Tauchsieder

Macron führt - Merkel vor?

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Das Wunder der Aussöhnung

Zweitens: Warum sind die Wirtschaftswunder-Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hierzulande eine Heldensage und die Trente Glorieuses in Frankreich nur eine glückliche Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg? Nun, die Antwort ist ziemlich einfach: Weil Deutschland seit 1914 seine Souveränität verspielt - und die Geschichte mit dem deutschen Nationalismus auch den deutschen Staat verneint - hatte. Weil Ludwig Erhard den (west-)deutschen Staat 1948 aus dem Geist der Marktwirtschaft gründete, noch bevor er sich staatsrechtlich konstituierte: „Seine Wurzel“, schreibt der französische Philosoph Michel Foucault, „ist vollkommen ökonomisch.“

Man kann die Bedeutung der Währungsreform und die Freigabe der Industriepreise daher nicht hoch genug einschätzen: Ein knappes Jahr vor Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 waren nicht nur jede Menge Waren im Umlauf, sondern auch jede Menge Vertrauen in ein Deutschland, das keine totalitären Züge mehr aufwies. „Der institutionelle Embryo“ eines Staates, der gleichsam unter der Aufsicht des Marktes stand, erzeugte positive „politische Zeichen“, so Foucault: Erhards dezentral organisierte Marktwirtschaft schuf die „Legitimität für einen Staat“, der sich anschickte, ihr Garant zu werden.

Anders als in Frankreich (anders auch als in England und den USA), wo sich der (bestehende) Staat als "Modernisierungsagentur" verstand und (fast dasselbe) Wachstum durch "Planification" entfesselte, ist (West-)Deutschland im Geiste des Neoliberalismus aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges auferstanden. Während die Siegermächte an die planerischen Erfordernisse der Kriegswirtschaft anknüpften, die Umstellung auf eine Friedenswirtschaft mit staatlichen Impulsen steuerten und sozialpolitisch abfederten, unterzog Erhard das besetzte und zerstörte Deutschland dem Praxistest der neoliberalen Theorie: Die ökonomische Praxis in Frankreich und Deutschland ist (bis heute) fundmental verschieden.

Drittens: Die Regierungen in Paris haben an der Idee einer etatistischen Wirtschaftspolitik und einer starken Zentralmacht stets festgehalten - nicht zuletzt aus Furcht vor Deutschland. Doch wie konnte unter diesen Bedingungen das Wunder der Aussöhnung geschehen? Auf einen einfachen Nenner gebracht: Das Primärinteresse Frankreichs, seinen östlichen Nachbarn zähmend in Europa einzubinden, korrespondiert seit 1945 perfekt mit dem Primärwunsch Deutschlands, sich marktwirtschaftlich politneutral zu verhalten - und gewissermaßen postnational in Europa aufzulösen.

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, lässt man am besten die Achtzigerjahre Revue passieren: Der stolze Sozialist Francois Mitterrand ist damals französischer Staatspräsident. Er erwartet vom Ausbau der EU einen weiteren Prestigeverlust Frankreichs und fürchtet zugleich eine wirtschaftspolitisch dominante Bundesrepublik - bevor er an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl zum Anhänger einer Europa-Politik konvertiert, die Deutschland aufs Freundschaftlichste fesselt: Die Gefahr eines sich absichtsvoll verzwergenden Deutschlands, das Brüssel-Europa wirtschaftlich dominiert, scheint ihm, zumal nach der Wiedervereinigung, berechenbarer zu sein als die Gefahr einer berlin-deutschen Mittelmacht in einem Europa der Nationalstaaten.

Die europäischen Staatschefs lassen sich den postheroischen Internationalismus Deutschlands und seinen ostentativen Willen zur politischen Selbstbeschränkung damals reich vergüten. „Jede für Europa ausgegebene Mark ist gut angelegtes Geld“ – davon ist Helmut Kohl, der Anti-Bismarck, überzeugt – und seine Amtskollegen wissen es auszunutzen. Frankreich braucht nur ein wenig zu stöhnen über teure Agrarreformen – schon ist Kohl bereit, die Deutschen zur Kasse zu bitten (1984). Auf dem Höhepunkt von Kohls Kanzlerschaft, 1990, finanziert die Bundesrepublik fast 70 Prozent der EU-Nettotransfers.

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