In seiner österreichischen Heimat wird Christian Felber sehr viel weniger geschätzt als im fernen Spanien. Während österreichische Regierungspolitiker dem bekanntesten Theoretiker der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) nach dessen eigener Aussage "wenig Verständnis" entgegenbringen, gilt der 45jährige Buchautor ("Die Gemeinwohl-Ökonomie", 2014) und ATTAC-Mitgründer in Spanien als Schöpfer eines neuen wirtschaftlichen Leitbildes.
Ausgerechnet Valencia, eine der Pleite-Regionen Spaniens und besonders berüchtigt für seine korrupte Verwaltung, hat einen Plan gesetzlich verankert, nach dem Tourismus, Finanzwesen und Landwirtschaft am Gemeinwohl auszurichten sind. Im Februar diesen Jahres verabschiedete die Regional-Regierung einen Erlass, der die Anwendung des Gemeinwohls in der regionalen Gesetzgebung verankert. Die Universität von Valencia hat einen eigenen Lehrstuhl zu dieser alternativen Wirtschaftsweise eingerichtet.
Basis des GWÖ-Modells nach Felber ist die unternehmerische Gemeinwohl-Bilanz. In dieser wird unternehmerischer Erfolg nicht mehr als monetärer Gewinn gemessen wie in konventionellen Unternehmensbilanzen, sondern als Beitrag zum Gemeinwohl.
Was zeichnet die Gemeinwohl-Ökonomie aus?
Das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie wurde vom österreichischen Philologen Christian Felber als Vision eines alternativen Wirtschaftssystems entwickelt, das auf Werten wie Kooperation und Solidarität basiert. Es ist keine politische Bewegung. Felber zitiert immer wieder griechische Philosophen wie Aristotoles und Platón in seinen Reden. 300 vor Christus schreibt Platón bereits in der „Politeia“: „Das Gemeinwohl stellt dabei die Funktion und das Ziel der politischen Gemeinschaft dar, in ihm verwirklichen sich die Bedürfnisse, die Interessen und das Glück aller Bürger durch ein tugendhaftes und gerechtes Leben.“
Der 45jährige ist ein Querdenker und Quer-Einsteiger. Er ist Philologe, Tänzer, Buchautor und Aktivist. Geboren wurde er in Österreich, er sieht sich jedoch als Weltbürger. Seit 2008 unterrichtet er Gemeinwohl-Ökonomie an mehreren österreichischen Unis. 2014 kam der weltweite Durchbruch mit dem Buch “Die Gemeinwohl Ökonomie”, das weltweit mehr als 60.000 mal verkauft wurde und in viele Sprachen übersetzt wurde.
Die 20 inhaltlichen Eckpunkte der Gemeinwohl-Ökonomie beinhalten Vorschläge wie ein Gemeinwohl-Produkt, das Bruttoinlandsprodukt als Erfolgsindikator ablösen soll. Die Initiierung einer Fair-Handelszone („Gemeinwohl-Zone“) wird ebenso angestrebt und ein Schul- und Bildungssystem, das gemeinwohl-orientierte Werte vermittelt.
Hier finden Sie ein Netz von Gemeinden überall auf der Welt, die ihr wirtschaftliches und politisches Handeln nach dem Gemeinwohl-Prinzip ausrichten.
Andere Bewegungen und Unternehmen diesen Typs, die unter dem Namen “Neue Wirtschaft” geführt werden:
Global Alliance for Banking on Values (GABV)
www.mitgruenden.at – die erste genossenschaftliche Bank für Gemeinwohl
www.rethinkeconomics.org – neue Wirtschaftswissenschafts-Bewegung
fairphone.com – erster Telekommunikationsanbieter, der nach Gemeinwohl-Prinzipien funktioniert
triodos.nl – Bank, die geringe Renditen mit weniger Risiken und mehr ethisch orientierten Finanzierungen und Investitionen verbindet.
Felber hat mit seinem Buch zwar unter Ökonomen erhebliche Kritik hervorgerufen, aber den Zeitgeist getroffen, auch in Deutschland: Eine Umfrage der Bertelsmann Stiftung Ende 2016 ergab, dass fast 90 Prozent der Befragten eine neue Wirtschaftsordnung wollen, “in der Umweltschutz einen höheren Stellenwert hat als bisher und die den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft anstrebt.” 341 Unternehmen, darunter zum Beispiel der Öko-Versorger Polarstern und der Bergsport-Ausrüster VauDe, haben bereits nach Felbers Prinzipien bilanziert. Es gibt 150 Regionalgruppen, 23 lokale, regionale und nationale Vereine, die die Ziele der Gemeinwohlökonomie vertreten. Und nicht zuletzt hat die grün-schwarze Koalition in Baden-Württemberg in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten: „Die Koalitionspartner begrüßen neue Formen des Wirtschaftens wie Gemeinwohlökonomien, weil sie als soziale Innovationen die Bürgergesellschaft stärken können.“
Weltweiter Vorreiter Valencia
In Valencia übernimmt die Umsetzung ein Mann, der kein linksradikaler Freak oder Populist ist, sondern weiß, was falsch läuft am Finanzmarkt. Der 70-jährige parteilose Francisco Álvarez hat nicht nur Bücher über Ethik und Finanzen geschrieben, sondern war selbst Broker, zweiter Mann der Pariser Börse und Leiter der Börse in Valencia. Er ist, wie er betont, für diese Aufgabe extra aus dem Ruhestand zurückgekommen, um die Leitung der Wirtschaftsabteilung der autonomen Region übernommen. “In Valencia haben wir jetzt erstmals ein Register der Firmen ins Leben gerufen, die nach Gemeinwohl-Prinzipien bilanzieren”, sagt Álvarez. Die regionale Regierung von Valencia verpflichtet sich, für Auftragsarbeiten nur noch Firmen aus diesem Register unter Vertrag zu nehmen. “Desto mehr sich die Gesellschaft sensibilisiert, je mehr Unternehmen werden dem Beispiel folgen, weil sie sehen, dass das gute Image für den Umsatz fördernd ist,” hofft Álvarez.
Absage an Anti-Kapitalismus
In Spanien fallen Felbers Vorstellungen offenbar auf besonders fruchtbaren Boden. Die Protestbewegung "15M" von 2011 propagierte ähnliche Ziele wie Felber. Aus ihr ging auch die neue Partei Podemos hervor, die allerdings mittlerweile in einem Prozess der Selbstzerfleischung befangen ist. "Ihre Programme waren nicht nachhaltig und ihre Vertreter zu eitel”, sagt der spanische Buchautor und politische Aktivist León Arsenal, der Podemos für tot erklärt. Doch das Bedürfnis vieler Spanier nach einer grundlegenden und dauerhaften Veränderung der Wirtschaftsordnung hat sich damit noch nicht erledigt: Spanien leidet weiter unter einer sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit und im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern niedrigen Löhnen. Vor allem aber ist das politische Leben immer noch zersetzt von Korruption. Viele Spanier müssen den Eindruck haben, dass ihre Steuer vielerorts verschwendet und falsch investiert werden. Prozesse gegen ehemalige Regierungsmitglieder wie Rodrigo Rato, die wegen Korruption Politiker angeklagt werden, und die illegale Parteienfinanzierung der regierenden Volkspartei PP dominieren die öffentliche Debatte. “Die Spanier haben angesichts dieses gesellschaftlichen Betrugs ein dringendes Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung und Gerechtigkeit, vor allem nach den Krise-Jahren, welche viele Familien in die Armut getrieben haben”, sagt Felber.
In den vergangenen Jahren sind viele Bewegungen gescheitert, die die Wirtschaft neu und besser erfinden zu können glaubten. In Venezuela haben sie ein ökonomisches Trümmerfeld hinterlassen. Felber und andere Verkünder neuer Wirtschaftsordnungen müssen sich wegen ihrer antikapitalistischen Haltung Kritik gefallen lassen. Börsenexperte Álvarez in Valencia glaubt jedoch, dass in seinem Fall bei der praktischen Umsetzung Ideologie gar keine Rolle spielt: “Es geht hier nicht um Kommunismus oder Anti-Kapitalismus. Natürlich können wir nicht mehr an den maximalen Gewinn für Unternehmen denken, wenn wir ein Gemeinwohl anstreben. Aber der Unternehmer muss Gewinn machen, um investieren zu können und Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist ein langsamer Wandel, kein politisch motivierter radikaler Wandel wie er in vielen Ländern aus Eitelkeit der Leitfiguren der verschiedenen Bewegungen erfolglos initiiert wurde.”
Seine Zuversicht begründet er auch damit, dass Gemeinwohl-Ökonomie keine abstrakte Ideologie ist. “Felber ist keine Ideologe. Er hat auch nichts Neues erfunden. Er hat nur den vielen im Verlauf der Geschichte der Menschheit entstandenen Gemeinwohl-Bewegungen eine Ordnung gegeben.” Er will den Wandel langsam vollziehen und nicht gleichzeitig auf allen Ebenen. "Gemeinwohlökonomie muss bei den Unternehmen und in den Gemeinden und Regionen beginnen,” sagt Álvarez.
Auch Antonio Biondini ist des Antikapitalismus oder Kommunismus unverdächtig. Der Europa-Chef der amerikanischen Bank Lafise lebt seit vielen Jahren in Spanien. Er hat sowohl in Italien als auch in Spanien Korruption aus nächster Nähe selbst erfahren. Seine angeheiratete Unternehmer-Familie Ruiz Mateos ist in viele Skandale verstrickt, einige seiner Schwager sitzen im Gefängnis. Er und seine Frau haben sich von diesem Teil der Familie komplett distanziert: “Ich habe hautnah erlebt, dass wilde Gier den schlimmsten Schaden in einer Gesellschaft und in der eigenen Familie anrichtet. Spanien fängt an zu kapieren, dass es so nicht weitergehen kann, deswegen der Erfolg von Bewegungen wie der GWÖ.”