
Seit unter regierungstreuen Journalisten Kritik als Hetze gilt, muss sich der Kritiker gefallen lassen, zum hasserfüllten Aggressor erklärt zu werden. Vor allem, wenn er Thilo Sarrazin heißt und ein alter weißer Mann ist.
Was war schon anderes zu erwarten als ein Verriss des neuen Buchs „Wunschdenken“, dass dieser Tage erschienen ist? Beim „Spiegel“ wird der Autor als Hassprediger vorgestellt, der aus persönlicher Frustration der Regierungspolitik der Kanzlerin auf Deubel komm raus nicht zustimmen mag: „Erfolglos versucht Thilo Sarrazin in seinem neuen Buch, seiner Aggression gegen die Welt einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben.“
Erfolglos? Vergebens, ist offenbar gemeint. Denn Erfolg hat das neue Buch des Autors eines Millionensellers wie „Deutschland schafft sich ab“ schon vor dem Tag seines Erscheinens, und Polemiken dieser Art sind es, die den Verkaufserfolg des Buchs noch befeuern werden. Denn das ist man, wenn es gegen Sarrazin geht, ja nachgerade gewohnt: Wer keine Argumente hat, arbeitet sich am Menschen ab. Merke: das verfängt nicht mehr.
Und tatsächlich erwartet seine Leser etwas ganz anderes, als im einstigen Intelligenzblatt Spiegel behauptet wird.
Die wichtigsten Stationen im Leben von Thilo Sarrazin
Am 12. Februar 1945 wurde Thilo Sarrazin im Nachkriegsdeutschland in Gera geboren. Aufgewachsen ist der Sohn eines Arztes in Recklinghausen.
Nach eigenen Angaben lernte Sarrazin bereits mit drei Jahren und vier Monaten den Begriff "Währungsreform". Die Vorstellungen was sich hinter dem Begriff verstecken könnte waren noch gering, sollten sich mit dem wachsenden Interesse an Wirtschaft aber bald klären.
Nach dem Erlangen des Abiturs im Jahre 1965 trat Thilo Sarrazin den Wehrdienst in Oldenburg an. Während dieser Zeit entdeckte er sein wirtschaftliches Interesse und die Wirtschaftsteile der FAZ, des Spiegels und der Zeit wurden zur täglichen Lektüre.
In den Jahren von 1967 bis 1971 studierte Sarrazin Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn. 1973 promovierte er.
Im Jahre 1973 trat Sarrazin der SPD bei. Bis heute ist er Mitglied, musste sich aufgrund von provokanten Thesen jedoch bereits zwei Parteiausschlussverfahren entgegen stellen.
Anfang des Jahres 1975 nahm Thilo Sarrazin eine Tätigkeit im Bundesministerium der Finanzen auf. Zunächst arbeitete er im steuerpolitischen Grundsatzreferat, dann im Referat "Finanzfragen der gewerblichen Wirtschaft".
Im Jahre 2000 begann Sarrazin seine anderthalbjährige Beschäftigung bei der Deutschen Bahn. Er bekleidete die Ämter des Leiters der Konzernrevision und des Vorstandsmitglieds der DB Netz. Im Dezember 2001 trennte sich der damalige Vorstandsvorsitzende Hartmut Mehdorn aufgrund von Nichteinhaltung gemeinsamer Beschlüsse durch Sarrazin. Während seiner Beschäftigungszeit entwickelte dieser das Volksaktienmodell der Deutschen Bahn.
Ab dem Jahre 2002 bekleidete Thilo Sarrazin das Amt des Senators für Finanzen in Berlin. Er führte eine strenge Spar- und Haushaltspolitik, welche Berlin im Hochkonjunkturjahr 2007 zum ersten Mal einen Haushaltsüberschuss bescherte (80 Millionen Euro). Im Juni 2008 war der fleißige Sarrazin mit 46 Nebentätigkeiten das Senatsmitglied mit den meisten Nebentätigkeiten.
2009 wurde Thilo Sarrazin Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und war verantwortlich für die Bereiche Bargeld, Risiko-Controlling und Informationstechnologie. Auch hier fühlte sich der Volkswirt und Autor unterfordert und langweilte sich nach eigenen Angaben bereits Dienstagnachmittags, was der Fertigstellung seines Politik-Sachbuchs zugute kam. Nach dem Vorwurf des Reputationsschadens und Konflikten über provokante Interview-Äußerungen wurde Sarrazin im Oktober 2010 von seinem Amt entbunden.
Am 30.08.2010 erschien das von Thilo Sarrazin verfasste Politik-Sachbuch "Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen". Trotz der von vielen Bürgern geäußerten Kritik wurde das Buch, welches besonders durch die verfassten Gen-Thesen als Provokation galt, 1,5 Millionen mal verkauft (Stand: 01.2012).
Wer nicht als Allererstes in den immerhin 571 Seiten nach Stellen sucht, um den Autor zu überführen (den Gegner „stellen“, heißt das ja pikanterweise neuerdings), sondern das Buch von Anfang an liest, trifft weder auf Hass noch auf Aggression, höchstens auf Melancholie. Es handelt sich um eine etwas spröde Liebeserklärung an ein gut funktionierendes Gemeinwesen, das vernünftig regiert wird. An so etwas wie Deutschland vor der Eurorettung, der „Energiewende“ und der „Flüchtlingskrise“.
Der geneigte Leser braucht allerdings Langmut. Denn Sarrazin breitet in einer oft etwas pedantischen Art und mit nicht selten erhobenem Zeigefinger ein ansehnliches Wissen aus, mit Ausflügen zu Platon und Augustinus, zu Thomas Morus und Karl Marx. Er vertritt dabei ein Politikverständnis, das so altertümlich ist, dass man direkt Sehnsucht danach bekommt. Ironie off: an das man in der moralinsatten Welt der Nebelwerfer und Falschtöner gern wieder erinnert wird.
Da geht es um Politiker, die Interessen vertreten, statt andere mit ihren Gefühlen („Menschen umarmen“) oder Liebesaffären zu belästigen oder gar über die Gefühlslagen des Volks zu spekulieren („Kälte und Hass in den Herzen“). Um Politiker, die nicht den Anspruch haben, die Welt zu retten, sondern die Interessen des Gemeinwesens zu vertreten – eine Aufgabe, für die sie gewählt wurden. Die Recht und Gesetz achten, das Vertrauenskapital einer Gesellschaft, und sich mit dem Sichern von Rahmenbedingungen bescheiden, statt die Tugendwächter der Bürger zu spielen. Und die sich nicht anmaßen, das Wahlvolk als „Mob“ und „Pöbel“ zu beschimpfen, wenn es anders tickt als die politische und Meinungselite.
Das alles dekliniert Sarrazin lehrbuchmäßig durch, angefangen mit der menschlichen Entwicklung über gesellschaftliche Utopien bis zu „Prinzipien guten Regierens“ und Fallstudien aus der deutschen Politik.
Da muss man schon durch. Das schadet ja auch niemanden, vor allem denen nicht, die das alles zu wissen glauben.
Sarrazin untermauert seine Thesen im übrigen gründlich; dass er wissenschaftliche Erkenntnisse missbrauche, ja, dass er lediglich „kalter Aggression“ „einen sehr dünnen wissenschaftlichen Anstrich“ verpasse, ist ein unredlicher Anwurf. Menschlich verständlich vielleicht, wenn sich jemand seine Illusionen nicht rauben lassen will, etwa die von der Gleichheit (anstelle der Gleichwertigkeit) von Menschen. Der Wahrheitsfindung aber dient das nicht.