
Herr Roth, Sie behaupten in Ihrem Buch, die Euro-Krise sei willkürlich herbeigeführt worden, damit die Polit- und Wirtschaftselite im Anschluss den Sozialstaat vernichten kann. Sind Sie ein Verschwörungstheoretiker?
Nein, das ist keine Verschwörungstheorie. Ich beziehe mich durchweg auf Fakten, auf Gespräche, die ich in Griechenland und Portugal mit Ökonomen, Gewerkschaftsführern und politischen Analytikern geführt habe und vor allem aber auch auf Grundprinzipien, die Europa ausmachen. Wir haben eine Europäische Sozialcharta, ein verbindliches Abkommen, das der Bevölkerung umfassende soziale Rechte garantiert. Sie ist vorbildlich. Sie scheint in Zeiten der Euro-Krise nicht mehr gültig zu sein. Eine kleine Elite, die kein Interesse an einer starken Arbeitnehmerschaft hat, konnte sich hingegen mit ihrer neoliberalen Politik durchsetzen. In den letzten Jahren haben Politik und Wirtschaft mit ihrer Sparpolitik und gegen den Willen der Mehrheit der Bürger für einen wirtschaftlichen Systemwechsel gesorgt. Für mich ist das ein klassischer Putsch. Daher auch der Buchtitel.
Zur Person
Jürgen Roth, geboren 1945, ist einer der bekanntesten investigativen Journalisten in Deutschland. Seit 1971 veröffentlicht er brisante TV-Dokumentationen und aufsehenerregende Bücher über Korruption und organisierte Kriminalität. Zuletzt erschienen von ihm "Gangsterwirtschaft", "Gazprom - Das unheimliche Imperium" und "Spinnennetz der Macht", die allesamt Bestseller waren.
Wer sind diese Putschisten konkret?
Mehrere Akteure ziehen an einem Strang. Zunächst mal unter anderem ein ziemlich undurchsichtiger Bund von hochkarätigen Unternehmern, Medienrepräsentanten und Bankern, der Schweizer „Entrepreneurs‘ Roundtable“, in dem auch deutsche Konzernlenker und Banker sitzen. Sie sind Einflüsterer der Politik. Dann gibt es neoliberaler Politiker, etwa die portugiesischen Politiker Perdro Passos Coelho (Ministerpräsident), José Manuel Barroso (EU-Kommissionspräsident) und Eduardo Cotroga (Ex-Finanzminister). Sie wollten Portugal bereits vor der Krise um- und den Sozialstaat abbauen. Aber die Mehrheit war gegen sie. In der Euro-Krise bekamen die Politiker dann Schützenhilfe der Troika – also dem Zusammenschluss von IWF, EZB und EU-Kommission. Jene Gruppe, die den Nationalstaaten Sparmaßnahmen aufdrückt. Das Ergebnis wird gerne verschwiegen: Dieser Putsch hat bisher tausenden Menschen das Leben gekostet.

Das sind harte Vorwürfe.
Das ist schlicht die Wahrheit die ich belege. In den südeuropäischen Ländern hat die Selbstmordrate dramatisch zugenommen. Auch die Zahl der Totgeburten steigt kontinuierlich. Und es gibt zunehmend Menschen, die sterben, weil sie nicht behandelt werden und sie sich die nötigen Medikamente, etwa bei Krebsleiden, nicht leisten können. Das hört sich vielleicht provokant an, ist aber nicht zu leugnen. Ich habe beim Schreiben des Buchs mehrmals fast geweint, als ich diese Hoffnungslosigkeit beschrieben habe und die Erinnerungen an die Menschen, mit denen ich vor Ort gesprochen habe, wieder hochgekommen sind.
Die Sparprogramme, die die Troika mit den Nationalstaaten ausgehandelt hat, sollen die Krisenländer am Leben halten. Geld gegen Reformen, heißt es. Was ist daran verwerflich?
Es geht um die zentrale Frage, wer für die Verschuldung verantwortlich ist und wer die Lasten der Verschuldung nun trägt. In all den Ländern, insbesondere in Griechenland und Portugal kann man das beispielhaft sehen, ist die regierende politische Elite für die Schulden verantwortlich, nicht die Mehrheit der Bevölkerung.
"Die Elite hat sich bereichert, die Bürger sollen es nun ausbaden"





Einspruch. Die Bürger wollten am Euro-Aufschwung teilhaben und haben – unterstützt durch die Gewerkschaften – gewaltige Lohnsteigerungen gefordert. Die Produktivität konnte nicht im gleichen Maße gesteigert werden. Erst sank die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, dann sanken die Gewinne. Der Staat nahm weniger ein, die Schulden stiegen. Sprich: Ganz so unschuldig sind auch Gewerkschaften und Arbeitnehmer nicht.
Das mag ein Teilaspekt sein. Das Grundübel aber ist die herrschende politische Klasse. Nochmal zu Portugal. Transparency International sagt etwa, dass ein Großteil der Verschuldung auf die korrupten politischen Strukturen zurückzuführen sind. Die Elite hat sich bereichert – die Bürger sollen es nun ausbaden. Das geht so nicht.
Die Korruption ist ein großes Problem, da gebe ich Ihnen Recht. Aber Fakt ist auch, dass die Lohnkosten etwa in Griechenland zwischen 1999 und 2008 um sagenhafte 95 Prozent nach oben geschossen sind. Jeder deutsche Tourist hat gemerkt: Der Urlaub in der Türkei ist plötzlich deutlich billiger - bei besserer Leistung - als auf Rhodos oder Kreta. Es ist also nachvollziehbar, dass die Troika Reformen einforderte.
Reformen müssen her, das sehe ich genauso. Aber ich sehe nicht, dass die Mehrheit der Bürger für die Reformen so leiden muss. Es müssten die Verantwortlichen zur Kasse gebeten werden. Die Erhöhung der Löhne ist doch kein Grund zur Klage. Mein sozialer Ethos geht so weit, dass ich sage: Mit dem Lohn der Arbeit muss ein menschenwürdiges Leben möglich sein. Wir sollten uns da einfach an der Sozialcharta orientieren.
Was ist konkret Ihr Vorschlag? Wie sind die Krisenländer zu reformieren?
Ich glaube, man bekommt die Lage nicht verbessert, so lange die bisher regierenden politischen Dynastien, wie in Griechenland, Portugal oder Spanien an der Macht bleiben. Wir müssten die handelnden Personen austauschen. Gleichwohl weiß ich, dass das nicht möglich ist, ich bin ja kein Träumer. Aber eine Verbesserung der Situation erleben wir nur, wenn die korrupten Eliten nichts mehr zu sagen haben und die Troika aufgelöst wird.
Die Bürger hätten durchaus die Möglichkeit, in freien Wahlen eine neue Regierung zu bestimmen. Aber selbst in Griechenland haben die Bürger in den vergangenen zwei Jahren wiederholt die Regierung – wenn auch knapp – im Amt bestätigt.
Das bedauere ich sehr und kann es auch gar nicht genau erklärte. Man muss nicht in allen Punkten dem linken „Syriza-Bündnis“ in Griechenland zum Beispiel zustimmen. Aber sie wären eine echte Alternative gewesen, weil sie eben nicht zu einer der alten Politik-Dynastien gehören. Aber trotz aller Wut bei den Bürgern ist es doch so, dass es offenbar einen unglaublichen hohen Trägheitsprozess in der Bevölkerung gibt. Die Versprechungen der Konservativen und Sozialisten waren ja auch immer vollmundig. Sie haben stets gesagt, sie würden der Troika die Stirn bieten. Und als sie an der Macht waren, haben sie all ihre Versprechungen gebrochen.
In der Tat ist es so, dass die Eliten ihre Pfründe längst gesichert haben und die Reichen in der Krise reicher wurden. Was ist zu tun: Hilft etwa eine Reichensteuer, wie Sie nun auch die Bundesbank begrüßt?
Nein. Das sind höchstens Trostpflaster, aber kein wirksamer Hebel. Man hätte rechtzeitig den Einfluss der kleinen Dynastien, die die Länder beherrschen, zur Kasse bitten müssen. Ich rede nicht gerne von Revolutionen, aber wenn sich etwas ändern Soll, braucht es einen Systemwechsel, der dafür sorgt, dass die politischen korrupten Dynastien keinen Einfluss mehr haben.
"Die Prekarisierung wird auch in Deutschland Schule machen"





Wir haben viel über die Klüngel der Macht in Südeuropa gesprochen. Welche Rolle spielt Deutschland in dem „stillen Putsch“, den Sie anklagen?
Ich halte die deutsche Politik für doppelzüngig. Auf der einen Seite kritisiert Berlin die Regierung in Athen für ihre Ausgabenpolitik. Andererseits übt die Bundesregierung Druck aus, dass Athen Rüstungsdeals, etwa den Kauf von Eurofightern, durchzieht. Auch die Forderungen nach Privatisierungen und das Verteidigen der Sparprogramme duldet die Regierung – obwohl jeder weiß, dass diese Politik die Länder nur noch weiter in die Schulden treibt. Ich befürchte: Die Prekarisierung, die in Südeuropa schon weit vorangeschritten ist, wird auch in Deutschland Schule machen.
Was meinen Sie konkret? Fürchten Sie Lohn- und Sozialdumping?
Natürlich. Erste Vorzeichen gibt es ja schon. Mit den Hartz-IV-Reformen wurden viele Menschen in die Armut geschickt. Die Arbeitnehmer verlieren seit fast einem Jahrzehnt an Kaufkraft. Viele bekommen keine Lohnerhöhungen – und wenn, dann liegen diese deutlich unter der Inflationsrate. Nun kommt hinzu, dass Arbeitskräfte aus Portugal und Griechenland aus ihren Heimatländern gedrängt werden und in Deutschland Arbeit suchen. Sie sind natürlich bereit, für weniger Geld zu arbeiten als die Bundesbürger. Das generelle Lohnniveau wird dadurch gesenkt. So droht Europa flächendeckend seine Prinzipien und seine sozialen Errungenschaften zu verlieren.
Was halten Sie denn von der Europäischen Union und der Gemeinschaftsprojekt an sich: Ist Brüssel ein Superstaat zu Lasten der Bürger und Arbeitnehmer oder ein Friedens- und Wohlstandsprojekt?
Europa ist vom Grundgedanke her ein Friedens- und Wohlstandsprojekt, ganz sicher. Leider setzt es die Ideen nicht konsequent um. Anders als in der Friedensfrage, wo wir ohne Zweifel große Fortschritte erreicht haben, sichert die Europäische Union derzeit leider nicht den Wohlstand seiner Bürger. Es verteidigt auch nicht die Sozialstandards in dem Maße, wie es nötig wäre. Das kann noch kommen, aber ich habe – das wird Sie nicht überraschen – große Zweifel.
Das heißt: Das Leiden in Südeuropa geht weiter?
Ja, das ist meine Befürchtung. Ich habe zuletzt auch eine Ohnmacht der Bürger festgestellt. Die Menschen gehen auf die Straße, sie protestieren vor den Parlamenten in Athen, Lissabon und Madrid, aber es bewegt sich überhaupt nichts. Auch weil auf der anderen Seite eine mächtige Interessengruppen steht, die die Lage beschönigt und alles tut, um den Putsch erfolgreich zu gestalten. Ich fürchte, Europas Bürger haben noch eine schwere Zeit vor sich.
.