Städteranking 2021 Das Wunder von Herne

Blick auf die City von Herne mit Rathaus und Vorplatz, Polizeiwache, Stadtverwaltung, Sparkasse, Fussgaengerzone, Post. Quelle: imago images

Es gibt eine neue Boomstadt für junge Menschen. Gerade Auszubildende zieht es in Scharen dort hin. Die Rede ist nicht von Berlin oder Hamburg. Sondern von Herne.

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Herne im Ruhrgebiet wirkt unscheinbar, keine große Uni, keine weltbekannte Kulturszene. Und doch schneidet ausgerechnet Herne im großen Städteranking der WirtschaftsWoche außergewöhnlich gut ab: Beim Wanderungssaldo je 1000 Einwohner belegt es den vierten Platz. Je 1000 Einwohner stieg die Einwohnerzahl 2020 um 5,5 neue Mitbürger. In der Altersgruppe von 30 bis 50 Jahren dabei unterdurchschnittlich mit vier neuen Mitbürgern, bei den 25- bis 30-Jährigen dafür um sieben und bei denen im Alter von 18 bis 25 Jahren sogar um knapp 15 neue Mitbürger je 1000 Einwohner. Hernes Boom ist also ein Boom der Jungen.

Auch in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Immobilien sticht Herne hervor. Dort belegt die Stadt zumeist Plätze an der Spitze oder zumindest in den Top 20. Gleichzeitig hat die Stadt ein Problem mit Arbeitslosigkeit und Schulden. Der Strukturwandel sei zwar angekommen, sagt Volker Eichener, aber eben nicht in allen Bereichen. Eichener lehrt als Professor an der Hochschule Düsseldorf Politikwissenschaft und Sozialpolitik und ist Experte für Stadtentwicklung und Immobilienwirtschaft. Die Zahl der Azubis in Herne steigt beispielsweise, aber ebenso die der Schulabbrecher. Wie passt das zusammen?

Herne ist gerade unter Auszubildenden beliebt: Der Anteil der Azubis an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten kletterte von 2015 bis 2020 um 6,8 Prozent. Damit belegt Herne den ersten Platz im Städteranking. Laut Eichener sind die Azubizahlen historisch gewachsen: Herne ist von dem Strukturwandel durch den Kohle- und Stahlabbau stark betroffen gewesen. In Herne gab es mehrere Zechen, die schon früh geschlossen wurden. Außerdem war die Stadt einer der Standorte für Verwaltungsgesellschaften, die ebenfalls früh dichtmachten. Dadurch entstanden Gewerbeflächen, auf denen sich kleine und mittelständische Unternehmen ansiedeln konnten. Diese wiederum sind attraktiv für Azubis. „Damit konnte Herne eine große Schwäche in eine Stärke verwandeln“, so der Experte.

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Und so gibt es in Herne neben den Azubis auch außergewöhnlich viele Frauen, die einer Arbeit nachgehen. Ihre Zahl stieg im Vorjahresvergleich um knapp vier Prozent, was Herne den achten Platz in diesem Bereich des Städterankings einbringt.

Auch die Medizin ist in Herne früh angekommen: in Form von Krankenhäusern und Spezialkliniken. Beispielsweise wurde aus einer kieferorthopädischen Praxis eine Klinik, die sich um alle Belange rund um den Kopf im Zusammenhang mit den Zähnen kümmert, erläutert Prof. Eichener, „damit haben sie ein Imperium aufgebaut“. Ebenso spielt Herne in die Karten, dass Bochum kein zentrales Universitätsklinikum hat, sondern die medizinische Fakultät auf mehrere Kliniken in der Umgebung verteilt ist. So auch in Herne.

Eine Auswertung des Karriereportals backinjob.de auf Basis von Daten der Agentur für Arbeit zeigt zudem, dass neben den Herner Azubis auch Azubis in der Stadt wohnen, die ins nahegelegene Bochum pendeln. Das liegt unter anderem am außergewöhnlich preiswerten Immobilienmarkt.

Bei den Mietpreisen pro Quadratmeter landet Herne auf Platz 65 des Städterankings. Was in Anbetracht von 71 Plätzen erst einmal schlimm aussieht, ist in Wirklichkeit ein gutes Ergebnis. Denn bei diesem Ranking gilt: Die Letzten werden die Ersten sein. Auf Platz 1 liegt München mit einem Quadratmeter-Mietpreis von 17,60 Euro. Da lebt es sich in Herne mit 6,60 Euro für den Quadratmeter deutlich preiswerter. Auch beim Kaufpreis für Eigentumswohnungen im Bestand belegt Herne einen der letzten Plätze – den 66. mit einem Quadratmeterpreis von 1848 Euro.

Die Begeisterung für Hernes Immobilienmarkt kann Eichener, der ebenfalls dort wohnt, teilen: „Herne ist ein Geheimtipp zum Wohnen im Ruhrgebiet, denn die Mieten sind niedrig und die Wohnqualität ist sehr hoch, weil Herne eine nahezu dörfliche Struktur aufweist und es keine sozialen Brennpunkte gibt wie in anderen Großstädten.“ Herne bestehe aus vielen kleinen Stadtteilen, wo alles fußläufig erreichbar ist. So zögen auch immer mehr Großstädter aus Bochum oder Essen nach Herne.

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Doch nicht alles ist rosig in Herne. So stieg die Arbeitslosenquote von 2015 bis 2020 um 0,4 Prozent. Im Städteranking macht das für Herne Platz 67, was diesmal wirklich ein schlechter Platz ist. Unter den Jungen steht Herne besonders schlecht da: Mehr als jeder zehnte unter 25-Jährige ist arbeitslos (10,8 Prozent). Ein Grund ist die hohe Zahl der Schulabbrecher, wie Eichener erklärt. Hier belegt Herne mit 8,7 Prozent den 55. Platz. Das bedeutet, dass fast jeder zwölfte Schüler die Schule ohne Abschluss verlässt. Eine Abwärtsspirale, sagt Eichener: „Inzwischen leben viele Familien über mehrere Generationen in prekären Verhältnissen, das führt wiederum dazu, dass auch junge Menschen eine unzureichende Schulbildung erreichen.“ Mehr Hartz-IV-Empfänger bedeuteten „schlechte Kommunalfinanzen und damit wenig Kapazitäten für sozialpädagogische Betreuung und Jugendarbeit“. Immerhin: Die Arbeitslosenquote bei den Jungen ist in den letzten Jahren leicht gesunken.

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Der Erfolg von Herne beruht also auf dem Strukturwandel, der durch das Ende des Kohle- und Stahlabbaus entstanden ist. Dieser hat den Weg freigemacht für mehr Unternehmen und auch für eine neue Technologiewelt, die auf einem ehemaligen Zechengelände in Wanne-Eickel entstehen soll. Die Bagger sind schon angerückt. Ein modernes Verkehrskonzept, das das Quartier durch eine Seilbahn mit dem Hauptbahnhof anschließt, soll die künftigen, wissenschaftsorientierten Arbeitskräfte zum „Gewerbegebiet einer neuen Generation“ bringen. Jetzt müssen nur noch die Bildungsfernen mitgenommen werden und Schulabbrecher zu neuen Azubis gemacht werden. Das wäre dann eine noch größere Erfolgsgeschichte.

Mehr zum Thema: Mehr über Herne und die weiteren 70 Städte gibt es im Städteranking 2021.

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