Tauchsieder

Ach, Europa.

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Die Bedeutung des Fortschritts damals und heute

Freilich, an der Dringlichkeit, "Wachstum", "Wohlstand" und "Fortschritt" in Europa künftig anders zu vermessen, ändern solche Defintionsschwächen nichts. Hat sich nicht der Glaube an die progressiven Ideen der europäischen Aufklärer, an eine lineare Entwicklung des Fortschritts, an das sittliche Wachstum der Menschheit nicht längst gründlich verbraucht? Wem steht heute noch der Optimismus zur Verfügung, auf eine "lebhafte Gärung der Geister" und einen "allgemeinen Aufschwung der Ideen" (d'Alembert, 1758) zu hoffen, auf "die Überlegenheit einer allumfassenden Moral" der "gebildeten Menschen" (Diderot, 1765) und die "Vervollkommnung des Menschengeschlechts" (Condorcet, 1794)?

Fortschritt, übersetzt als kapitalistisches Gesetz des "Immer-Mehr", wird heute von vielen Europäern nur mehr als bloßes Fortschreiten empfunden, als stehendes Marschieren, als systemischer Zwang zum unendlichen Hamsterrad-Lauf. Entsprechend viel ist neuerdings von "Entschleunigung" und "qualitativem Wachstum" die Rede. Helfen solche Begriffe weiter? 

Rückblickend und ex negativo schon. Denn "Beschleunigung" und "quantitatives Wachstum" sind zwei Kernbegriffe, ohne die man die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, das historische Einmalereignis der "Industriellen Revolution" und die Bedeutung des Kapitals als klassischer Treibstoff des Fortschritts nicht zu fassen bekommt. Nehmen wir das Beispiel Eisenbahn: Sie ist damals in Europa (und in den USA) zugleich Motor, Katalysator und Symbol des zivilisatorischen Fortschritts.

Kein anderer Industriezweig bindet im "großen Spurt" Deutschlands (1845 bis 1873) mehr Kapital, mehr Arbeitsplätze - und mehr Zuversicht. Die Verzinsung des Kapitals im Eisenbahnsektor übertrifft damals mit fünf bis sieben Prozent den Ertrag aller anderen Anlageformen, was nichts anderes heißt als: Wachstum und Beschleunigung werden seither immer auch als Wachstum und Beschleunigung des Geld-Vermögens aufgefasst (und zwar im doppelten Sinne).

Anders gesagt: Die Aufwärtsentwicklung der Menschheit findet im 19. Jahrhundert nicht mehr in aufklärerischen Traktaten, sondern in steigenden Kursen und Bilanzzahlen ihren sinnfälligsten Ausdruck. Das Gelingen der Zeit spiegelt sich nicht mehr in der instauratio magna, der Überwindung des Aberglaubens im Geiste der Wissenschaft (Francis Bacon), sondern in steigenden Dividendenrenditen und sinkenden Fahrscheinpreisen.

Das ist die kulturelle Revolution der Industriellen Revolution: Der Fortschritt erschließt sich durch sein Fortschreiten zunehmend von selbst. Man macht die erstaunliche Erfahrung, dass die Weiterentwicklung von Wissenschaft und wirtschaftliches Wachstum sich wechselseitig bedingen - und dass ausgerechnet das kalte Kapital der "Humus" ist, "aus dem die Menschheit von morgen hervorsprießt" (Emile Zola).

Gewiss, diesem Fortschritt fehlt ein normatives Prinzip: Es kennt kein Ziel, auf das es hinaus will. Aber zu seinen größten Vorzügen gehört, dass er eines Zieles gar nicht bedarf - solange er fortschreitet. Das Wachstum damals kommt ohne Sinnstiftung aus. Es braucht keine Utopien und Ideale, keine theologische Fundierung und politische Beseligung, im Gegenteil: Der kapitalinduzierte Fortschritt überzeugt durch seine begründungslose Allgemeinverständlichkeit. Die Annehmlichkeit einer Bahnverbindung zwischen Innsbruck und Bozen, die im Jahre 1867 die Reisezeit von sechszehn auf sechs Stunden verkürzt, erschließt sich jedem - ganz ohne Pamphlet und Versammlung.

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