Sozialstaat Finnland testet bedingungsloses Grundeinkommen

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Die plötzliche Wahlfreiheit

Dabei war das finnische Parlament bis dahin unverdächtig jeder Sozialromantik. Das Land hat eine Mitte-rechts-Regierung. Die aber ärgerte, dass Arbeitslose Steuergeld bekommen und dann lieber zu Hause blieben. Gerade Teilzeit- oder Niedriglohnjobs sind für die meisten Arbeitslosen uninteressant. Sobald sie etwas dazuverdienen, werden die Leistungen entsprechend gekürzt. Für viele macht es keinen Unterschied, ob sie arbeiten oder zu Hause bleiben. Die meisten entscheiden sich für die zweite Option.

Steffie Eronen hat den Brief, der sie über ihr künftiges bedingungsloses Einkommen informierte, bis heute aufbewahrt. Er ist in dem blauen Ordner im Wohnzimmer abgeheftet, den Eronen angelegt hat. Sie ging davon aus, dass dann noch mehr Briefe des Amts dazukommen. Doch es gibt keine Formulare, keine Anträge, keine Nachweise, die sie hier abheften müsse. Es gibt nur den neun Seiten langen Brief.

„Entscheidung über ein Grundeinkommen“ steht in der Betreffzeile, genauso lapidar wie die Sätze, die folgen. „Sie wurden für ein Experiment ausgewählt. Ab dem 1. Januar wird Ihnen ein Grundeinkommen gewährt.“ Darunter sind 24 Termine aufgelistet. An diesen Tagen wird der finnische Staat 560 Euro auf Eronens Konto zahlen. Einfach so.

„Es war für mich so unwirklich, als der Brief kam. Ich ging davon aus, das Experiment sei nur für finnische Staatsbürger“, sagt sie. Sie legte den Brief auf den Wohnzimmertisch, loggte sich bei Facebook ein und gab in das Suchfeld den Namen des Projekts ein: Perustulo. Sie wollte wissen, ob weitere Menschen diesen Brief der Behörde bekommen hatten. Und so las sie die Zeilen, die ein Mann 350 Kilometer weiter im finnischen Norden an die Öffentlichkeit geschrieben hatte: „Ich bin einer von den 2000 Bürgern, die ab nächstem Jahr ein Grundeinkommen bekommen. Ich fühle mich frei. Ich fühle mich wieder als vollwertiger Bürger“, verkündete der Unbekannte. Eronen schickte ihm eine Nachricht: Müssen wir uns irgendwo melden? Sicher, dass wir einfach Geld dazuverdienen können?

Weniger Stress, mehr Zufriedenheit

Bis heute hat sie Kontakt zu Juha Järvinen. Der 38-Jährige war im Lostopf der Behörde, auch er bekam Arbeitslosengeld. Dabei hat er immer gearbeitet. Järvinens Unterarme sind muskulös, an zwei Stellen zeigen Narben, dass er körperlich arbeitet. Er spricht fließend Englisch, programmieren kann er auch. Als Teenager brachte Järvinen sich bei, Fotos zu entwickeln und verdiente damit sein erstes Geld. Nach der Schule fand er heraus, wie man Webseiten baut. Später arbeitete er sich in die Produktion von Videos ein. Irgendwann lernte er dann noch, wie man Fensterrahmen mit Ornamenten baut.

Wissenswertes über Finnland

Die Reste seines letzten Unternehmens passen heute noch in einen Schuhkarton: 1500 Broschüren hat er noch übrig von der Firma mit den Holzrahmen. Es lief gut, niemand baute Fenster mit Ornamenten. „Das Problem war nicht das Geschäft, das Problem war ich“, sagt er heute. Järvinen verzettelte sich. Nahm immer mehr Aufträge an, ohne mit den alten hinterherzukommen. Er stellte niemanden ein, versuchte alles alleine zu schaffen. Dann kam noch dieser Großauftrag, der nicht bezahlt wurde. Die offenen Materialrechnungen wurden immer höher. „Irgendwann war ich wie gelähmt. Und eines Tages musste ich mich übergeben, als ich die Werkstatt betrat“, sagt er. Vor drei Jahren meldete er schließlich Insolvenz an.

Järvinens Frau arbeitet als Krankenschwester. Allein mit ihrem Gehalt konnte die Familie nicht leben. Also beantragte der Finne Arbeitslosengeld. Und damit kamen die Briefe vom Amt. Die Beamten schickten ihn zu Bewerbungstrainings und Computerkursen. Dort sollte er lernen, wie ein Schreibprogramm funktioniert, ausgerechnet er, der seit Jahrzehnten programmieren kann. „Niemand macht diese Kurse freiwillig – und deshalb funktionieren sie nicht“, sagt er.

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