Eigenlob ist das schönste Lob. Das dürfte sich auch Angela Merkel gedacht haben, als sie Anfang vergangener Woche nach siebenstündigen Beratungen den Fiskalpakt für die Länder der EU in Brüssel präsentierte. Der Vertrag, der die Länder Europas zu mehr Haushaltsdisziplin verpflichten soll, sei eine „Meisterleistung“, ein „wichtiger Schritt zu einer Stabilitätsunion“, freute sich die deutsche Bundeskanzlerin.
Merkels Worte waren noch nicht verhallt, da spottete Italiens Regierungschef Mario Monti schon, der Vertrag sei nicht mehr als „ein hübscher Singvogel“. Tatsächlich haben die Vertreter aus dem Mittelmeerraum, allen voran Monti und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, die im Pakt verlangten Stabilitätsauflagen derart aufgeweicht, dass sie ihnen kaum noch schaden können. Automatische Sanktionen, wie sie Merkel für Defizitsünder durchsetzen wollte, sind so gut wie vom Tisch.
Frisches Geld gegen die Krise
Auch vor den Kapitalmärkten, die unsolide wirtschaftende Regierungen mit hohen Zinsen für Kredite bestrafen, müssen sie sich nicht mehr fürchten. Das haben sie vor allem einem Mann zu verdanken: Mario Draghi. Der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) hat die Notenpresse angeworfen, um die Staatsschulden der Krisenländer mit frischem Geld zu finanzieren. Doch nicht etwa, indem er den Finanzministern die Staatsanleihen direkt abkauft. Weil das der EZB per Gesetz untersagt ist, hat Draghi die Banken dazwischengeschaltet. Im Dezember pumpte er fast 500 Milliarden Euro frisches Geld in das Finanzsystem. Als Hilfe für die notleidenden Geldhäuser deklariert, legten diese die vielen Milliarden Euro unter dem Druck ihrer Regierungen zu einem erheblichen Teil auch in Anleihen der Krisenländer an. Mit dem Rest finanzierten sie die klaffenden Löcher in den Leistungsbilanzen ihrer Länder und die Kapitalflucht ihrer Bürger in sichere Häfen wie Deutschland und die Niederlande.
An den Finanzmärkten hat der Geldregen aus Frankfurt für ausgelassene Stimmung gesorgt. Der deutsche Aktienindex kennt seit Wochen nur noch eine Richtung: nach oben. Die Versicherungsprämien für den Ausfall von Bankenanleihen sind gesunken, und wichtige Frühindikatoren für die Konjunktur, wie der ifo-Geschäftsklimaindex, haben nach oben gedreht.
Doch der monetäre Vitaminstoß, den Draghi den Märkten verpasst hat, „übertüncht die Probleme der Krisenländer nur“, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Die EZB könne die Ursachen der Staatsschuldenkrise nicht lösen. „Das“, so Krämer, „können nur die Peripherieländer selbst – mit harten Reformen.“
Reformen dringend benötigt
Doch ob Monti und Griechenlands Premier Lucas Papademos mit dem billigen Geld im Rücken den Willen zu harten Reformen zeigen, ist zweifelhaft. Immerhin konnten sie zuletzt zu akzeptablen Zinsen frisches Geld aufnehmen. „Das Anwerfen der Notenpresse untergräbt die Reformbereitschaft der Krisenländern“, kritisiert Thorsten Polleit, Chefökonom von Barclays Capital.
Bleiben die Reformen aus, gerät die EZB unweigerlich unter Druck, die Staatsschulden und Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer dauerhaft mit der Notenpresse zu finanzieren. Das aber würde mittelfristig die Inflation in die Höhe treiben und die ohnehin schon großen Risiken für die deutschen Steuerzahler, die sich bald wohl auf 785 Milliarden Euro summieren, weiter anschwellen lassen. Deutschland sitzt in der Euro-Falle.
Der Wind hat sich gedreht
Hatte es nach Einführung des Euro noch so ausgesehen, als trete die EZB in die stabilitätspolitischen Fußstapfen der Deutschen Bundesbank, so hat sich der Wind nach Ausbruch der Finanzkrise gewaltig gedreht. Aus Furcht, die Schuldenkrise in Griechenland könne die Währungsunion zerreißen, entschied die EZB im Frühjahr 2010 – gegen den Widerstand der Bundesbank – Griechen-Bonds am Sekundärmarkt zu kaufen. „Die Europäische Zentralbank hat sich in den Dienst der Politik gestellt, sie ist zu einer Unterabteilung der Finanzministerien verkommen“, kritisiert Barclays Chefökonom Polleit.
Tatsächlich haben die Notenbanker bisher für knapp 220 Milliarden Euro Staatsanleihen gekauft, nicht nur aus Griechenland, auch aus den anderen Krisenländern der Euro-Zone. Im Gegenzug haben sie Zentralbankgeld in das Bankensystem gepumpt. Zwar bietet die EZB den Banken regelmäßig verzinste Termineinlagen an, um den Abfluss des frisch gedruckten Geldes in die Wirtschaft zu stoppen. Doch wie lange sich die Banken auf diese Geschäfte einlassen, ist offen. Zieht die Konjunktur an, könnten die Banken auf die Einlagen bei der EZB pfeifen und das Geld für rentablere Kredite an Unternehmen und Häuslebauer verwenden.
Der Machtzirkel der Geldpolitik
Der Wandel der EZB vom Geldwächter zum Finanzier der Regierungen spiegelt sich in der personellen Aufstellung im Frankfurter Eurotower wider. Seit dem altersbedingten Ausscheiden des ersten Chefvolkswirts Otmar Issing und seines Nachfolgers Jürgen Stark, der aus Protest gegen den Ankauf von Staatsanleihen seine Demission einreichte, ist die EZB stabilitätspolitisch entkernt.
Im EZB-Direktorium, dem Machtzirkel der Geldpolitik, geben seither die Vertreter der Südländer und Weichwährungsapologeten den Ton an. Seit Herbst vergangenen Jahres herrscht der Italiener Mario Draghi in der Frankfurter Kaiserstraße. Zwar zog zum Jahresbeginn der frühere deutsche Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen in das EZB-Direktorium ein. Doch dort muss er sich um die internationalen Beziehungen, die Rechtsabteilung und den Neubau der EZB-Zentrale kümmern. Vor allem Letzteres ist eine unbefriedigende Aufgabe. Von seinem Vorgänger Lorenzo Bini Smaghi hieß es auf den Fluren der Bank, er sei damit beschäftigt, „die Kacheln für die neuen Räume auszusuchen“.
Deutlich mehr Einfluss auf die Rolle der EZB als Finanzier der Regierungen hat der Franzose Benoît Cœuré. Der Ex-Chef der französischen Schuldenagentur ist für das milliardenschwere Anleihekaufprogramm zur Stützung der Euro-Krisenstaaten zuständig. Cœuré hat sich bereits dafür ausgesprochen, die Anleihekäufe auszuweiten.
Kein Widerstand zu erwarten
Vom neuen Chefvolkswirt, dem Belgier Peter Praet, ist bekannt, dass er kein vehementer Gegner von Anleihekäufen ist – und trotz einiger kritischer Nachfragen dafür gestimmt hat. Zwar ist mit Wolfgang Schill ein Deutscher zweitmächtigster Mann in der Abteilung Volkswirtschaft. Auch Hans-Joachim Klöckers und Klaus Masuch haben dort großen Einfluss. Es ist jedoch bekannt, dass sie Anleihekäufen offen gegenüberstehen.
Daher hat Draghi keinen großen Widerstand zu fürchten, wenn er die Notenpresse anwirft und den notleidenden Regierungschefs in den Krisenländern mit frischem Geld unter die Arme greift. Zumal er extrem geschickt vorgeht. Sein Meisterstück lieferte der ehemalige Goldman-Sachs-Manager mit dem Drei-Jahres-Tender im Dezember ab. Allein italienische Geldhäuser liehen sich rund 116 Milliarden Euro bei der EZB.
Dass sie das überhaupt konnten, verdankten sie dem geschickten Spiel über Bande zwischen Draghi und dem italienischen Regierungschef. Weil die italienischen Banken nicht mehr genug Wertpapiere besaßen, die sie als Sicherheiten für die Geldleihe bei der EZB einreichen konnten, gaben sie kurzerhand eigene Anleihen aus, die die Regierung Monti mit einer staatlichen Garantie ausstattete. So erfüllten die Papier die Voraussetzung, um als Pfand bei der EZB eingereicht zu werden. Insgesamt hinterlegten die italienischen Banken staatlich garantierte Anleihen von 40 Milliarden Euro für die dreijährige Geldleihe bei der EZB.
Auftakt zur Geldschwemme
Das aber dürfte erst der Auftakt zur großen Geldschwemme gewesen sein. Für Ende Februar hat Draghi ein zweites Geldleihgeschäft über drei Jahre angekündigt. Wieder dürfen sich die Banken bei der EZB unlimitiert mit Geld vollsaugen. Die britische Wirtschaftszeitung „Financial Times“ berichtete in der vergangenen Woche, die Banken planten, sich dann doppelt so viel Geld bei der EZB abzuholen wie im Dezember. „Im Februar könnte es leicht eine Billion Euro werden, und wenn sich die Lage an den Märkten verschlechtert, könnte es noch mehr werden“, zitierte die „FT“ einen Banker von Goldman Sachs.
Faule Kredite
Der Grund für den Gelddurst: In diesem Jahr müssen europäische Banken für mehr als 780 Milliarden Euro fällig werdende Anleihen tilgen, davon allein 220 Milliarden im ersten Quartal, und dafür neue Anleihen ausgeben. Das Problem dabei: Viele Banken, vor allem aus den Krisenländern der Euro-Zone, sind voll geladen mit faulen Krediten und stehen auf wackeligen Beinen. Am Kapitalmarkt finden sie daher kaum noch Abnehmer für ihre Anleihen. Daher sind sie darauf angewiesen, die Papiere bei der EZB gegen frisches Geld abzuladen.
Die Währungshüter haben die Tür für die Banken weit geöffnet, indem sie die Qualitätsanforderungen an die Sicherheiten für die Geldleihe drastisch reduziert haben. Akzeptierte die EZB früher nur erstklassige Staatsanleihen als Pfand, so nimmt sie mittlerweile auch einfache Bankkredite als Sicherheit an. Hinzu kommt, dass die nationalen Zentralbanken der einzelnen Euro-Länder beim nächsten großen Leihgeschäft im Februar weitestgehend selbst entscheiden können, welche Sicherheiten sie von den Geschäftsbanken akzeptieren. „Es fehlt nicht mehr viel, dann können sich die griechischen Banken gegen Klopapier als Sicherheit Geld bei ihrer Zentralbank leihen“, heißt es in Bankerkreisen.
Für die Banken ist das ein toller Deal. Sie geben eigene Anleihen aus, reichen sie bei der Notenbank als Sicherheiten ein und besorgen sich im Gegenzug Zentralbankgeld zum Minizins von einem Prozent. Mit einem Teil des Geldes tilgen sie ihre fälligen Altanleihen. Mit dem restlichen Geld kaufen sie höher verzinsliche Staatsanleihen und finanzieren die Leistungsbilanzdefizite sowie die Kapitalflucht aus ihren Ländern.
Fatale Folgen
Die volkswirtschaftlichen Folgen der Politik sind fatal. Schon das Geld aus dem Leihgeschäft im Dezember haben die Banken auf Druck ihrer Regierungen zu einem großen Teil in Staatsanleihen der Krisenländer investiert. Damit haben sie die Kurse nach oben und die Renditen nach unten gedrückt. So hat sich der Effektivzins für dreijährige italienische Staatsanleihen seit seinem Hoch im November von über 7,0 auf 3,5 Prozent mehr als halbiert, der für spanische Anleihen gleicher Laufzeit ist von 6,1 auf 2,6 Prozent gesunken.
Für die Finanzminister der Mittelmeerländer ist das eine tolle Sache, sie können sich jetzt billiger verschulden als noch vor ein paar Wochen. Doch der Reformdruck von den Märkten ist futsch. In Italien hat Monti zwar mit der Reform des Rentensystems und der Liberalisierung einzelner Branchen begonnen. Doch ob ihm auch die alles entscheidende Reform des Arbeitsmarktes gelingt, ist völlig offen. „Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die italienischen Parlamentierer ihrem Regierungschef nur folgen, wenn ihnen der Angstschweiß vor der strafenden Hand des Kapitalmarktes auf der Stirn steht“, sagt Commerzbank-Chefökonom Krämer. Das Risiko ist hoch, dass Montis Nachfolger die Zügel wieder schleifen lässt, wenn der Druck der Märkte ausbleibt. Dann dürfte rasch der Ruf nach weiteren Hilfen aus Berlin laut werden. Nicht ohne Grund macht Monti hinter den Kulissen schon seit Wochen Druck auf Angela Merkel, dem Euro-Rettungsschirm ESM mehr Geld zur Verfügung zu stellen.
Das Target-2-System
Doch während der Bundestag den Finanzhilfen für den Rettungsschirm seine Zustimmung immerhin theoretisch verweigern könnte, hat er diese Möglichkeit bei den heimlichen Hilfen für die Krisenländer, die sich über das Zahlungsverkehrssystem der Zentralbanken seit dem Ausbruch der Krise aufgebaut haben, nicht. Über dieses Target-2-System wickeln die Notenbanken des Euro-Systems grenzüberschreitende Zahlungen im Auftrag der Geschäftsbanken ab. Kauft beispielsweise ein griechischer Importeur Autos aus Deutschland oder überweist einen Teil seines Vermögens auf ein Konto bei einer deutschen Bank, so fließt das Geld über die griechische Notenbank via EZB an die Deutsche Bundesbank und von dort auf das Konto des deutschen Exporteurs beziehungsweise des griechischen Anlegers bei der deutschen Geschäftsbank.
Misstrauen unter den Banken
Um den Zahlungsvorgang abzuwickeln, benötigt die griechische Geschäftsbank Zentralbankgeld. Vor dem Ausbruch der Finanzkrise war es für sie kein Problem, sich das Zentralbankgeld bei anderen Banken des Euro-Raums, vor allem bei deutschen Geschäftsbanken zu leihen. Dadurch konnten die Länder im Süden Europas jahrelang über ihre Verhältnisse leben, finanziert durch Kredite der deutschen Banken.
Doch mit dem Ausbruch der Schuldenkrise hat sich das schlagartig geändert. Die Banken trauen sich nicht mehr über den Weg und stellen sich untereinander keine Kredite mehr zur Verfügung. Daher sind die Banken der Krisenländer darauf angewiesen, sich das Geld zur Finanzierung des Importhungers ihres Landes bei der EZB zu besorgen.
Das Geld fließt aber nicht nur in den Import von Waren. Es finanziert auch die Kapitalflucht aus den Krisenländern. Aus Angst vor dem Zusammenbruch der Währungsunion haben viele Iren, Italiener und Griechen ihre Spargroschen auf Konten bei deutschen Banken überwiesen. Dadurch hat die Bundesbank im Target-2-System riesige Gutschriften im Wert von 463 Milliarden Euro gegenüber den Zentralbanken der Krisenländer aufgebaut. „Dank der großzügigen Geldleihgeschäfte der EZB können die Krisenländer ihre Importüberschüsse und die Kapitalflucht über das Target-2-System problemlos weiterfinanzieren“, sagt Frank Westermann, Professor an der Uni Osnabrück. Der Druck in den Ländern, den Gürtel enger zu schnallen und mehr Geld durch Exporte zu erwirtschaften, ist weg.
Dramatische Risiken
Für die deutschen Steuerzahler birgt das ernorme Risiken. Bricht die Euro-Zone auseinander, muss die Bundesbank einen Großteil ihrer Forderungen aus dem Target-System abschreiben. Ihr Eigenkapital einschließlich der Neubewertungsreserven von insgesamt mehr als 130 Milliarden Euro wären dann ausradiert. Die Verluste würden im Bundeshaushalt und damit beim deutschen Steuerzahler landen.
In Bankerkreisen hält man es für möglich, dass der Target-Saldo angesichts der anhaltenden Geldschwemme der EZB bald auf mehr als eine Billion Euro anschwillt. Bräche die Währungsunion dann auseinander, wäre Deutschland bankrott. Mario Draghi und die Regierungschefs der Mittelmeerländer wissen das. Und sie nutzen es aus. „Die Mittelmeerländer gönnen Merkel den symbolischen Erfolg des Fiskalpakts, um Deutschland als Zahlmeister im Euro-Boot zu halten“, urteilt Barclays Chefökonom Polleit – fast so, als hätten sie ihre Lektion bei Honoré de Balzac gelernt. Je länger Deutschland bei der Stange bleibt, desto bedrohlicher werden jedoch die Ausfallrisiken für die deutschen Steuerzahler – und desto unrealistischer wird der Ausstieg Deutschlands aus dem Euro.
Dies verschlechtert Merkels Verhandlungsposition in den nächsten Wochen und Monaten dramatisch. Die Zeiten, in denen sie sich mit „Meisterleistungen“ wie dem Fiskalpakt in Szene setzen kann, dürften daher bald vorbei sein.