Was hat die Europäische Union in diesem Jahr nicht alles auf den Weg gebracht! Insgesamt neun Sanktionspakete gegen Russland und Milliardenhilfen für die Ukraine, einen Importstopp für russisches Öl und passabel abgestimmte Rüstungslieferungen, damit Kiew sich leidlich schützen kann vor dem Kriegsverbrecher im Kreml.
Auch verweigern die EU-Staatschefs einem der ihren, Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, endlich Subventionsmilliarden, solange er sich vornehmlich als Querulant und Vetternwirtschaftler, Putin-Getreuer und Abbruchunternehmer des Rechtstaates und der Demokratie versteht.
Die EU findet am Ende sogar eine gemeinsame Antwort auf die hohen Gaspreise und verpflichtet sich auf die Umsetzung der globalen Mindeststeuer – ein Lieblingsprojekt von Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich am Donnerstag vergangener Woche daher „einen seltenen Moment der Zufriedenheit“ gestattete.
Denn auch das ist der EU in diesem Jahr gelungen: Sie nimmt das neue Euro-Land Kroatien in den Schengen-Raum auf und erklärt nach Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien auch die Ukraine, Moldau und Bosnien-Herzegowina zu Beitrittskandidaten. Der Westbalkan soll den Avancen Russlands und Chinas entzogen werden und die EU auf einen räumlich geschlossenen Staatenbund von 34, 35 Nationen wachsen – zu einem geografisch homogenen und sicherheitspolitisch verschweißten Block, an dem die Meißel aus Moskau und Peking zuschanden gehen: „Unser Europa ist in Frieden und Freiheit geeint, offen für alle europäischen Nationen, die unsere Werte teilen“, so sagte es Scholz in seiner Europa-Rede Ende August in Prag: „Vor allem aber ist (unser Europa) die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie.“
Gelebte Absage? Das ist ein kühner Satz, denn es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die EU 2023 mehr denn je Mühe haben wird, diesem Selbstanspruch gerecht zu werden.
Das einende Schockerlebnis des russischen Einmarsches in die Ukraine und seiner alltäglichen Kriegsgräuel verflüchtigt sich zusehends; der Wille zur gemeinsamen Frontbildung („Wir gegen Putin“) schwächt sich mit jeder Woche ab, in der eine Entgrenzung des Krieges unwahrscheinlicher wird; die nationalen Egoismen drängen sich erkennbar wieder in den Vordergrund; die Fragen der ökonomischen Nebenkosten des Krieges und der Sanktionspolitik, auch der „solidarischen Verteilung“ der Flüchtlinge gewinnen an Gewicht.
Die beiden Ratspräsidentschaften von Schweden (erstes Halbjahr) und Spanien (zweites Halbjahr) stehen 2023 vor der undankbaren Aufgabe, das durch vorübergehenden Druck von außen zusammenge(d)rückte Europa auch innerlich zu befestigen – eine Aufgabe, die praktisch zum Scheitern verurteilt ist. Die papiernen Bekenntnisse zu einer Erweiterung der Union stehen substanziellen Fortschritten bei der Vertiefung der Union entgegen.
Die lippenbekenntnisreichen Beitrittsperspektiven für die Länder auf dem Westbalkan erhöhen das beiderseitige Enttäuschungspotenzial und verschärfen mindestens vorübergehend die (binnen-)nationalen Antagonismen (Serbien, Kosovo, Bosnien) in der Region: Die Gewaltrisiken steigen, wenn auch vorerst unterhalb der Bürgerkriegsschwelle.
Das ist auch deshalb riskant, weil sich abseits der Fassadenarbeiten der Schimmel durch den Altbau Europa frisst. Die EU ist 27 Jahre nach Srebrenica und 23 Jahre nach dem Kosovo-Krieg noch immer ein verteidigungspolitischer Zwerg – jedenfalls unfähig zur Durchsetzung europäischer Werte auf dem europäischen Kontinent.
Zugleich verlagert sich der außenpolitische Schwerpunkt Europas ostwärts. Niemand war in Polen, Estland, Lettland oder Litauen überrascht, dass Russland ein demokratisch integriertes Europa verachtet. Und dass Warschau, Tallinn, Riga und Vilnius die „Verteidigung europäischer Werte“ intuitiv begriff, während man vor allem die Regierungsspitzen und -berater in Berlin und Paris noch lange meinten, angeblich „langfristig“ und „strategisch“, in „Interessesphären“ und „Einflusszonen“ denken zu sollen, hat die mentale Geografie des Kontinents, seine kognitive Karte tiefgreifend verändert.
Der „deutsch-französische Motor“ stottert nicht nur – er hat als entscheidende Antriebskraft der europäischen Integration ausgedient. Man liegt in Paris und Berlin nicht nur energiepolitisch über Kreuz, sondern weiß sich auch nicht auf eine gemeinsame Rüstungspolitik zu einigen; man zeiht sich gern öffentlichkeitswirksam und demonstrativ des Egoismus (Scholz’ unabgesprochener „Duppelwumms“ für Deutschland, seine jungstolznationale China-Reise), blamiert sich auf undiplomatische Weise (keine gemeinsame Pressekonferenz) und wetteifert monatelang um die peinlichste Putin-Politik (von Scholz’ amtlicher Angst vor dem Atomkrieg über die Telefondiplomatie mit dem Kreml bis hin zu Emmanuel Macrons „Sicherheitsgarantien“ für Russland).