Tauchsieder
Schade nur, dass das Interesse Merkel-Deutschlands an Europa so begrenzt ist. Quelle: imago images

Ach, Europa!

Gäbe es Europa nicht, man müsste es erfinden – als Alternative zum vulgären Neo-Nationalismus in den USA und zum Kaderkapitalismus in China. Schade nur, dass das Interesse Merkel-Deutschlands an Europa begrenzt ist.

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Das beste Werbeplakat des Europawahlkampfes stammt fraglos von den Grünen: „Europa“, steht darauf: „Die beste Idee, die Europa je hatte.“ Knapper, frischer und treffender lässt sich das Selbstverständnis der Nachkriegsgeneration auf dem Kontinent, lässt sich das antibellizistische Pathos vormaliger Erzfeinde, lassen sich die bildmächtigen Aussöhnungsgesten von Adenauer-deGaulle über Schmidt-d’Estaing bis hin zu Kohl-Mitterand nicht fassen. Ja, das Europa dieser Männer ist tatsächlich die beste Idee, die Europa je hatte: Man vergleiche nur einmal die knapp 75 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit den 75 Jahren davor: Sie reichen über zwei Weltkriege und Millionen von Toten zurück in eine Zeit der enthemmten Nationalgefühle und des völkisch gesinnten Kampfeseifers, zurück zum deutsch-französischen Volkskrieg von 1870/71, zum ersten „Frieden“ von Versailles, der allein der Demütigung und Erniedrigung des verfeindeten Nachbarn diente. 

Allein: Was ist mit dieser Idee fürs 21. Jahrhundert gewonnen? Die Nachkriegsgeschichte ist für viele junge Menschen heute bestenfalls noch ein theoretischer Referenzpunkt: Wer heute 20 ist, kennt die Mauer vom Hörensagen, den Kalten Krieg aus dem Lehrbuch - der liest die Geschichte des Nationalsozialismus distanziert-historisch, nicht konkret-politisch - für den ragt Adolf Hitler nicht mehr ins Alltagsleben hinein, für den ist Hitler eine geschichtliche Figur, die man sich so schwer vergegenwärtigen kann wie Wilhelm Zwo und Napoleon. Das ist der Preis einer zukunftsbesessenen Moderne: Mit dem ständigen Sturz nach vorne schrumpft die Zeit, in der wir uns unserer Vergangenheit verbunden wissen (können) - aus der heraus wir erinnernd politisch denken und handeln. Zu den Folgen gehört, dass das Konzept der „Pfadabhängigkeit“ heute weniger linear und tiefenhistorisch, mehr kreisförmig und gegenwartsprozessual gedacht werden müsste. Vor allem, wenn es um Europa geht. Es reicht nicht mehr, dass die „Idee Europa“ in Institutionen und Behörden aufbewahrt ist, dass im Euro und im Schengen-Raum ein Friedensprojekt eingelagert ist, dass das kollektive Handeln in Brüssel vom Geist der Elysee-Verträge beseelt ist. Was einmal selbstverstärkende Effekte hatte und die einmal eingeschlagene Richtung pro Europa bestätigte, von der Grenzenlosigkeit des Kontinents und der Aufnahme neuer Mitglieder bis hin zur Einführung einer gemeinsamen Währung - das begegnet vielen Bürgern heute als hohle Sonntagsphrase, bedrängende „Alternativlosigkeit“ und tautologische Unsinnsformel: Banken retten, Griechenland helfen, Migranten an Bord holen - weil Europa Europa ist.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich an der „Idee Europa“ mit bestem Wissen und Gewissen versündigt – doppelt versündigt, um genau zu sein. Sie hat das postnationale Selbstverständnis Deutschlands in Europa protokollarisch korrekt vertreten, gewiss, aber nicht mehr als historischen Gestaltungsauftrag gesehen, geschweige denn staatsräsonal vorgelebt. Vor allem aber hat sie jeden normativen Anspruch vermissen lassen – keinen Versuch unternommen, Europa in einer vorgestellten Zukunft Wurzeln schlagen zu lassen. Im Gegenteil. Merkel hat der deutschen Europapolitik allen Ehrgeiz abtrainiert – weshalb Berlin heute nicht nur in Brüssel und Paris, sondern Berlin, Brüssel und Paris auch in Washington, Moskau und Peking sprach-, rat- und hilflos einer dezisionistischen, faktenschaffenden Politik gegenüber stehen. Einer Politik, wie sie in nationaldespotischer Weise etwa Russland, China und die Türkei, in nationalautoritärer Weise die USA, aber auch Polen, Ungarn und Österreich praktizieren.

Akzente in Europa, für Europa, setzen andere: Frankeichs Staatspräsident Emmanuel Macron, der sich Europa als Verteidigungspakt und Sozialraum vorstellen kann. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die dem Silicon Valley die Grenzen der Konzernmacht aufzeigt. Zuletzt sogar die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, als sie sich gegen Kritik der USA am europäischen Verteidigungsfonds verwahrte.

Merkel dagegen reagiert spät oder gar nicht auf den Lauf der Dinge. Beispiel China. Die Kanzlerin hat das Land ein Dutzend Mal bereist, den Ehrgeiz des Landes bewundert und die Affirmationsbereitschaft, mit der viele Chinesen den technologischen Fortschritt umarmen. Sie hat sich der deutschen Wirtschaft, Managern in der Autoindustrie und im Maschinenbau, dabei gerne als eine Art politisches Assistenzsystem angedient – und die deutschen Arbeitnehmer auf jeder zweiten Cebit ermahnt, die „ungeahnten Erfolge“ der Chinesen zur Kenntnis zu nehmen, sich dem verschärften Innovationswettbewerb zu stellen. Und jetzt? Dass deutsche Firmen sich bei ihren China-Engagements in ungünstige Joint Ventures verwickelten und technologisch abzapfen ließen; dass die deutsche Politik den Chinesen faire Wettbewerbsbedingungen offerierte, einen freien Marktzugang gewährt und dabei duldete, wie Peking die heimische Wirtschaft währungs- und industriepolitisch schützte und stützte - das alles sind längst nicht mehr die einzigen Nebenkosten des naiven, wertblinden, rein wirtschaftsopportunen Verhaltens zum Wohle der deutschen Exportindustrie. China greift machtvoll auf Rohstoffe zu, forciert Investitionen in Künstliche Intelligenz und Elektroautos, treibt seine Seidenstraßen-Initiative voran - und stellt nicht nur Deutschland, sondern Europa die Machtfrage.

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