WirtschaftsWoche Online: Herr Schui, in Ihrem neuen Buch kommen Sie ohne Umschweife zum Punkt. Gleich der erste Satz lautet: „Die Austeritätspolitik ist ökonomisch gescheitert“. Wie kommen Sie dazu?
Florian Schui: Das Ziel der Sparpolitik im Zuge der Euro-Krise war es, die Schulden der Krisenländer zu senken und einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen. Beide Ziele wurden grandios verfehlt. Griechenland zum Beispiel hat heute – trotz eines Schuldenschnittes – einen höheren Schuldenstand im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt als vor dem Ausbruch der Krise im Frühsommer 2010. Statt zu wachsen, ist die Volkswirtschaft Griechenland, aber auch in Spanien, Portugal oder Zypern geschrumpft.
Reiner Osbild: Die Schulden sind gestiegen, die Wirtschaft ist vielerorts geschrumpft – da haben Sie natürlich Recht, Herr Schui. Allerdings kann man dies nicht der vermeintlichen Austeritätspolitik zuschreiben. Ich glaube nämlich: Es wurde gar nicht groß gespart. Es gab viele Ankündigungen, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen. Das waren aber nur Lippenbekenntnisse. Selbst Deutschland hat doch konstant immer neue Schulden aufgenommen. Erst in diesem Jahr steuern wir auf einen ausgeglichenen Haushalt zu, aber vornehmlich wegen hoher Steuereinnahmen und niedriger Zinsen auf Staatsanleihen. Von Sparpolitik in Europa zu sprechen, ist absurd. Im Gegenteil: Es wurde zu wenig gespart.
Hintergrund
Florian Schui, geboren 1973, lehrte und forschte an zahlreichen Instituten, darunter die University of Cambridge und die University of London, über die Geschichte ökonomischer und politischer Ideen und die Wirtschaftsgeschichte Europas. Er veröffentlichte bereits vielbeachtete Bücher, u.a. über das Preußische Bürgertum und Friedrich II. und den Diskurs über Industrialisierung zu Voltaires Zeiten. Heute ist Schui an der Universität St. Gallen tätig. Er lebt in Mailand.
Reiner Osbild promovierte in Volkswirtschaftslehre in Trier. Danach arbeitete er 12 Jahre lang im internationalen Investment Banking. Nach Lehraufträgen und Professuren in Dalian (China) und Heidelberg übernimmt er in Kürze einen Lehrstuhl in Emden. In seinem Buch „Finanzkrise – Geld, Gier und Gerechtigkeit“ vom März 2014 geht er auch auf die ethische Dimension der Eurokrise ein.
Florian Schui hat über die Sparpolitik in Europa ein Buch geschrieben. Es heißt: "Austerität - Politik der Sparsamkeit: Die kurze Geschichte eines großen Fehlers". Darin betrachtet Schui die aktuelle Diskussion im Kontext der jahrhundertealten Ideengeschichte der Austerität - einer Idee, die sich in der Wirtschaftspolitik hartnäckig hält, "obwohl sie sich für die Bewältigung von Wirtschaftskrisen immer als großer Fehler erwiesen hat", so der Autor.
"Eine elegant geschriebene Polemik. Schui weist auf die moralische Scheinheiligkeit unserer Debatte hin. Ein Fingerzeig zur rechten Zeit." The Economist
"Eine unterhaltsame Kritik, die lehrt, wie schwierig es sein kann, der eigenen Geschichte zu entkommen - selbst wenn ein paar Tausend Jahre vergangen sind." The Independent
Sehr sparwillig waren viele Nationalstaaten in Europa zuletzt in der Tat nicht. Wurde nicht zu viel, sondern zu wenig gespart, Herr Schui?
Schui: Nein. Es wurde natürlich gespart. In jedem einzelnen Euro-Krisenland wurden Sparpakete aufgelegt und die Ausgaben gekürzt. Ich finde es erstaunlich, dass die Verteidiger der Austeriätspolitik wie Herr Osbild trotz des offensichtlichen Misserfolgs der Sparpolitik fordern, nun noch mehr zu kürzen. Nein, diese Politik ist gescheitert. Wir müssen die Sache nun kritisch evaluieren und alternative Politikansätze verfolgen. Die Einwände der Befürworter der Sparpolitik erinnern mich ein bisschen an Beiträge der „aktuellen Kamera“, der Nachrichtensendung der ehemaligen DDR. Da gab es auch immer die Meldungen: „Wenn wir jetzt noch mehr Opfer bringen, noch härter arbeiten, dann kommt das kommunistische Paradies.“ Das hat nicht geklappt, ähnlich ist es mit der Sparpolitik. Durchhalteparolen nützen nichts. Die Austeritätspolitik ist gescheitert. Jetzt noch mehr zu sparen, würde die Probleme potenzieren.
Osbild: Die Sparpolitik wurde nie richtig ernstgenommen. Das Problem: Es ist unmittelbar gar nicht im Interesse der betroffenen Regierungen, rigide Kürzungsprogramme aufzulegen. Denn – das schreiben Sie ja auch korrekt, Herr Schui – jeder Sparkurs führt zunächst zu einer Kontraktion der Wirtschaft, zu mehr Arbeitslosen und in der Folge zu höheren Defiziten. Denn die Steuereinnahmen brechen weg und die sozialen Sicherungsprogramme greifen.
Im Übrigen glaube ich, dass Sie den Begriff der Austerität zu schwammig definieren, Herr Schui. Das ist auch meine Hauptkritik an Ihrem – ansonsten wirklich gelungenen und lesenswerten - Buch.
"Die Sparpolitik ist nachweislich gescheitert"
Den Vorwurf müssen Sie genauer erklären: Was verstehen Sie denn unter Austerität?
Osbild: Das Wort Austerität wird in dem gesamten Buch nicht wirklich definiert. Oft wird „sparen“ mit „Sparsamkeit“ vermengt. Sparsamkeit ist ein ethischer Begriff, es geht da um Enthaltung, und zwar auf individueller Ebene. Reden wir von Sparpolitik, geht es um die Reduzierung der öffentlichen Aufgaben. Es geht nicht um Enthaltung, denn die Staatsausgaben sind ja nach wie vor gigantisch - sondern um eine Kürzung der Exzesse.
Schui: Ob der Einzelne oder der Staat sparsam ist, da sehe natürlich auch ich einen Unterschied. Allerdings hat die Akzeptanz der Austeritätspolitik in den mittel- und nordeuropäischen Ländern mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Die Bürger schauen auf sich und sagen: „Wenn ich kein Geld habe, muss ich mich zurückhalten.“ Das hat mit Volkswirtschaftslehre leider wenig zu tun, ist aber für die öffentlichen Debatten von großer Bedeutung. Wer die Sache jedoch nicht moralisch, sondern ökonomisch betrachtet, kann nicht für Sparpolitik sein. Sie ist nachweislich gescheitert.
Was die Kritiker der Sparpolitik sagen
"Wachstum und Beschäftigung müssen an erster Stelle kommen, und das, indem wir alle Spielräume des Stabilitätspakts nutzen."
François Hollande, französischer Staatspräsident
"Seit Beginn der Krise haben die Konservativen Europa mit einem Kürzungsfeldzug nach dem anderen überzogen."
Udo Bullmann, Vorsitzender der SPD-Abgeordneten im Europaparlament
"Unsere Regierung will unterstreichen, dass die Politik des Rigorismus und der Austerität nichts gebracht hat und für beendet erklärt werden muss."
Matteo Renzi, italienischer Ministerpräsident
"Bisher haben wir für Krisenländer Rettungsprogramme gemacht, aber wenn man aus der Intensivstation herauskommt, muss eine Reha-Phase folgen."
Peter Bofinger, Wirtschaftsweiser
"Das Setzen auf reine Sparpolitik ist gescheitert."
Sigmar Gabriel, SPD-Vorsitzender und Vizekanzler
"Sparmaßnahmen von einem Prozent des BIPs reduzieren das Produktionspotenzial der Wirtschaft um rund ein Prozent. Das zeigt: Austeritätspolitik ist in höchstem Maße kontraproduktiv."
Paul Krugman, US-Ökonom und Nobelpreisträger
Osbild: Die Sparpolitik ist gescheitert, weil sie einseitig war. Es bedarf mehr als reinen Sparens. Griechenland, Spanien & Co. brauchen Strukturreformen. Die angekündigten Privatisierungen wurden nur halbherzig verfolgt. Viel schlimmer aber: Der Wettbewerb wird nach wie vor ausgebremst. Es gibt geschlossene Berufe, die Arbeitsmärkte sind vielerorts zu starr, wer Jobs schafft, ist oftmals der Dumme. In Krisenzeiten können sich südeuropäische Unternehmen nur schwerlich von Mitarbeitern trennen und gefährden damit den ganzen Betrieb. Das ist das Problem.
Schui: Einverstanden. Ich spreche mich nicht gegen Strukturreformen aus. Das müssen aber solche sein, die die Qualität der Produktion heben. Ein verbesserter Zugang zu Wissen, höhere Investitionen in die Unternehmen, Schaffung eines wirtschaftsfreundlichen Umfelds. Was wir nicht brauchen, sind flexiblere Arbeitsmärkte, die in einer Krisensituation nur zu mehr Entlassungen und schwacher Lohnentwicklung führen. Wir brauchen auch keine Pensionskürzungen. Statt neben den Strukturreformen Reformen zu sparen, wäre es doch viel besser, diese Reformen mit einer nachfrageorientierten Politik zu unterstützen.
Osbild: Gespart werden muss wegen der Exzesse der Vergangenheit. Es gibt eine dramatische Überschuldung der öffentlichen Haushalte, die abgebaut werden muss. Es gab einen regelrechten Konsumrausch in Südeuropa, provoziert durch die Euro-Einführung und die niedrigen Zinsen. Dieses Modell ist nicht nachhaltig, weil kein Geldgeber mehr bereit war, das alles mit weiteren Krediten zu finanzieren. Also geht es nur durch rigides Sparen und Kürzen.
Was Manager, Intellektuelle und Geldleute den europäischen Politikern raten
„Zuerst müssen wir anders über Europa denken und reden: über unsere industriellen Kompetenzen, unsere Handwerkskultur, die nachhaltiges Wirtschaften erlaubt, über die Rolle eines starken Europas in einer globalisierten Welt, über Chancen, die es jungen Menschen bietet. Dann müssen wir die Ärmel hochkrempeln, um wieder zu wachsen: durch einen funktionierenden Binnenmarkt, mehr Mobilität, höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, durch Infrastrukturprojekte, einen transatlantischen Wirtschaftsraum – und Strukturreformen. 500 Millionen begeisterte Europäer können die Welt verändern!“
„Wichtig ist, dass sich keine so massiven Ungleichgewichte mehr entwickeln. Die EZB hat mit ihren Operationen Zeit gekauft. Das darf aber nur eine vorübergehende Lösung sein. Die Zentralbank muss sich wieder darauf konzentrieren, was ihre Hauptaufgabe ist: Gewährleistung der Preisstabilität!“
„Europa sollte sich daran erinnern, dass es viel mehr ist als die Europäische Union oder der Euro. Damit es eine Zukunft hat, muss der Kontinent auf seine ureigenen Stärken setzen. Das heißt: mehr Vielfalt, mehr Wettbewerb der Kulturen und Ideen, mehr pragmatische Lösungen; weniger großsprecherische Visionen, politische Zwangskonvergenz und doktrinäre Einheitssuppe aus Brüssel.“
„Das Europa des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr der Nabel der Welt. Wenn wir im Konzert der Kontinente die erste Geige spielen wollen, darf sich Brüssel nicht mehr damit befassen, ob Olivenöl nur in geschlossenen Flaschen oder auch in offenen Karaffen serviert werden darf. Wir brauchen ein geeintes Europa, das seine Stärken in den Welthandel einbringt und durch kooperative Handelspolitik ein Ende der schädlichen Strafzölle und Subventionen einleitet. Wenn es gelingt, die Staatshaushalte zu sanieren und den Euro zu stärken, und wir den europäischen Gedanken weiter denken – mit gemeinsamer Wirtschafts- und Finanzpolitik – stehen uns alle Türen offen.“
„Wer die Krise Europas überwinden will, muss den Bürgern klarmachen, dass und warum es sich lohnt, alle dafür notwendigen Anstrengungen auf sich zu nehmen. Von dieser Überzeugungsarbeit ist wenig zu sehen. Kaum ein Politiker traut sich noch, die einzigartigen Vorteile dieses Zivilisationsmodells zu verteidigen. Angela Merkels Methode, die Deutschen in eine immer höhere Haftung hineinzutricksen und den südeuropäischen Ländern nichts als Hungerkuren zu verordnen, funktioniert offensichtlich nicht. Bei den Deutschen hat diese Politik das (falsche) Gefühl bestärkt, dass sie allein für Europa zahlen und nichts von Europa haben; der jungen Generation in den Schuldenländern bringt sie Massenarbeitslosigkeit und eine Zukunft ohne Hoffnungen. Die Politik der Gipfeltreffen und ständig nachjustierten Beschlüsse hinter verschlossenen Türen ist zu Ende. Wenn das Projekt Europa noch zu retten ist, dann nur durch die Mitwirkung der Bürger, nicht hinter ihrem Rücken.“
Schui: Herr Osbild, Sie entlarven sich und Ihre Argumente durch Ihre Wortwahl. Sie sprechen von „Exzessen“ und einem „Konsumrausch“. Das ist die moralische Herangehensweise an die Krise: Sie sagen, es sei falsch gehandelt worden, jetzt müsse gesühnt werden. Das ist rückwärtsgewandt und wenig ökonomisch gedacht. Die Frage ist doch: Wie bekommen wir mehr Wachstum? Sicher nicht durch eine noch krassere Sparpolitik.
"Die Schulden müssen abgebaut werden"
Herr Osbild, geht es Ihnen – ich formuliere es mal etwas vorsichtiger als Herr Schui – darum, dass die Auslöser der Krise erfahren sollen, was sie angerichtet haben? Wollen Sie den Südeuropäern für ihren hohen Konsum, für ihre hohen Ausgaben nun die Rechnung überreichen?
Osbild: Nein, das ist Unfug. Europa hat sich nicht auf eine Sparpolitik für die Südländer geeinigt, weil man jemanden bestrafen will. Vielmehr sind die entsprechenden Länder an den Kapitalmärkten ihre Staatsanleihen nicht mehr zu vertretbaren Renditen losgeworden. Das ist doch der Ausgangspunkt der Euro-Krise und der Rettungsmaßnahmen. Die Investoren hatten Zweifel, dass die enormen Defizite und Schulden, die verbucht wurden, je wieder ausgeglichen würden. Deswegen haben sie hohe Risikoprämien verlangt. Inzwischen musste schon die EZB eingespringen und ankündigen, zur Not auch Schrottpapiere zu kaufen, um die Investoren bei Laune zu halten. Das kann ja wohl nicht der richtige Weg sein. Die Schulden müssen abgebaut werden. Aus dem einfachen Grund: Wir müssen den südeuropäischen Ländern wieder den Zutritt zu den Kapitalmärkten ermöglichen.
Wo sich die Schuldensünder der Euro-Zone verbessert haben
Haushaltsdefizit (Anteil am Bruttoinlandsprodukt ohne Bankenhilfe)
Griechenland
2009: -15,7 % 2013: -2,1 %
Portugal
2009: -10,2 % 2013: -4,5 %
Spanien
2009: -11,1% 2013: -6,6 %
Irland
2009: -12,4 % 2013: -6,7 %
Eurozone
2009: -6,4 % 2013: -3,0 %
Leistungsbilanzdefizit*
Die Exporte von Portugal (+37 %) und Spanien (+35%) haben zwischen 2009 und 2013 schneller zugelegt als in Deutschland (+33%)
Griechenland
2009: -14,4 % 2013: -2,3 %
Portugal
2009: -10,8 % 2013: +0,4 %
Spanien
2009: -4,8 % 2013: +1,1 %
Irland
2009: -2,3 % 2013: +7,0 %
Eurozone
2009: +0,2 % 2013: +2,7 %
(*im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt)
Die Schuldenkrise bescherte Griechenland, Spanien, Portugal und Irland eine tiefe Rezession. In Spanien sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 7,5 Prozent, in Portugal um 8,5 Prozent und in Griechenland sogar um 20 Prozent. Für 2014 erwarten Analysten nach fünf Jahren endlich überall wieder Wachstum - wenn auch nur in vergleichsweise kleinem Umfang. Allerdings ist dabei auch der Abstand zwischen Peripherie und den Kernländern.
Wirtschaftsvertrauen der EU-Kommission.
Den Tiefpunkt erreichte die Stimmung 2009. Bei der Erhebung im April 2015 war der Wert nur noch in Griechenland leicht unterdurchschnittlich.
Griechenland
2009: 74,8* April 2014: 95,4
Portugal
2009: 75,4 April 2014: 100,6
Spanien
2009: 73,8 April 2014: 101,5
Eurozone
2009: 70,1 April 2014: 102,0
(100 Punkte = langfristiger Durchschnitt; keine Werte für Irland)
In den ersten Jahren nach der Euro-Einführung haben die Peripherieländer ihre Lohnstückkosten deutlich gesteigert. Seit 2010 gab es einen deutlichen Richtungswechsel. Nach den Berechnungen des Anleihenmanagers Bantleon ist der zuvor aufgebaute Wettbewerbsnachteil durch hohe Lohnstückkosten inzwischen verschwunden
Entwicklung der Lohnstückkosten seit Anfang 2009:
Griechenland -15,0 %
Portugal -6,6 %
Spanien -7,6 %
Irland -13,0 %
Eurozone +3,0 %
Auch wenn es in der Öffentlichkeit oft so ankommt, als würden würden die Krisenländer in der Euro-Peripherie sich mit der Umsteuerung schwertun, so wurden doch weitreichende Reformen am Arbeitsmarkt, in den Renten- und Steuersystemen sowie Verwaltungen vorgenommen. Das etwa der Arbeitsmarkt flexibler geworden ist, belegt der Employment Protection Index der OECD. Je niedriger sein Wert, um geringer die Regulierung am Arbeitsmarkt durch Kündigungsschutz, Abfindungszahlungen, Probezeiten, etc.) Bis auf Irland habe sich alle Krisenländer verbessert.
Griechenland
2008: 2,9 2013: 2,4
Portugal
2008: 3,5 2013: 2,7
Spanien
2008: 2,7 2013: 2,3
Irland
2008: 2,0 2013: 2,1
Eurozone
2008: 2,4 2013: 2,3
Schui: Absolut richtig. Die Schulden müssen gesenkt werden. Aber nochmal: Die Frage ist doch, wie das gelingen kann. Welche Ausgabenpolitik schafft das höchste Wachstum? Doch nicht eine rigide Sparpolitik! Diese vergrößert die Not, da sie die Wirtschaft abwürgt, die Steuereinnehmen reduziert und damit den Schuldenabbau blockiert.
Was haben Sie gegen Konjunkturpakete, Herr Osbild?
Osbild: Hier lohnt ein Blick auf John Maynard Keynes. Er hat in den Dreißigerjahren festgestellt, dass die damaligen Krisen in der geringen Nachfrage begründet liegen. Wenn die Nachfrage sinkt, so Keynes, muss der Staat die Wirtschaft stimulieren. Die zentrale Frage ist: Handelt es sich um Konjunkturausschläge, die wir mit staatlichen Konjunkturprogrammen oder einer Politik des billigen Geldes korrigieren können oder liegen die Ursachen woanders?
Sie lehnen Konjunkturpakete also nicht per se ab?
Osbild: Ich würde mich allenfalls für eine passive keynesianische Politik aussprechen. Das heißt: Wenn keine Strukturprobleme vorliegen und die Nachfrage sehr gering ist, sollten krisenbedingte Steuerausfälle und Ausgabensteigerungen für die Arbeitslosen durch öffentliche Kredite abgefangen werden. Allerdings müssen dann auch in den Boomjahren die Ausgaben gedrosselt und die Steuern wieder erhöht werden. Das ist aber in den sechs Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nur ganz vereinzelt geschehen. Keynesianismus wurde bisher immer nur als Einbahnstraße – als Freifahrtschein für höhere Ausgaben und Schulden – verstanden.
Ganz konkret: Waren die Konjunkturprogramme richtig, die die Bundesregierung auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 und 2009 aufgelegt hat?
Osbild: Sie waren unnötig. Die Abwrackprämie hat vor allem den Autobauern Kunden gebracht, die kleine Pkw bauen, das sind nicht unbedingt die deutschen Hersteller. Das Bildungspaket greift langfristig, hatte also keinen kurzfristigen Einfluss. Ich würde die Wirkung der Konjunkturprogramme also nicht überbewerten.
"Ein deutsches Konjunkturprogramm könnte ganz Europa helfen"
Schui: Ich sehe das ganz anders. Die Konjunkturprogramme waren zu klein, haben aber dennoch positiv gewirkt: Die Wirtschaft wurde gestärkt, Massenarbeitslosigkeit verhindert. Hätte man auf europäischer Ebene in koordinierter Form ähnlich gehandelt, wäre die ökonomische Krise nun viel kleiner. Aber es ist noch nicht zu spät: Wenn Deutschland ein neuerliches Konjunkturprogramm auflegt und den Konsum der Deutschen anstößt, könnte ganz Europa davon profitieren.
Wenn Sie denn südeuropäische und nicht deutsche Produkte kaufen...
Schui: Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, die Konjunktur anzukurbeln. Sie können – ähnlich wie bei der Abwrackprämie – Subventionen bei Neuanschaffungen bereitstellen. Oder die Steuern werden gesenkt. Oder – und dafür plädiere ich – die Löhne steigen. Mir ist bewusst, dass das keine staatliche Aufgabe ist, sondern die Tarifparteien dafür verantwortlich sind. Aber ähnlich wie die Bundesbank könnte die Regierung eine Diskussion um höhere Löhne anstoßen. Außerdem kann die Politik die Instrumente nutzen, die sie hat: etwa Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären und den Mindestlohn anheben. Im Übrigen würde ein Konjunkturprogramm die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter reduzieren und damit die Verhandlungsposition der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen stärken.
So lange arbeiten wir nur für den Staat
Zählt man alle Abgaben, direkten und indirekten Steuern zusammen, lässt sich ausrechnen, bis zu welchem Tag im Jahr wir statistisch gesehen nur für Staat und Sozialkassen arbeiten. Im Schnitt aller Einkommensgruppen ist dieser „Steuerzahlergedenktag“, wie ihn der Steuerzahlerbund getauft hat, 2013 am 8. Juli.
1960: 27. Mai
1970: 9. Juni
1980: 3. Juli
1990: 24. Juni
2000: 19. Juli
2010: 29. Juni
2011: 5. Juli
2012: 8. Juli
2013: 8. Juli
Quelle: Bund der Steuerzahler
... zahlt ein Hartz-IVEmpfänger mit einem Regelsatz von 382 Euro, an den Staat
... arbeiten ein Ehepaar oder ein Alleinverdiener mit zwei Kindern mit einem Haushaltseinkommen von 4190 Euro, für den Staat
... arbeitet ein Ehepaar als Doppelverdiener im Eigenheim mit zwei Kindern und einem Haushaltseinkommen von 13.630 Euro, für den Staat
... arbeitet ein Single mit einem Haushaltseinkommen von 5760 Euro, für den Staat
... arbeitet ein Unternehmer mit 100 Millionen Euro Umsatz und 5,4 Millionen Euro Gewinn vor Steuern, für den Staat
In der Folge würde sich die Arbeit in Deutschland verteuern. Das Land verliert an Konkurrenzfähigkeit.
Schui: In Deutschland haben sich die Löhne nicht im gleichen Maße wie die Produktivität entwickelt. Die Bundesrepublik war zu günstig. Das geht zulasten der südeuropäischen Wirtschaften. Eine Korrektur wäre demnach dringend geboten. Zumal: Deutschland muss und sollte ein Interesse daran haben, dass es Europa gut geht und es hat auch ein ganz eigenes Interesse daran die Binnennachfrage zu stärken, um das Wachstum zu stärken.
Osbild: Europa hat nichts davon, wenn Deutschland teurer wird. Die Schwächeren sollten sich an den Stärkeren orientieren und nicht andersherum. Denn die deutschen Exporteure stehen nicht nur im Wettbewerb mit europäischen Firmen, sondern müssen global konkurrenzfähig sein. Zudem: Löhne werden in Hunderten von Regionen in Dutzenden von Branchen ausgehandelt. Wenn man nun das Ergebnis sicherstellen wollte, dass die durchschnittliche Erhöhung in Deutschland x Prozent über der der Krisenländer liegen solle, erforderte dieses eine riesige Kontrollbehörde. Brüssel würde de facto auch noch die Löhne diktieren. Das würde die Akzeptanz der Währungsunion und sogar der Europäischen Union extrem gefährden.
Die zehn wettbewerbsfähigsten Länder der Welt
Unter den Top 10 der wettbewerbsfähigsten Ländern befinden sich gleich drei skandinavische Staaten. Den Anfang macht Norwegen auf Rang 10. Damit verliert das Land im Vergleich zum Vorjahr vier Plätze. Nahezu unschlagbar ist Norwegen in den Punkten gesellschaftliche Rahmenbedingung, Produktivität und Effizienz, sowie politischer Stabilität. Doch die Steuerlast und die Einkommen sind sehr hoch. Das macht es für Unternehmen in dem Land schwer, konkurrenzfähige Preise zu bieten.
Neu vertreten unter den zehn wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt ist Dänemark. Die Skandinavier klettern um drei Plätze nach oben. Das Land weist die geringste soziale Ungleichheit auf (Rang eins beim Gini-Index), kennt das Wort Korruption praktisch nicht (Rang eins) und hat einen äußerst flexiblen Arbeitsmarkt (Rang zwei). Auf der Negativseite steht die hohe Besteuerung von Konsumgütern (Rang 49) und dem Einkommen (Rang 59) .
Auch die Vereinigten Arabischen Emirate verteidigen ihren Platz in den Top 10. Von Platz 16 im Jahr 2012 ging es 2013 und 2014 hoch auf Rang acht. Die Emirate gelten als der Knotenpunkt für Tourismus, Handel und Luftfahrt. Im Ranking punkten die Arabischen Emirate besonders mit den Unternehmenssteuern (Platz eins im weltweiten Vergleich), den Umsatzsteuern (Platz eins), der Einkommenssteuer (Platz eins), den Sozialversicherungsbeiträgen, der Bürokratie und dem Altersdurchschnitt der Gesellschaft. Auch beim Image, der Erfahrung und der Bereitschaft, ausländische Fachkräfte anzuheuern, kann das Land punkten. Mau sieht es dagegen mit der Beschäftigungsrate von Frauen aus.
Kanada festigt den siebten Platz. Das Land gilt wegen seiner Facharbeiter, der politischen Stabilität, dem hohen Bildungslevel, der guten Infrastruktur und dem unternehmerfreundlichen Umfeld als besonders attraktiv für Unternehmen.
Gleich drei Ränge nach oben geht es für Deutschland. Der positive Trend setzt sich damit fort. Berlin belegte im Jahr 2007 noch Rang 16. Besonders gut steht Deutschland unter anderem bei der Jugendarbeitslosigkeit (weltweit Rang fünf), Export (weltweit Rang drei) und der Diversifizierung der Wirtschaftstätigkeit (Rang zwei) da. Auch bei Ausbildung und Lehre (Platz eins), Fortbildungen (Platz zwei), Produktivität der Arbeitskräfte und kleinen und mittelständischen Unternehmen (jeweils Platz eins) macht Deutschland keiner etwas vor. Bei Sozialversicherungsbeiträgen (Rang 54), Arbeitsstunden (Rang 53) oder dem Ausbau von Highspeed-Breitband (Rang 53) kann Deutschland noch etwas lernen.
Schweden kommt in dem internationalen Vergleichsranking als zweitbeste europäische Nation auf einen guten fünften Platz. 2013 hatte es zwar noch für Rang vier gereicht, dennoch ist das nordische Land optimal für den globalen Wettbewerb aufgestellt - ganz anders als etwa 2007, als das Land nur Platz 19 belegte. Besonders in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung, Management und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist das skandinavische Land unschlagbar. Auch die Produktivität der Firmen und das Finanz-Know-How sind weltspitze.
Um einen Platz nach unten geht es für die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong. 2012 hatte es die chinesische Metropole noch auf Platz eins geschafft. Unternehmen aus aller Welt schätzen Hongkong besonders wegen der attraktiven und wettbewerbsfähigen Besteuerung der Unternehmen, dem wirksamen Rechtssystem, der unternehmerfreundlichen Umgebung, der verlässlichen Infrastruktur und der dynamischen Wirtschaftsentwicklung. Ganz gut steht Hongkong auch bei der Höhe der Steuersätze für die Bürger, dem Bank- und Finanzsektor sowie den Direktinvestitionen da.
Vom fünften auf den dritte Platz geht in diesem Jahr für Singapur. Das asiatische Land wird von Unternehmen wegen seiner kompetenten Regierung, der verlässlichen Infrastruktur, dem wirksamen Rechtssystem und dem stabilen politischen System sowie seiner Unternehmerfreundlichkeit geschätzt.
Der zweite Platz geht - wie im Vorjahr - an die Schweiz. Der kleine Alpenstaat mit seinen nur rund acht Millionen Einwohnern punktet besonders mit sehr gut ausgebildeten Fachkräften und hohen wissenschaftlichen Standards. Unternehmen aus aller Welt schätzen die politische Stabilität in der Schweiz genauso wie die gut ausgebildeten Arbeitskräfte vor Ort, die hohe Bildung, die herrschenden Steuersätze und die verlässliche Infrastruktur.
Die wirtschaftlich stärkste und wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft der Welt sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Zu diesem Ergebnis kommt das IMD World Competitiveness Center in seiner aktuellen Vergleichsstudie. Demnach punktet die US-Amerikaner mit einer dynamische Wirtschaft, qualifizierten Arbeitskräften, den guten Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, sowie den starken Fokus auf Forschung und Entwicklung.
Schui: Die Kritiker der Spar- und Europolitik widersprechen sich selbst. Einerseits fürchten Sie Lohnerhöhungen. Andererseits erklären Sie, eine Rückkehr zur D-Mark – und die dann zu erwartende Aufwertung – sei ungefährlich, da die deutsche Wirtschaft stark genug sei. Da komme ich nicht mehr mit.
„Die Vergemeinschaftung der Schulden lehne ich ab"
Osbild: Ich helfe Ihnen gerne, Herr Schui. Bei einer Rückkehr zur D-Mark und einer anschließenden Aufwertung der Währung würden sich ja die Importe verbilligen und die Preise wieder drücken. Einen Ausgleich für Lohnerhöhungen in Ihrem Modell sehe ich nicht. Aber in einem Punkt stimme ich Ihnen zu: Wir sollten die Nachfrage in Deutschland tatsächlich ankurbeln.
Und wie?
Osbild: Wir haben mit der kalten Progression das Phänomen, das jede Lohnsteigerung des Bürgers fast komplett in die Staatskassen fließt. Um die Kaufkraft zu stärken, muss das Steuersystem verändert werden. Wir sollten die Freigrenzen radikal erhöhen Sprich: Die Besteuerung des Einkommens sollte nicht bei rund 8400 Euro einsetzen, sondern erst ab einem Bruttoeinkommen von 18.000 oder 20.000 Euro im Jahr. Das würde riesen Konsumschub ausläsen – ohne die Lohnkosten zu erhöhen.
Zusätzliche Belastung für Familien (Ehepaar mit 2 Kindern) durch die kalte Progression in dieser Legislaturperiode ab einem zu versteuerndem Jahreseinkommen* von:
2014: 1115 Euro
2015: 1447 Euro
2016: 1787 Euro
2017: 2131 Euro
Gesamt: 6480 Euro
* Basisjahr 2010 (letzte Tarifreform), Annahmen: Tarif 2014; keine Tarifänderungen 2015 bis 2017; unterstellte Inflationsraten 2011 bis 2017: (2,1 %; 2,0 %; 1,5 ; 1,5 %; 1,8 %; 1,8 %; 1,8 %); Solidaritätszuschlag ist berücksichtigt; Quelle: Deutsches Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler
2014: 1115 Euro
2015: 1447 Euro
2016: 1787 Euro
2017: 2131 Euro
Gesamt: 6480 Euro
2014: 663 Euro
2015: 887 Euro
2016: 1122 Euro
2017: 1366 Euro
Gesamt: 4038 Euro
2014: 298 Euro
2015: 420 Euro
2016: 543 Euro
2017: 671 Euro
Gesamt: 1932 Euro
2014: 151 Euro
2015: 230 Euro
2016: 312 Euro
2017: 400 Euro
Gesamt: 1093 Euro
Wäre das ein Modell auf das Sie sich einigen könnten? Hat Europa so eine positive Zukunft?
Schui: Das könnte ein erster Schritt in die richtige Richtung sein. Insgesamt gilt: Europa hat nur dann gute Aussichten, wenn wir aufhören, nationalstaatlich zu denken. Durch die Gründung der Euro-Zone ist Europa zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden. Wir müssen aufhören, mit dem Finger aufeinander zu zeigen, und stattdessen an Lösungen arbeiten, die allen helfen. Solch eine Lösung wäre – ich wiederhole mich – die Beendigung der Sparpolitik, das Fördern der Nachfrage der Deutschen durch kräftige Lohnerhöhungen oder meinetwegen auch Steuersenkungen. Das müssen aber Steuersenkunken für Einkommen mit niedriger Sparquote sein, das heißt für niedrigere Einkommen. Und die Gegenfinanzierung darf nicht durch Sparmaßnahmen der öffentlichen Haushalte erfolgen. Sonst gibt es keine Nachfragewirkung. Vielmehr muss durch stärkere Besteuerung hoher Einkommen und nicht-investierter Unternehmensgewissen kompensiert werden.
Osbild: Europa muss sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Griechenland, Spanien und Portugal haben zwischen 1998 und 2005 durch Lohnexzesse massiv an Konkurrenzfähigkeit verloren. Diese gilt es zurückzugewinnen: durch Strukturreformen und ambitionierte Privatisierungs- und Sparprogramme. Nur dann hat die Euro-Zone eine positive Zukunft.
Alle Maßnahmen, die den Druck von den Nationalstaaten nehmen, sich zu erneuern, also die Vergemeinschaftung der Schulden oder der Ankauf von Schrottpapieren durch die EZB, lehne ich ab. Diese sind kontraproduktiv.