Tauchsieder

Ach, Europa.

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Die Fortschrittskonzepte des 20. Jahrhunderts

Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Spätestens im 20.Jahrhundert ist es damit gründlich vorbei: Die Fortschrittsidee ruft allerlei Faschisten und Kommunisten auf den Plan, deren Feldlaborversuche zur Verbesserung des Loses der Menschheit bekanntlich gründlich missglückt sind. Heute wiederum, nach dem Fall der Mauer und dem Verblühen der Sowjetunion, hält sich der zivilisierte Teil der Menschheit im ideologischen Abklingbecken auf, frisch geimpft mit dem kosmopolitischen Geist von Good Governance, Globalization und Green Sustainability - und vertraut auf andere, auf strahlend weiße Fortschrittskonzepte, wie sie etwa liberale Ökonomen, Apple-Designer, Genetiker und Reproduktionsmediziner propagieren.

In diesen Konzepten ist viel von der Entfesselung kreativer Kräfte die Rede und von der Bildung, Pflege und Vermehrung des Humankapitals, von den wunderbaren Möglichkeiten des präimplantationstechnischen Feintunings und den Segnungen algorithmischer Assistenzsysteme, die uns kognitiv entlasten, indem sie uns die schöne, neue Konsumwelt unseren Vorlieben gemäß, wie auf dem Tablett servieren.

Diese Konzepte erzählen uns von digital-individuellen, selbstbestimmten, unternehmerischen Café-Latte-Personen, die viel auf ihre Flexibilität halten - und von jungen Arbeitsathleten, für die “die Vereinbarkeit von Familie und Beruf” ein Kinderspiel ist, weil ein Laptop überall da und jederzeit plug-and-play-bereit ist, wo sich der ursprünglich petrischal aufgezüchtete Nachwuchs gerade effektiv frühbildet.

Das alles klingt cool und duftet nach viel Freiheit im Fortschritt, fürwahr: nach einer lässig durchmischten Zeit, in der Arbeitsstunden zu Freizeitstunden, Kollegen zu Freunden werden. Und natürlich lassen es auch die Unternehmen im “aktiven täglichen Streben nach praktischer Verbesserung der menschlichen Lage” (Auguste Comte, 1844) nicht an Anstrengungen fehlen, die zunehmend rar werdenden Ressourcen (Stichwort Fachkräftemangel) für sich zu gewinnen.

Man sieht: Die lineare Fortschrittsidee ist noch nicht ganz so verbraucht wie wir zuweilen geneigt sind zu denken. Von "Entschleunigung" und "qualitativem Wachstum" reden wir beherzt nur dann, wenn wir allgemein das "kapitalistische System" als etwas zu aufdringlich empfinden. Nicht aber dann, wenn es uns ganz alltagskonkret um die Anschaffung des jüngsten Ipads oder auch, positiv gewendet: um die Entwicklung von Elektroautos und energieeffizienten Kühlschränken geht.

Was also bedeutet das für die Zukunft von "Wachstum", "Fortschritt" und "Wohlstand" in Europa? Ganz einfach. Es bedeutet, dass wir lernen müssen, ein Paradox auszuhalten: Wir müssen künftig, mehr denn je, an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts stehen, um uns weniger Wachstum leisten zu können - ganz gleich, mit welchen Parametern wir es messen werden.

Um das Paradox zu verstehen, darauf habe ich vor einigen Wochen schon einmal hingewiesen, muss man verstehen, was Innovationen sind - und mit dem Ökonomen Joseph Schumpeter lernen, wie segensreich sie wirken: Innovationen, so Schumpeter, verbreiten sich über eine Vielzahl von Kanälen in der jeweiligen Branche, in der nationalen Wirtschaft und weit darüber hinaus – und „je mehr sich eine Innovation durchsetzt“, so Schumpeter, desto mehr verliert sie den Charakter einer Innovation … desto mehr lässt sie sich von Impulsen treiben, anstatt Impulse zu geben“ – bis sie zuletzt von neuen Innovationen kreativ zerstört wird. Die Folge ist ein ewiges Wettrennen zwischen Unternehmen und Nationen, die Zentren der Wissensproduktion sind sowie Unternehmen und Nationen, die an der Innovationsperipherie stehen.

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