine Debatte über Integrität unter der Führung Johnsons aus. Die Opposition wirft den Konservativen Korruption vor.
4. November: Nach massiven Unmut in der eigenen Partei lässt die Regierung ihre Pläne zur Änderung der Statuten fallen. Der konservative Abgeordnete Owen Paterson tritt zurück, womit eine Nachwahl in seinem Wahlkreis in North Shropshire nötig wird.
22. November: Bei einer Rede verheddert sich Johnson in seinem Manuskript. Stattdessen erzählt er von seinem jüngsten Besuch in einem Themenpark für Kinder. Er ist an die erfolgreiche Zeichentrick-Serie Peppa Pig (deutsch: Peppa Wutz) über ein Schweinemädchen angelehnt. Den anwesenden Wirtschaftsvertretern erzählt er, dass alle so wie er am Vortag dem Park einen Besuch abstatten sollten.
Und weiter: „Ich fand es toll. Peppa Pig World ist nach meinem Geschmack: Es gibt sichere Straßen und Disziplin an den Schulen.“ Seine Führung gerät erneut in die Kritik. Nachfragen von Reportern tut er ab: „Ich glaube, die Menschen haben die meisten meiner Botschaften verstanden. Das lief sehr gut.“
30. November: Die Zeitung „The Mirror“ berichtet über eine Weihnachtsfeier im Dezember 2020 - der erste solche Bericht über Zusammenkünfte während des ersten Lockdowns in Regierungsbüros und Johnsons Büro am Amtssitz Downing Street. Zu der Zeit waren in England Kontakte stark eingeschränkt.
7. Dezember: ITV veröffentlicht ein Video, in dem Mitarbeiter eine Pressekonferenz nachstellen und sich darüber lustig machen, wie sie eine Zusammenkunft in Downing Street erklären sollen. Nur Stunden zuvor hatte Johnson vor Reportern erklärt, dass er sehr zufrieden sei, dass keine Corona-Beschränkungen missachtet wurden.
8. Dezember: Johnson entschuldigt sich für ein Video in dem Mitarbeiter eine Pressekonferenz nachstellen und sich darüber lustig machen, wie sie eine Zusammenkunft in Downing Street erklären sollen. Er erklärt, es mache ihn wütend. Seine Sprecherin und Beraterin, Allegra Stratton, die selbst in dem Video zu sehen ist, tritt zurück.
9. Dezember: Die Konservative Partei wird von der Wahlaufsicht zu einer Strafe von 17.800 Pfund (umgerechnet rund 21.000 Euro) verdonnert. Der Partei wird vorgeworden, eine Spende nicht ordnungsgemäß angegeben zu haben, mit deren Hilfe die Renovierung des Dienstsitzes Downing Street finanziert wurde. Dies warf die Frage wieder auf, wer für die Arbeiten aufgekommen ist. Medienberichten zufolge hat die Renovierung Hunderttausende Pfund gekostet.
14. Dezember: Johnson sieht sich mit einer regelrechten Revolte in den eigenen Reihen konfrontiert. Fast 100 Tory-Abgeordnete im Unterhaus stimmen gegen die von ihm geforderten neuen Regeln zur Eindämmung der Pandemie. Versuche hinter den Kulissen, die Tory-Abweichler doch noch auf Kurs zu bringen, scheitern. Die Schlappe schürt Zweifel an Johnsons Stellung in der Partei.
17. Dezember: Der Chef der laufenden Regierungsermittlungen zu möglichen Corona-Verstößen bei unzulässigen Weihnachtsfeiern, Simon Case, tritt zurück. Case habe sich zurückgezogen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Untersuchung zu bewahren, teilt das Büro von Johnson mit. Case, der höchste britische Beamte, war selbst in die Kritik geraten, nachdem britische Medien berichtet hatten, dass es in seiner Abteilung im Dezember 2020 Zusammenkünfte gegeben haben soll.
18. Dezember: Der britische Brexit-Minister David Frost tritt mit sofortiger Wirkung zurück. Als Grund gibt er Sorgen um den Kurs der Regierung an. Laut der Zeitung „Mail on Sunday“ war Frost über Johnsons politische Entscheidungen frustriert, darunter auch die Corona-Beschränkungen.
19. Dezember: Die Tageszeitung „The Guardian“ veröffentlicht ein Foto von Johnson und mehr als ein Dutzend weiterer Personen beim Weintrinken im Garten von Downing Street. Das Foto soll am 15. Mai 2020 entstanden sein – also ebenfalls während des ersten Lockdowns. Auf dem Foto ist Johnson an einem Tisch auf der Terrasse sitzend zu sehen, vor sich ein Glas Wein. Neben ihm sitzt seine Lebensgefährtin Carrie mit dem gemeinsamen, neugeborenen Sohn im Arm.
10. Januar: Der Sender ITV veröffentlicht eine E-Mail von Johnsons Privatsekretär, in der er für den 20. Mai 2020 über 100 Mitarbeiter zu einer Gartenparty am Amtssitz Downing Street 10 einlädt. Den Alkohol möge jeder selbst mitbringen. Dem Sender zufolge waren Johnson und seine damalige Lebensgefährtin und jetzige Ehefrau Carrie unter den etwa 40 Gästen.
12. Januar: Johnson räumt ein, an einer Gartenparty am 20. Mai 2020 teilgenommen zu haben. Er entschuldigt sich im Parlament. Er sei davon ausgegangen, dass es sich um eine Arbeitsbesprechung gehandelt habe. Er sei für etwa 25 Minuten dabei gewesen, um Mitarbeitern zu danken. Im Nachhinein hätte er alle wieder reinschicken sollen, sagt Johnson.
1. Juli: Konservative suspendieren den Abgeordneten Christopher Pincher, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Zuvor hatte er seinen Rücktritt als stellvertretender parlamentarischer Geschäftsführer eingereicht.
5. Juli: Johnson entschuldigt sich im Fernsehen für seinen Umgang mit dem Fall des Konservativen Christopher Pincher, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Zuvor hatte ein ehemaliger hochrangiger Beamter des Außenministeriums Johnsons Büro vorgeworfen, gelogen zu haben mit der Behauptung, der Premier habe von Beschwerden über sexuelles Fehlverhaltens des Tory-Abgeordneten nichts gewusst.
Ebenfalls am 5. Juli: Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid treten zurück. Sie sprechen Johnson die Fähigkeit ab, eine Verwaltung zu führen, die sich an Standards hält. Auch mehrere Staatssekretäre treten zurück oder kündigen ihren Abgang an.
7. Juli: Der britische Nordirland-Minister Brandon Lewis und der Staatsminister für Sicherheit, Damian Hinds, erklären ihren Rücktritt – genau wie die erst kurz zuvor ernannte neue Bildungsministerin Michelle Donelan. Insgesamt sind damit mehr als 50 Minister und führende Regierungsmitarbeiter aus Protest gegen Johnson und die Skandale zurückgetreten.
Johnsons endlosen Skandale waren wohl der endgültige Anlass für Sunaks Rücktritt. Gebrodelt hat es allerdings schon vorher. Schon seit Monaten berichten Insider über Streit zwischen dem Schatzkanzler – der sich gerne als Verehrer der Eisernen Lady Margaret Thatcher gibt – und dem Premier, der bei den Wahlen 2019 zahlreiche Sitze im zuvor tiefroten Nordengland gewonnen und den Menschen dort einen Wiederaufbau ihrer wirtschaftlich abgehängten Regionen versprochen hat.
Der Streit darüber ist zuletzt offenbar eskaliert. So schrieb Sunak in seinem Rücktrittsschreiben über die „Opfer“ und „schwierigen Entscheidungen“, die aus seiner Sicht getroffen werden müssten. „In Vorbereitung auf unsere geplante gemeinsame Rede zur Wirtschaft kommende Woche ist mir klar geworden, dass unsere Ansätze grundlegend zu unterschiedlich sind.“
Mit seiner Rückbesinnung auf niedrige Steuern und öffentliche Sparmaßnahmen könnte Sunak nun im Rennen um Johnsons Nachfolge gute Karten haben. Von den ersten Kandidaten hat sich nun eine Gegnerin herausgefiltert: Außenministerin Liz Truss.
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Denn darüber, wer Parteichef und somit Premierminister wird, entscheidet bei den Tories die Basis. Und die ist überwiegend im vorgerückten Alter, männlich, gut situiert und extrem konservativ. Ein Thatcher-Fan, der seinen Posten als Schatzkanzler aufgegeben hat, weil die Regierung aus seiner Sicht zu spendabel war, dürfte in diesen Kreisen gut ankommen.
Kritiker haben jedoch schon vor Sunaks Absturz im öffentlichen Ansehen in den vergangenen Monaten davor gewarnt, dass mit dem Ex-Banker und ehemaligen Hedgefonds-Manager ein Finanzlobbyist ins höchste Regierungsamt gelangen könnte. Denn während Vertreter anderer Wirtschaftszweige oft um Termine im Schatzamt ringen mussten als Sunak dort das Sagen hatte, gaben sich dort Berichten zufolge die Chefs von Großbanken und Finanzlobbyisten die Klinke in die Hand.
Zudem trieb Sunak umstrittene Steuererleichterungen für Banken voran, während auf Unternehmen und Arbeitnehmer höhere Abgaben zukamen. Und Sunak arbeitete als Schatzkanzler an den Lockerung vieler Finanzmarktregeln, worauf vor allem die milliardenschweren großen Tory-Parteispender drängten. Dabei sind die dazu gedacht, Finanzkrisen zu verhindern.
Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 6. Juli bei der WirtschaftsWoche. Er wurde am 20. Juli redaktionell aktualisiert.
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