




Eine Konsens-Republik wollte François Hollande führen, widerstreitende Interessengruppen unter seiner Vermittlung dazu bringen, an einem Strang zu ziehen. Das ist ihm gelungen – jedoch ganz anders als geplant.
Anderthalb Jahre nach seinem Wahlsieg im Mai 2012 sind sich Unternehmer und Arbeitnehmer, Groß- und Geringverdiener einig im Zorn auf den französischen Staatschef und seine Regierung. Ein Autoritätsverlust mit Folgen: Beobachter fürchten um die ohnehin zaghafte wirtschaftliche Erholung, da wirtschaftspolitische Reformen kaum noch durchsetzbar erscheinen und Investoren sich zurückziehen. Bei wichtigen Entscheidungen in der EU kann Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Hollande kaum noch zählen.
Der Konsens dieses Herbstes lautet „ras-le-bol“: Die Franzosen haben „die Schnauze voll“ von Politikern, die im Kampf gegen die zunehmende Staatsverschuldung nur ein Mittel zu kennen scheinen: Steuererhöhungen. Besonders deutlich wurde dies in den vergangenen Tagen in der Bretagne, einer Region, die für ihre zu plötzlicher Sturmstärke aufdrehenden Winde bekannt ist.
Aus einem vergleichsweise nichtigen Anlass – der geplanten Einführung einer Ökosteuer für Lastwagen, die noch zu Zeiten der konservativen Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy beschlossen wurde – kam es dort zu Proteststürmen, die nicht nur die Ökosteuer hinwegfegten. „Die Regierung steckt in einer Sackgasse, was das Vertrauen der Verbraucher und der Unternehmer schwer belastet und damit auch das ohnehin geringe Wachstum“, sagt Anthony Benhamou, Volkswirt an der Universität Paris Dauphine. Schlimmer noch: „Es scheint von nun an unmöglich, das Land zu reformieren, ohne eine Revolte fürchten zu müssen.“
Fatale Aussichten
Das sind fatale Aussichten für ein Land, das sogar die bereits weit gestreckten Ziele zu verfehlen droht. Vorige Woche schlug die EU-Kommission in ihrem Herbstgutachten Alarm, Frankreichs Haushaltsdefizit werde auch im Jahr 2015 noch 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, wenn es seine derzeitige Politik beibehält. Und das, obwohl sie die Prognose der französischen Regierung für ein Wirtschaftswachstum um 1,7 Prozent für realistisch hält. Drei Prozent Neuverschuldung sind das Maximum, das den Euro-Staaten erlaubt ist. Auch die Ratingagenturen haben wachsende Zweifel, ob Frankreich aus der Krise kommen kann. Die US-Ratingagentur Standard & Poor's hat Frankreich herabgestuft. Die Bonität werde nur noch mit "AA" und damit eine Stufe niedriger bewertet als zuletzt mit "AA+", teilte die Agentur am Freitag mit.
Die Konjunktur-Prognosen für die Krisenländer
Erstmals seit 2009 dürfte die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone in diesem Jahr wieder schrumpfen - wenn auch mit 0,1 Prozent nur minimal. "Die real verfügbaren Einkommen der Verbraucher schwächeln wegen der steigenden Arbeitslosigkeit und höherer Steuern", prophezeit die EU-Kommission. "Das anhaltend ungünstige Unternehmervertrauen dürfte die Investitionen weiter fallen lassen." 2014 wird ein Wachstum von 1,1 Prozent vorhergesagt, doch soll die Arbeitslosenquote trotzdem von 10,6 auf 10,9 Prozent steigen. Auch das Staatsdefizit soll im kommenden Jahr mit 4,2 Prozent etwas höher ausfallen als 2013 mit 3,9 Prozent, was den Schuldenberg auf 96,2 Prozent der Wirtschaftsleistung anschwellen lassen dürfte.
Die Rezession soll sich in diesem Jahr abschwächen. Das Minus dürfte mit 1,3 Prozent knapp halb so hoch ausfallen wie im Vorjahr mit 2,4 Prozent. "Es gibt keine klaren Signale für eine kurzfristige Erholung, da sich sowohl das Verbrauchervertrauen als auch das Geschäftsklima im negativen Bereich befindet", stellt die Kommission fest. 2014 soll ein Mini-Wachstum von 0,7 Prozent folgen. Die Neuverschuldung soll sich zwar mit 2,9 und 2,5 Prozent im erlaubten Rahmen bewegen. Mehr Sorgen macht aber der Schuldenstand: Er soll 2014 auf 132,2 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. Eigentlich sehen die EU-Verträge eine Obergrenze von 60 Prozent vor.
Die Rezession dürfte sich in diesem Jahr verschärfen. Erwartet wird ein Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 1,5 Prozent, nach minus 1,4 Prozent im Vorjahr. "Die Binnennachfrage wird wohl schwach bleiben, aber die preisliche Wettbewerbsfähigkeit solle sich schrittweise verbessern und die Exporte an Schwung gewinnen", sagt die Kommission voraus. 2014 soll dann ein Wachstum von 0,9 Prozent zu Buche stehen. Die Arbeitslosenquote soll dann vom Rekordniveau von 27,0 auf 26,4 Prozent fallen. Die Neuverschuldung dürfte mit 6,5 und 7,0 Prozent in beiden Jahren hoch bleiben. Der Schuldenberg soll bis 2014 auf 96,8 Prozent des Bruttoinlandproduktes wachsen - 2009 waren es noch 53,9 Prozent.
Die Wirtschaft dürfte 2013 das sechste Jahr in Folge schrumpfen, wenn auch mit 4,2 Prozent so langsam wie seit 2009 nicht mehr. "Die hohe Arbeitslosigkeit und Einschnitte bei Löhnen und Sozialleistungen werden den privaten Konsum weiter drücken", befürchtet die EU-Kommission. 2014 soll die Rezession enden: Erwartet wird ein Mini-Wachstum von 0,6 Prozent. Dann soll auch die Arbeitslosenquote fallen, die in diesem Jahr mit 27 Prozent einen Rekordwert erreichen dürfte. Das Staatsdefizit soll sich 2014 mit 2,6 Prozent wieder im erlaubten Rahmen bewegen. Der Schuldenberg dürfte etwas abgetragen werden - von 175,2 auf 175,0 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Schuldenstandsquote bleibt aber mit Abstand die höchste in der Euro-Zone und der EU.
Von allen Krisenstaaten macht Irland die größten Fortschritte. Das Wirtschaftswachstum dürfte sich in diesem Jahr auf 1,1 Prozent erhöhen und sich 2014 auf 2,2 Prozent verdoppeln. Die "Leistung ist ermutigend", so die EU-Kommission. Die unter Steuererhöhungen und Sparprogrammen leidende Binnennachfrage soll im kommenden Jahr erstmals wieder zum Wachstum beitragen. Die Arbeitslosenquote soll bis dahin auf 13,7 Prozent fallen, 2012 waren es noch 14,7 Prozent. Die Gesundung der Staatsfinanzen kommt aber nur langsam voran: Das Defizit dürfte sowohl in diesem Jahr mit 7,5 als auch im kommenden Jahr mit 4,3 Prozent klar über der Zielmarke der EU von drei Prozent liegen. 2014 soll der Schuldenberg schrumpfen.
Auch hier verharrt die Wirtschaft in der Rezession. Das Bruttoinlandsprodukt soll um 2,3 Prozent schrumpfen, nach 3,2 Prozent 2012. "Die Wachstumsaussichten für Portugals Exportmärkte haben sich eingetrübt, während sich die Lage am Arbeitsmarkt eintrübt", stellt die EU-Kommission fest. 2014 soll es wieder ein Wachstum von 0,6 Prozent geben - trotzdem dürfte die Arbeitslosenquote auf 18,5 Prozent steigen. Das Staatsdefizit soll in diesem Jahr auf 5,5 und 2014 auf 4,0 Prozent sinken, während der Schuldenberg bis dahin voraussichtlich auf 124,3 Prozent anschwillt.
Mit 8,7 Prozent dürfte das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr so stark einbrechen wie in keinem anderen Euro-Land. "Das geht vor allem auf den dringlichen Umbau des Bankensektors zurück, der Kreditwachstum und Haushaltssanierung hemmt", befürchtet die EU-Kommission. "Unsicherheit belastet zudem die Binnennachfrage und Investitionen." 2014 soll die Rezession mit 3,9 Prozent deutlich schwächer ausfallen, die Neuverschuldung aber auf 8,4 Prozent steigen. Der Schuldenberg wächst bis dahin auf 124 Prozent. Er wäre dann mehr als doppelt so groß wie 2010.
Die EU-Kommission hatte Paris bereits im Frühjahr einen Aufschub von zwei Jahren bis 2015 gewährt. Verbunden mit dieser Gnadenfrist war die Mahnung, zügig Reformen anzupacken und die Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. „Ich möchte daran erinnern, dass die Prognose der Kommission auf einer konventionellen Rechnung beruht, die von keinerlei zusätzlichen Maßnahmen für eine Verbesserung ausgeht“, kommentierte Wirtschafts- und Finanzminister Pierre Moscovici schmallippig. In seinem Ministerium hält man die Kritik, die Sozialisten ließen es an Reformeifer mangeln, für zutiefst ungerecht: „Die Vorurteile über unsere Reformen sind absurd.“
Aus Furcht vor dem Druck der Straße haben die Sozialisten ihre Rentenreform schon abgespeckt. Der Mehrheit im Senat ging sie daraufhin nicht weit genug und nun hat die zweite Kammer das vorhaben gleich ganz gekippt. Die Reform sah vor, zwischen 2020 und 2035 die Beitragsjahre schrittweise und homöopathisch dosiert von 41,5 auf 43 Jahre zu erhöhen. Jetzt hat die Nationalversammlung das letzte Wort, doch wegen der aufgeheizten Stimmung könnte die Abstimmung im Dezember in einem Debakel enden.
Die Arbeitgeber beklagen ein ums andere Mal die Einschränkung der Wettbewerbsfähigkeit französischer Unternehmen durch hohe Sozialabgaben und den Fiskus. Sie müssten im Jahr 50 Milliarden Euro an Steuern mehr bezahlen als die deutschen Konkurrenten, sagt Arbeitgeberchef Pierre Gattaz. „Wir befinden uns in einem Regime der Überbesteuerung.“
Betriebe müssen schließen

Die von der Regierung als Entlastung angepriesenen Steuergutschriften im Rahmen des Programms für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze erweisen sich bisher als bürokratisches Ungeheuer. Zudem gehen sie häufig gerade an den Bedürfnissen technisch innovativer Unternehmen vorbei, die Frankreichs Exportquote steigern könnten: Da die Gutschriften sich nach der Anzahl der Mitarbeiter berechnen, die weniger als das 2,5-Fache des Mindestlohns verdienen, kommen Firmen mit gut bezahlten Ingenieuren nicht zum Zug.
So zementiert sich Monat für Monat das Siechtum der Industrie. Sie erwirtschaftet inzwischen nur noch rund elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wie Industrieminister Arnaud Montebourg gerade einräumte. Sein offizieller Titel „Minister für die Wiederbelebung der Industrieproduktion“ steht im groben Gegensatz zu der Tatsache, dass im Wochenrhythmus ganze Unternehmen oder einzelne Produktionsstätten schließen.

Am Donnerstag vergangener Woche bestätigte der Reifenhersteller Goodyear das endgültige Aus für den Standort im nordfranzösischen Amiens. Der französische Telekomausrüster Alcatel-Lucent kündigte den Abbau von 900 Arbeitsplätzen und die Schließung der Standorte im bretonischen Rennes und in Toulouse an. In den ersten neun Monaten dieses Jahres gaben insgesamt 191 Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern auf. Die Zahl der Firmengründungen blieb um 25 Prozent hinter dem Vergleichszeitraum 2012 zurück.
Nach den jüngsten Erhebungen der Agentur Markit war Frankreich im Oktober das einzige europäische Land, in dem sich die Situation der verarbeitenden Industrie erneut verschlechtert hat. Die befragten Einkaufsmanager nannten als Gründe nachlassende Auftragseingänge und einen Rückgang der Produktion.
Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der französische Präsident die größten Vollmachten. Seine starke Stellung verdankt er der Verfassung der 1958 gegründeten Fünften Republik, ihr erster Präsident war General Charles de Gaulle.
Der Staatschef wird seit 1965 direkt vom Volk gewählt und kann beliebig oft wiedergewählt werden. Seit 2002 beträgt seine Amtszeit noch fünf statt sieben Jahre.
Der Präsident verkündet die Gesetze, kann den Premierminister entlassen und die Nationalversammlung auflösen. In Krisenzeiten kann er den Notstandsartikel 16 anwenden, der ihm nahezu uneingeschränkte Vollmachten gibt.
Der Staatschef ist gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Durch eine 2007 beschlossene Verfassungsänderung sind Staatschefs im Amt vor Strafverfolgung ausdrücklich geschützt. Das Parlament kann den Präsidenten nur bei schweren Verfehlungen mit Zweidrittelmehrheit absetzen.
Frankreichs Staatschef ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das Sagen. Seine stärksten Druckmittel sind der rote Knopf zum Einsatz von Atomwaffen und das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
Der Präsident ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister, leitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen und nimmt Ernennungen für die wichtigsten Staatsämter vor.
Seine Macht wird jedoch eingeschränkt, wenn der Regierungschef aus einem anderen politischen Lager kommt und der Präsident keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dieser Fall der „Kohabitation“ war bei der Verabschiedung der Verfassung nicht vorgesehen. Er trat aber bereits drei Mal ein, zuletzt 1997 bis 2002, als der konservative Staatschef Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin auskommen musste.
Die Rechnung zahlen mehr als drei Millionen Arbeitslose. Die Quote beträgt inzwischen nahezu elf Prozent. In dieser Situation die häufig kritisierte Staatsquote von 57 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken hält Frankreichexpertin Ulrike Guérot, Senior Associate bei der Open Society Initiative for Europe (OSIFE), für nahezu aussichtslos.
Die ohnmächtige Wut der Bürger in der Bretagne rührte auch daher, dass dort binnen kurzer Zeit mehrere Schlachthöfe schlossen – und Ersatzarbeitsplätze nicht in Sicht sind. Gegen die Dumpinglohn-Politik deutscher Schlachtbetriebe sei Frankreich machtlos, kritisieren Politiker wie Industrieminister Montebourg nicht ganz zu Unrecht. Die Hoffnung, dass Berlin seine Politik im Sinne der französischen Sozialisten radikal ändern wird, hat man in Paris nach der Bundestagswahl jedoch begraben: „Angela Merkel hat die Wahl gewonnen. Das Regierungsprogramm wird kein SPD-Programm sein“, bemerkt ein ranghoher Beamter lakonisch.
Angst vor einem Referendum
Anlass zur Schadenfreude sei das jedoch keineswegs, warnt Guérot. „Die wirtschaftliche Schwäche Frankreichs von heute könnte morgen zum politischen Problem Deutschlands werden, denn alleine kann Deutschland in Europa nichts ausrichten.“ Bei wichtigen europäischen Fragen wie der Bankenunion macht sich dies bereits bemerkbar. Eine Änderung der EU-Verträge als Voraussetzung für einen einheitlichen Einlagensicherungsfonds, wie sie die Bundesregierung fordert, stößt in Frankreich auf Widerstand. „Was die Deutschen brauchen, können die Franzosen nicht liefern“, sagt Guérot. „Hollande hätte sofort Stress mit einem Referendum, wie es die französische Verfassung bei derartigen Änderungen fordert.“ Damit wäre eine Volksabstimmung heute vermutlich noch eher zum Scheitern verurteilt als 2005, als Frankreich gegen die EU-Verfassung gestimmt und Europa damit in eine schwere Krise gestürzt hat.
Europa
Nun wenden sich vor allem auf dem Land viele Bürger ab und einer extremen Rechten zu, die zwar wenig wirtschaftliche Kompetenz aufweist, aber anders als der zaghafte Staatschef einen Plan zu haben scheint. Umfragen sehen den EU-kritischen Front National (FN) von Marine Le Pen derzeit bei 24 Prozent. Bei der Europawahl im Mai würde sie damit stärkste Partei in Frankreich. Bei den Kommunalwahlen im März könnte sie die Rathäuser stürmen. Das Szenario lässt Frankreichs Sozialisten in Schockstarre verharren. Für Europa ist das keine gute Nachricht.