Sozialstaat Finnland testet bedingungsloses Grundeinkommen

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Das Grundeinkommen als Anreizeffekt

Auf den Alltag von Eronen hat das Grundeinkommen bislang keine Auswirkungen. Sie steht jeden Tag um viertel nach sechs auf. Dann frühstückt sie mit ihrer Familie, bis ihr Mann die Tochter in den Kindergarten bringt. Den Vormittag über ist sie alleine – die einzige Zeit, die sie für ihr Studium hat. Meist schafft sie jedoch nicht alles, was sie sich vornimmt. Es sind Tage wie heute. Sie hat gerade einen Aufsatz zur Hälfte durchgearbeitet, als sie aufbrechen muss, um ihre Tochter abzuholen. Dann die üblichen Erledigungen: für das Abendessen einkaufen, Zahnarzt, nach neuen Schuhen für die Kleine schauen. Wenn sie zu Hause sind, ist der halbe Nachmittag oft schon rum. Ein Alltag wie in vielen Familien.

Nettoeinkommen bei verschiedenen Grundeinkommens-Modellen

Und doch machen die 560 Euro einen Unterschied. Denn jede Minute übrig gebliebener Zeit kann sie nun nutzen, wie sie will: Arbeitet sie, geht das ohne Abzüge. Bleibt sie zu Hause, geht das ohne Existenzangst. „Früher dachte ich bei einem Zehn-Stunden-Job: Was soll ich damit? Ich hätte Quittungen aufheben müssen, das wäre mir von der Unterstützung abgezogen worden“, sagt sie. „Jetzt ist jeder verdiente Euro ein Euro mehr.“

Anreize durch Grundeinkommen

Die Experimentleiterin beobachtet diesen Effekt bei den meisten Probanden. „Wir sehen jetzt schon, dass viele zusätzliche Jobs annehmen“, sagt Toronen. Damit zahlen die einstigen Arbeitslosen auf einmal mehr Steuern und geben mehr Geld für Konsum aus. „Viele haben auch ein Unternehmen gegründet. Sie hätten sich das vorher nicht getraut, weil sie keine finanzielle Absicherung hatten“, sagt die Juristin.

Der Ökonom Ernst Fehr gehört zu den Wirtschaftswissenschaftlern, die untersuchen, wie sich Menschen verhalten, wenn es um Geld geht. Das finnische Experiment habe zunächst eindeutige Auswirkungen auf die Psyche der Teilnehmer. „Was man definitiv sagen kann, ist: Die Menschen sind weniger gestresst und dadurch zufriedener“, sagt er.

Welche Berufe glücklich machen
die glücklichsten Menschen arbeiten in Hamburg Quelle: dpa
Die Jobsuchmaschine Indeed hat sich der Zufriedenheit deutscher Arbeitnehmer angenommen und nachgefragt, wer mit seinem Job besonders zufrieden ist. Die glücklichsten Berufe in Deutschland sind demnach eine bunte Mischung aus allen Ausbildungswegen und Hierarchiestufen. So gehören zu den Top 20 der zufriedensten Berufe viele traditionelle Handwerksberufe wie Maurer, Tischler oder Elektriker. Zufrieden sind allerdings auch - entgegen aller Klischees - Lehrer und Krankenschwestern. An der Spitze der Liste stehen Trainer, studentische Hilfskräfte und, wenig überraschend, Geschäftsführer. Laut dem Meinungsforschungsinstituts YouGov sind allgemein nur sieben Prozent der Deutschen wirklich unzufrieden mit ihrem Job, 75 Prozent der Arbeitnehmer macht ihre Arbeit mehrheitlich Spaß. Damit sie sich im Beruf wohl fühlen, brauchen 27 Prozent der Beschäftigten neue Herausforderungen, für 18 Prozent ist ein abwechslungsreicher Arbeitsalltag wichtig, für 15 Prozent bessere Gehaltsaussichten. Immerhin 14 Prozent wollen „etwas Sinnvolles“ für die Gesellschaft tun. Die folgenden Berufe erfüllen diese Kriterien - und machen glücklich. Quelle: Fotolia
Gärtner und Floristen sind zu 87 Prozent glücklich. "Ich arbeite in einer Umgebung, die ich mag, und tue etwas lohnendes und sinnvolles", gaben sogar 89 Prozent von ihnen an. Quelle: Fotolia
Jemand frisiert einen Puppenkopf Quelle: dpa
Männer arbeiten an Toiletten. Quelle: AP
Die ersten Nicht-Handwerker in der Glücksrangliste sind ausgerechnet Marketing- und PR-Leute (75 Prozent). Die Wahrheit steht offenbar nicht in direktem Zusammenhang mit dem Glück. Quelle: Fotolia
Jemand hält einen Glaskolben mit einer Flüssigkeit darin. Quelle: AP

Fehr bezeichnet die Wirkung des Grundeinkommens auf Arbeitslose als Anreizeffekt: „Vorher haben sie Geld verloren, wenn sie Arbeit angenommen haben. Die Menschen sind nun aber eher geneigt, eine Arbeit anzunehmen.“ So spielt das Grundeinkommen einen Teil des Geldes, das es kostet, gleich wieder ein. Ein Nebeneffekt, der mittlerweile viele Liberale zu Freunden des Grundeinkommens macht.

Denn in der derzeitigen Gemengelage ist kaum noch überschaubar, wer nun eigentlich für und wer gegen ein Grundeinkommen ist. Während viele Techunternehmer dafür sind, sind die Arbeitgeberverbände dagegen und finden sich hier in ungewohntem Schulterschluss mit den Gewerkschaften, die die Idee ebenfalls ablehnen. Von CDU-Politiker Dieter Althaus kommt sogar ein eigenes Modell zur Finanzierbarkeit des Grundeinkommens, während die Grünen eher unentschlossen sind. Die FDP hingegen will immer mal wieder mit dem liberalen Bürgergeld den Sozialstaat verschlanken, und die Linke ist derweil komplett uneins in der Diskussion.

Selbst Nutznießerin Eronen ist hin und her gerissen: „Ich befürchte, viele Unternehmen könnten das Grundeinkommen nutzen, um Löhne zu drücken“, sagt sie. Es habe ja jeder genug zum Leben.

Gleichzeitig ist sie davon überzeugt, dass Menschen immer den Antrieb haben, mehr zu arbeiten. Das Geld vom Staat decke schließlich nur die Grundbedürfnisse. „Es wird immer Menschen geben, die mehr haben wollen. Jeder will doch seine Situation und sein Leben verbessern“, sagt Eronen.

Momentan lebt die Familie in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand. Sie träumt davon, irgendwann mit ihrer Familie in ein größeres Haus zu ziehen, vielleicht sogar ein eigenes. Auch das ist für sie ein Antrieb, möglichst bald wieder zu arbeiten. „Zu Hause bleiben ist für mich keine Option. Da wäre mir langweilig, und außerdem wäre das doch verschenktes Potenzial“, sagt sie. In zwei Jahren wird sie ihr Studium abgeschlossen haben. Danach würde sie am liebsten Suchtkranke oder Flüchtlinge unterstützen.

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