Tauchsieder
Video-Schalte: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Quelle: dpa

Der kontrollierte Bankrott

Unser Wirtschaftssystem floriert auf der Basis des Ruins. Die aufgeschobene Insolvenz ist seine Geschäftsgrundlage. Schulden werden nicht mehr getilgt, sondern mit neuen Schulden ins Unendliche verlängert. Wie lange kann das gutgehen? Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte liefert Antworten.

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Sie lesen einen Beitrag aus dem WirtschaftsWoche-Archiv.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Emmanuel Macron haben in dieser Woche ihre „deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise“ vorgestellt. Danach soll die EU, über bereits beschlossene Hilfsmaßnahmen hinaus, einen 500 Milliarden Euro schweren „Wiederaufbaufonds“ einrichten. Das Prinzip: Brüssel leiht sich Geld an den Finanzmärkten – und verteilt es in Form von zweckgebundenen Zuschüssen an besonders betroffene Branchen, Regionen und Länder. Deutschlands Anteil an dem Programm liegt, entsprechend dem deutschen Anteil am EU-Haushalt (27 Prozent), bei 135 Milliarden Euro. Die Rückzahlung der Schulden soll aus dem EU-Haushalt erfolgen und sich über 20 Jahre erstrecken.

Aber handelte es sich im Fall einer Rückzahlung der Schulden tatsächlich um Zuschüsse? Klar ist: Die Kredite stellen eine gemeinsame Verbindlichkeit aller EU-Länder dar, für deren Günstigkeit und Güte vor allem solvente Länder wie Deutschland bürgen. Das kommt stark verschuldeten Volkswirtschaften, von deren Bonität die privaten Gläubiger nur noch begrenzt überzeugt sind, zu gute. Insofern stellen die niedrigen Zinsen der Anleihen bereits indirekt einen Zuschuss Deutschlands an andere Länder dar.

Klar ist aber auch: Nur wenn die Hauptempfänger am Ende weniger zurückzahlen als sie erhalten, kommen sie in Genuss von Zuschüssen, nicht Krediten. Es sei denn, die Rückzahlung der Schulden erstreckt sich nicht über 20 Jahre, sondern die Schulden werden beizeiten mit neuen Schulden beglichen, also gleichsam ad infinitum, ins Unendliche verlängert.

Wahrscheinlich ist das der Kern des Kompromisses zwischen den Regierungszentralen in Deutschland und Frankreich: Merkel kann die Hilfen den Deutschen (mit Mühe) als Kredit verkaufen, Macron den Franzosen (mit Stolz) als Zuschuss – und beiden gemeinsam ist, dass sie vor allem Zeit kaufen, wieder einmal: Die aufgeschobene Insolvenz ist spätestens seit der Finanz- und Eurokrise die Geschäftsgrundlage unseres Wirtschaftssystems, der kontrollierte Bankrott sein konstitutives Element. Neu ist allein, dass es seit der Coronakrise niemanden mehr gibt, der diese Elementartatsache zu bemänteln versucht: Der finanzmarktliberale Staatsschuldenkapitalismus floriert paradoxerweise auf der Basis seines Ruins.

von Benedikt Becker, Malte Fischer, Daniel Goffart, Dieter Schnaas

Der Ökonom Jens Südekum hat sich in einem Beitrag für das Handelsblatt zuletzt glasklar ausgedrückt: Wir müssen die explodierenden „Staatsschulden… einfach hinnehmen“. Und es stimmt ja auch: Ohne Stimuli der Regierungen und Notenbanken würde die Weltwirtschaft jahrelang „in einem deflationären Labyrinth feststecken“. Was es daher brauche, so Südekum weiter, seien Steuersenkungen, öffentliche Investitionen – und Schulden, die „möglichst langfristig finanziert und durch permanentes Überwälzen – also die Ausgabe neuer Anleihen zur Bedienung der alten – immer weiter in die Zukunft geschoben werden“. Südekum glaubt, die Industriestaaten könnten auf diese Weise, vor allem dank strukturell niedriger Zinsen, „aus dem Schuldenproblem der Coronakrise einfach herauswachsen“ – ihre Kreditprobleme im Wege der Geldschöpfung, „offiziell und unbegrenzt“, lösen.

Doch was, wenn die Zinsen nicht niedrig blieben? Wenn die Notenbanken aufhörten, unaufhörlich Geld zu schöpfen, den Preis des Geldes künstlich niedrig zu halten? Nun – dann kollabierte das Geldsystem. Daran haben die Akteure an den Finanzmärkten ersichtlich kein Interesse. Sie müssten dasselbe Geldsystem beargwöhnen, das vor allem sie prämiert: ein Geldsystem, das ihre Vermögen schützt und von allen Erschütterungen des realwirtschaftlichen Lebens abschirmt. Die „Stabilität“ der Indizes weltweit beweist es: Die Aufgabe der Finanzmärkte besteht nicht mehr wie ehedem darin, der Wirtschaft als ihr Seismograf über sich selbst Auskunft zu verleihen, sondern darin, dass das Geld der Vermögenden sich in ihnen möglichst unbegrenzt vermehren kann. „Die Börse“ ist in diesem System kein Markt der Märkte mehr, in denen die Wirtschaft sich selbst den Puls fühlt, sondern eine Geldmaschine, die darauf programmiert ist, alle Verbindungsreste zur schwach wachsenden Realwirtschaft zu kappen. Das „interessierte Geld“ institutioneller Anleger sammelt sich als „Marktkapitalisierung“ zusehends in den wenigen wachstumsstarken The-Winner-takes-it-all-Unternehmen des spätmodernen Plattformkapitalismus und forciert damit seinerseits die Konzentration der Wirtschaft und Vermögen – auf Kosten des Wettbewerbs und der Nicht-Besitzenden: Amazon ist heute mehr wert als alle 30 Dax-Titel zusammen – und hält viele seiner Mitarbeiter gern besonders kurz.

Und die nominell unabhängigen Notenbanken? Die sind in diesem Spiel längst zu Durchführungsagenturen einer in Washington, Berlin und Brüssel abgemischten Rettungspolitik verkommen – dazu verdonnert, immer neues Fiatgeld in das zu pumpen, wofür früher einmal das Wort vom „gesunden Wirtschaftskreislauf“ zur Verfügung stand. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl spricht zu Recht von „Souveränitätsreservaten eigener Ordnung“, in denen Staaten, Notenbanken und Finanzmärkte informell miteinander verflochten sind und operieren: von einer „exekutiven Macht“ ohne Mandat, die sich im Rahmen „einer allgemeinen Notstandsmentalität“ formiert hat. Sie wirkt als „vierte Gewalt“, in der „Stabilitätsmechanismen“ und „Hilfsfonds“ unklare Interessen von Bürgern, Anlegern und Steuerzahlern vertreten, Finanzmärkte als Agenturen überschuldeter Steuerstaaten auftreten und Notenbanken beliebig Billiggeld verteilen, damit klamme Staaten für klamme Banken geradestehen, die für klamme Staaten geradestehen.

Wie lange kann das gutgehen? Und: (Wie) kommen wir aus dieser Nummer jemals wieder raus? Die gute Nachricht ist: Es kann lange gutgehen. Die Schlechte: Es wird schmerzvoll. Das zeigt ein kleiner, unbedingt lohnender Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte.

Lernen vom England des 18. Jahrhunderts

Am 26. Februar 1797 wird die Bank of England per Kabinettsorder und Parlamentsbeschluss von der Verpflichtung befreit, Banknoten in Münzgeld zu wechseln und damit eine Deckung des umlaufenden Papiergelds zu garantieren. Es ist ein Schock. Die Geldreserven der Bank sind nach dem Krieg zwischen England und Frankreich erschöpft; einem Barvermögen von 1,27 Millionen Pfund steht ein Notenumlauf von 8,64 Millionen Pfund gegenüber – die Bank ist zahlungsunfähig. Statt jedoch Konkurs anzumelden, weil sie die (potenziellen) Forderungen ihrer Gläubiger nicht mehr (alle zugleich) bedienen kann, ruft die Bank kurzerhand eine bank-restriction aus, ein Konversionsverbot für Banknoten. Und siehe da: In den nächsten Tagen und Wochen zeigt sich, dass der pure Glaube an das neue Schein-Geld Berge versetzen kann. Die faktische Insolvenz bleibt folgenlos. Die Banknoten zirkulieren munter weiter – im bloßen Vertrauen darauf, dass das Papiergeld bis zum erhofften Widerruf der Bankeinschränkung seinen Wert behält und die Bank zwischenzeitlich genügend Kapital aufbaut, um die Notenausgabe künftig wieder auf den Betrag des Bankkapitals beschränken zu können.

Das Geld, zweieinhalbtausend Jahre lang gesetzlich beglaubigter Träger seines Wertes (Münz-Geld), verliert damals buchstäblich seinen (Ge-)Halt – und wird Geld allein dadurch, dass die Bank für es bürgt – ein ungeheuerlicher Vorgang, der bereits von den Zeitgenossen als Weltbegebenheit gefeiert und zugleich als zutiefst beängstigendes Ereignis wahrgenommen wird, als alle Stabilität, Dauerhaftigkeit und Sicherheit buchstäblich erschütternder Epochenbruch, allenfalls vergleichbar mit dem Erdbeben von Lissabon (1755).

Der Skandal der britischen Geldrevolution besteht aber nicht nur in der Entmaterialisierung des Geldes, sondern vor allem in seiner künstlichen „Verlängerung“ als Vorschuss, Kredit und Schuld, in seiner „Verdopplung“ als Bargeld und Obligation: Die neue Banknote ist Geld und Anti-Geld zugleich. Bisher war Papiergeld als Zahlungsmittel ja überhaupt nicht in Umlauf. Als Zahlungsversprechen (Wechsel) entsprach es einem Schuldschein – und das Vertrauen in diese „Quittungen“, „Noten“, „Billets“ und „Zettel“, die als goldsmith notes bei Goldschmieden, später dann bei Banken, eingelöst wurden, beruhte eben darauf, dass sie jederzeit durch Kurantmünzen und Edelmetallbarren abgesichert waren – und dass der Souverän für ihre Annahmepflicht bürgte. Mit dem Referenzverlust des Papiergeldes stellt sich nun die bange Frage, ob die Weigerung der Bank, das Metallgeld auszuzahlen, nicht das gleiche bedeutet wie die Weigerung der Bank, überhaupt (jemals) zu zahlen – und das Wunder der bank-restriction besteht darin, dass der Anspruch auf Einlösung eines Schuldtitels ohne Bedeutung ist, sofern man sich einig ist, den Anspruch (vorerst) aufzugeben – und das Zahlungsversprechen einfach weiter reicht. Es ist ziemlich exakt das, worum es in der Forderung nach einer „Verewigung von Schulden“ auch in diesen Wochen geht: um eine Ausweitung der Geldschöpfung, die das Band wechselseitiger Abhängigkeit stärkt.

Zu den problematischen Folgen dieser monetären Umformatierung damals gehört, dass sich Schuld und Schulden nicht mehr eindeutig zurückverfolgen lassen, dass sich Zahlungsketten fiktionalisieren. Bereits Adam Smith weiß von Schuldnern zu erzählen, die ihre Schulden durch immer neue Schulden bezahlen – was bei Fälligkeit und Präsentation der Wechsel zwangsläufig zu einer Serie von Bankrotten führen müsse – irgendwann. Denn einerseits sind die Zahlungen „völlig fiktiv“ so Smith, weil „der Strom, den die umlaufenden Wechsel aus den Tresoren der Banken fließen ließen, niemals durch einen anderen ersetzt [wurde], der tatsächlich wieder dorthin zurücklief“. Andererseits gilt: „Selbst wenn alle zahlungsunfähig werden…, was durchaus wahrscheinlich ist, wäre es doch reiner Zufall, falls sie es innerhalb kurzer Zeit würden.“ Hellsichtig erkennt Smith, dass sich mit dem neuen Papiergeld eine neue Pumpwirtschaft und mit der neuen Pumpwirtschaft eine neue Mentalität der Sorglosigkeit ausbreitet: „Das Haus ist zwar baufällig und wird nicht mehr lange stehen, sagt sich ein müder Reisender, aber es wäre schierer Zufall, wenn es gerade heute Nacht einstürzte; ich will es daher wagen, darin zu übernachten.“

Schöner kann man es auch heute nicht ausdrücken. Denn das ist der Kern: Die Genialität der Bank of England besteht nicht etwa darin, die eklatante Deckungslücke des neuen Papiergeldes zu verheimlichen, sondern darin, sie zur offiziellen Geschäftsgrundlage zu erklären: in der offiziellen Verzeitlichung der Einlösepflicht – in dem frechen Versprechen, eine Kompensation der umlaufenden Schulden nicht etwa anzustreben, sondern vorerst auszuschließen. Nur weil es als Schein-Haftes zirkuliert, als Geld und Schuld zugleich, steigt es zum schuldenfrisierten Hybridmotor der Wirtschaft auf. Nur weil alles Gold und Silber der Welt nicht ausreicht, die Ansprüche aller zu befriedigen, die dieses Gold und Silber auf einmal begehren, ist es zugleich Ausgleich und dauernder Anspruch, Bargeld und ständige Forderung, Zahlungsmittel und ewiges Versprechen – zugleich money and claim, ein monetärer Verschnitt seiner Geld- und Krediteigenschaften, ein zur Einheit aus Bonität und Zahlungsunfähigkeit verdichteter Widerspruch, der seinen Nutzern einen unendlichen Aufschub einräumt: Jede Zahlung eröffnet die Aussicht auf eine anschließende Zahlung; und jedes Zahlungsversprechen hat immer weitere, also prinzipiell unabschließbar viele Zahlungsversprechen zur Folge…

Eine Kompensation der umlaufenden Schulden ist in diesem Geldsystem explizit nicht mehr gewünscht – und seine Stabilität besteht einzig und allein darin, dass jeder in ihm auf den anderen verwiesen ist, weil er weiß, dass das, was er (nicht) besitzt, immer auch von allen anderen (nicht) besessen wird. Der kontrollierte Bankrott wird dadurch gleichsam mitlaufend zur Institution der neuen Scheinwirtschaft, die aufgeschobene Insolvenz zu ihrem konstitutiven Faktor, die systematische Verschuldung zu ihrem mitlaufenden Credo. Ganz so wie heute.

Und – wie geht die Geschichte aus? Damals gut. Die bank-restriction endet vor exakt 200 Jahren mit der sogenannten Peel’s Bill, der sukzessiven Rückkehr Großbritanniens zum Goldstandard, der Rettung des werthaltigen Geldes. Der konservative Staatsmann und spätere Premier Sir Robert Peel setzte die Reform damals durch – gegen den Widerstand von Finanziers, Industriellen und Spekulanten, die, damals wie heute, zu den größten Profiteuren der Geldexpansion zähl(t)en.

Und heute? Heute sind Staatschefs und Finanzmarktakteure so stark aufeinander angewiesen, dass eine Lösung unmöglich scheint, weil jede weitere Krise weitere Notfallmaßnahmen erfordert – und das Schuldenproblem dadurch zugleich verzeitlicht und verschärft wird. Geschichte wiederholt sich nicht, klar. Aber ihre Episoden enden ganz sicher – irgendwann. Auch die Episode der „ewigen Schulden“.

Mehr zum Thema: Giftige Geldflut: Politiker, Ökonomen und Notenbanker ignorieren alle Warnungen und pumpen Billionen ins System. Das beerdigt langfristig unsere Wirtschaftsordnung.

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