Roger Boyes "Die meisten glauben: Europa ist ein Gefängnis"

Sein Kopf sagt: bleiben, sein Herz: gehen. Roger Boyes, früherer Deutschland-Korrespondent der "Times", erklärt, warum die Briten sich neu erfinden müssen – und das am besten außerhalb der EU.

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Quelle: imago images

Noch eine Woche bis zur Abstimmung. Ist den Briten bewusst, dass diese Wahl historisch wird?
Es wird ihnen langsam klar. Das Problem ist, wie polemisch die Debatte geführt wird. Die, die bleiben wollen, probieren es mit der Angst. Sie sprechen von einer drohenden Apokalypse, wenn wir die EU verlassen. Die Leute merken, dass das eine Kampagne des Establishments ist. Die britische Regierung argumentiert so, die EU sowieso, US-Präsident Barack Obama und der Internationale Währungsfonds ebenfalls – fast das ganze Ausland. Das macht viele misstrauisch.

'Please don’t go' stand auf dem Titel des "Spiegel". Wie werden solche Wortmeldungen aus dem Ausland, speziell aus Deutschland wahrgenommen?
Wir fühlen uns geschmeichelt, dass die Deutschen uns schätzen. Aber letztlich schadet es eher. Als Obama sagte, Großbritannien müsse warten und sich hinten anstellen, wenn es die EU verlässt, fanden die meisten das arrogant. Viele Briten fühlen sich gemobbt.

Zur Person

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat die Briten gewarnt und sagt, eine Sonderrolle nach dem Vorbild Schweiz oder Norwegen könne nicht funktionieren.
Das ist seine persönliche Meinung, er spricht nicht für die EU. Solche Einwürfe helfen uns nicht weiter.

Aus deutscher Sicht gibt es keine nachvollziehbaren Gründe für den Brexit. Ökonomisch wäre er für alle schlecht. Warum wollen viele Briten das nicht sehen?
Für viele Briten sind die Argumente nicht so klar – vor allem beim Thema Zuwanderung. Die Pro-Brexit-Kampagne verspricht den Wählern, dass wir die Kontrolle zurückbekommen – über die Wirtschaft und die Zuwanderung. Das ist für viele ein wichtiges Argument. Ob das wirklich so passieren würde, ist eine ganz andere Frage.

Laut Umfragen sind viele noch unentschieden.
Interessanterweise finden sich die meisten unentschiedenen Wähler im linken Spektrum. Die Labour Party war unter Premierminister Tony Blair zwar pro europäisch. Davor hatte sie aber eine lange euroskeptische Tradition. Europa wurde als Club der Ausbeuter und Kapitalisten gesehen. Dieser ideologische Widerstand beim linken Flügel der Arbeiterpartei tritt jetzt wieder offen zu Tage.

Jeremy Corbyn, Chef der Labour Party, will in der EU bleiben.
Aber nur widerwillig. Er wackelt ziemlich, weil seine Partei in einigen Regionen von Ukip, der Anti-Einwanderungspartei, schwer unter Druck gesetzt wird.

Für David Cameron, Premierminister und Chef der Konservativen, geht es um alles. War das Referendum die richtige Entscheidung?
Aus seiner Sicht war es dämlich – und zwar aus drei Gründen. Erstens: Er will durch das Referendum politischen Gestaltungsspielraum zurückgewinnen und die Europaskeptiker in seiner Partei besänftigen. Das hat die Öffentlichkeit aber sofort durchschaut. Er hat, zweitens, mit der EU über Zugeständnisse verhandelt, die letztlich nichts wert sind und das auch noch als großen Erfolg verkauft. Und drittens: Während den Verhandlungen mit der EU hat er angedeutet, Großbritannien könne auch außerhalb der EU existieren. Jetzt kämpft er für das glatte Gegenteil und will eine Katastrophe abwenden. Das hat seiner Glaubwürdigkeit enorm geschadet.

"Deutschland würde schnell mit uns ein Handelsabkommen abschließen"

Muss er zurücktreten, wenn die Briten die EU verlassen wollen?
Das ist dann eine Frage der Zeit. Womöglich ruft er Neuwahlen aus und tritt nicht wieder an. Jedenfalls wird er sich nicht halten können, wenn der Brexit kommt. Und selbst wenn er das Referendum gewinnt, ist er geschwächt.

Wieso das?
Wir Briten empfinden bekanntlich keine oder nur wenig Leidenschaft für dieses Europa. Wenn wir drin bleiben, hat Cameron eine Mehrheit erfolgreich überzeugt, gegen die Apokalypse zu stimmen, die aus seiner Sicht sonst droht. Das Problem ist das Bild dahinter. Die meisten glauben: Niemand kann die EU verlassen, Europa ist ein Gefängnis.

Die Frage der EU-Mitgliedschaft kommt immer wieder hoch. Ist es nicht legitim, die Bevölkerung über eine so wichtige Frage abstimmen zu lassen?
Natürlich ist es legitim. Und vom Grundsatz her finde ich die Idee gut. Cameron stellt die Frage aber mit der Absicht, sie danach nie wieder stellen zu müssen. Das ist naiv, denn ein Teil der Bevölkerung wird sich nie mit der EU anfreunden. Egal wie das Referendum ausgeht - wir werden noch europaskeptischer sein als vorher.

Die ältere Generation ist laut Umfragen eher für den Brexit, die jüngeren dagegen. Können die Kinder und Enkel ihre Eltern und Großeltern überzeugen?
Das Uni-Semester ist jetzt vorbei, viele fahren nach Hause. Und natürlich werden sie mit ihren Eltern und Großeltern diskutieren. Wer sich dabei durchsetzt, wage ich nicht zu prognostizieren.

Wie ist es bei Ihnen persönlich – raus aus der EU oder bleiben?
Mein Kopf sagt mir, wir sollten bleiben. Mein Herz sagt: gehen.

Was spricht für Sie dafür zu gehen?
Wir sind mittlerweile eine verstaubte Gesellschaft. Wir müssen uns dringend ändern. Ich glaube, dass wir den Schock brauchen, damit wir uns ändern können. Wir müssen eine soziale Revolution aus eigener Kraft schaffen, um wettbewerbsfähig und smart zu bleiben.

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Der Schock träfe doch aber vor allem die Finanzmärkte.
Vielleicht ja, vielleicht nein. Die City of London ist gespalten. Die Hedgefonds sind für einen Brexit, die Investmentfonds dagegen. Der Pfund würde wohl fallen, was unserer Wirtschaft aber gar helfen dürfte.

Großbritannien müsste ziemlich viele Handelsabkommen neu verhandeln.
Das besorgt mich nicht. Deutschland würde ziemlich schnell eines mit uns abschließen. Wir sind in Europa der Hauptabnehmer für deutsche Autos. Ihr habt also ein Interesse an einem Abkommen mit uns. Wenn der Brexit kommt, wird alles deutlich weniger dramatisch als gedacht.

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