Tauchsieder

Ach, Europa!

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Ein großer, farbenprächtigen Blumenstrauß

Beispiel USA: Merkel hat bereits vor ihrer Kanzlerschaft die große Chance vertan, Europa sicherheitspolitisch neu zu positionieren. Sie wäre 2002 mit George Bush blindlings in den Irak-Krieg gezogen, weil sie die transatlantischen Beziehungen für unverbrüchlich hielt, auf die USA als Schutzmacht und Schirmherrin des Kontinents vertraute. Donald Trump hat sie nun eines Schlechteren belehrt – und Deutschland steht in Europa plötzlich peinlich nackt da: als Nation, die lieber Austeritätsdebatten führt und die USA wegen ihrer Schuldenpolitik schulmeistert, anstatt endlich, wie versprochen, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen und wenigstens eine paar flugfähige Militärmaschinen zu unterhalten. Die schlimme Wahrheit ist: Ohne den Schutz der USA und der von ihr meistfinanzierten NATO würden längst auch die baltischen EU-Staaten um ihre (territoriale) Souveränität fürchten.

Es ist in diesem Zusammenhang beinahe grotesk, dass Deutschland sich europapolitisch nicht stärker engagiert und die Europäische Union im Sinne Macrons als Wirtschafts- und Wertegemeinschaft positioniert – in scharfer Abgrenzung zu neoprotektionistischen Praktiken in den USA und einem streng nationalwirtschaftlich operierenden China. Die Gründe für ein entschlossen einig auftretendes Europa der sozialen Marktwirtschaft haben sich im Lichte dieser, aber auch fast aller anderen globalen Entwicklungen (Entkopplung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft, aggressive Kredit- und Rohstoffpolitik Chinas auf Drittmärkten, das Ende des transatlantischen Zeitalters, die zündelnde Nahostpolitik Donald Trumps, der Klimawandel und die Energiewende; eine europäische Digitalstrategie) in den vergangenen Jahren vervielfacht.

Natürlich, das hieße auch: eine postnationale, eine europäische Wirtschaftspolitik, in der deutsche Konzerne keine Deutsche Bank mehr benötigen, die binneneuropäische Investitionen und Handelsbeziehungen begünstigt – und in der es eine offene Diskussion über den Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz gibt. Dieser Überschuss mag den Deutschen immer noch als „Ausweis nationalen Erfolges“ erscheinen. Aber ist zugleich und vor allem auch ein Ausweis multilateralen Scheiterns – nicht nur das Ergebnis einer starken Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, sondern auch einer konservativen Finanzpolitik: Deutschland hat einen Großteil seines Wohlstands aus Europa hinaus exportiert – und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch Investitionen und Konsum vernachlässigt.

Was der Westen, was Europa derzeit dringend braucht, ist interrogative Kraft. Seine Grundlagen – Liberalismus, Marktwirtschaft, Demokratie, Sozialstaatsverfassung – sind nach wie vor anziehend: Fast alle Menschen weltweit zieht es nach Europa; fast alle Staaten weltweit meinen sich (und sei es abwehrend) auf seine „westlichen Werte“ beziehen zu müssen. Sich produktiv infrage stellen hieße daher heute: Die Geschichte hinter sich zu lassen. Und ein Europa aufzubauen, dass sich mit Blick auf sein Selbstverständnis und seine Ziele gleichsam von vorn bejahen ließe. Dass diese Ziele selbstbewusst zu vertreten (und zu verteidigen) wüsste. Die Zeiten sind vorbei, als das Primärinteresse Frankreichs, seinen östlichen Nachbarn zähmend in Europa einzubinden, perfekt mit dem Primärwunsch Deutschlands korrespondierte, sich marktwirtschaftlich politneutral zu verhalten - und postnational in Europa aufzulösen. Bis hin zu Helmut Kohl war Deutschland allzeit bereit, sich zur europäischen Subsidiarmacht zu schrumpfen, koste es, was es wolle. Aber die stupende Naivität, mit der man sich in Deutschland damals Europa „als großen, farbenprächtigen Blumenstrauß“ (Kohl) vorstellte, war immer auch mit einer fast schon störrischen Unbeirrbarkeit gepaart, mit der man an der Optimierung der EU, dem avantgardistischsten internationalen Projekt der Nachkriegszeit, arbeitete: „Die Alternative heißt, zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts“, so Kohl – er war der letzte deutsche Kanzler, der überhaupt noch fähig war, einen solchen Satz zu denken. 

Weil aber in Europa und in Deutschland, nicht nur in den Reihen der AfD, das Selbstverständnis schwächelt, sich aus historischen Gründen einem europäischen Postnationalismus verpflichtet zu fühlen, und weil Frankreich zugleich Gefahr läuft, seine Identität als revolutionäre Grande Nation der Freiheit und Demokratie rechtsnational zu verhöhnen, muss Europa – mit beiden Ländern an der Spitze – endlich wieder versuchen, „die beste Idee, die es je hatte“ auf eine neue, in die Zukunft weisende Grundlage zu stellen. Es reicht nicht mehr aus, dass „die Deutschen eine Scheu davor haben, sich selbst zu regieren“ und deshalb „ein europaweites System schaffen, in dem sich keine Nation mehr selbst regiert“, so die britische Premierministerin Margaret Thatcher bereits 1989 denn: „Wenn die Deutschen glauben, auf diese Weise ihre Probleme lösen zu können, unterliegen sie einem Trugschluss.“

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