Viele Briten sehen genau das nicht ein, was Vertreter der EU (die ihr Anliegen gern „Europa“ nennen) mit tremolierender Verve behaupten: dass wir ohne ein vereintes Europa schlafwandlerisch in ein nächstes katastrophales Jahrhundert schliddern würden.
Wer möchte nicht, dass Europa ein durchweg friedlicher Kontinent ist und bleibt? Doch der Frieden nach 1945 verdankte sich weniger den Vereinigungsbemühungen, die in der EU mündeten, als dem Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA, der Friedhofsruhe garantierte. Mit der war es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs denn auch vorbei. Das durch Zwang zusammengehaltene Jugoslawien zerbrach – und Saddam Hussein versuchte, Kuweit zu annektieren, weil er wusste, dass es nun nicht mehr bei jedem Funken zur großen Explosion kommen würde.
Dass Friedensprojekt EU hat mit der Installation der Eurozone gezeigt, dass die gemeinsame Währung höchstens für Touristen ohne Kreditkarten hilfreich ist, der europäischen Verfreundschaftung aber hat der Euro alles andere als gut getan.
Doch gehört nicht einem mehr und mehr vereinigten Europa die Zukunft? Ist nicht ein reaktionärer Nationalist, wer beim Gedanken an die Zukunft anders träumt? „Zukunft“ und „modern“ gegen verhockt und reaktionär sind die Zauberworte, die der allgemeinen Vernebelung noch ein paar hübsche Rauchwölkchen hinzufügen.
Der Publizist Gerd Held hat jüngst die Angstkampagne gegen einen Ausstieg Großbritanniens analysiert, in der kaum noch verdeckt mit einem veritablen Handelskrieg gedroht wird. „Weltoffenheit“ sieht anders aus. Tatsächlich ist das EU-Projekt ein Antagonismus, denn es produziert eben nicht Offenheit, sondern Unbeweglichkeit. Es entspringt dem Denken der 60er und 70er Jahre, als man das Heil in großen Einheiten suchte – ein Echo der marxistischen Vorstellung, dass der Kapitalismus zu immer größeren Aggregaten führen müsse, die man dann um so leichter in Volkseigentum überführen könnte. Als wirtschaftlich erfolgreich aber haben sich, übrigens insbesondere in Deutschland, die kleinen beweglichen Produzenten erwiesen, die „hidden champions“ des Mittelstands. Großorganisationen sind hoffnungslos unmodern, Dinosaurier, dem Untergang geweiht. Haben die Briten das womöglich erkannt?
Der Guardian zitiert Brexiteers, die nichts mit der Karikatur eines mit nationalem Eigensinn übermäßig ausgestatteten skurrilen Briten zu tun haben. Sie votieren nicht für insulare „Abschottung“, sondern halten den Beschluss zum Beitritt in die EU 1973 für Hasenherzigkeit aufgrund einer Phase ökonomischer Schwäche. Die aber ist vorbei, Großbritannien braucht die Mutterbrust nicht mehr. Im Übrigen sei es weder modern noch zukunftsträchtig, Freiheit und Freiheiten an der Garderobe einer fürsorglichen EU-Bürokratie abzugeben. Die Zukunft gehöre beweglichen Staaten anstelle von unbeweglichen bürokratischen Blöcken.
Wie auch immer die Briten entscheiden: es ist hohe Zeit, darüber zu streiten, ob die EU ein Modell für die Zukunft ist – oder ob es uns nicht allen besser bekommen würde, wenn wir auf einem Kontinent lebten, auf dem freie Länder sich gegenseitig überbieten, was Lebensqualität und Innovationslust betrifft. Nicht die Ökonomie und nicht die „soziale Frage“ allein stehen derzeit auf dem Spiel. It’s a question of freedom, stupid.