




Vor fast vier Jahrzehnten, im November 1975, legte die britische Prog-Rock-Band Supertramp ihr viertes Studioalbum vor. Die zehn Songs sind heute nicht ganz zu Unrecht beinah‘ vergessen, aber der Titel der Platte und das Cover, die sind zeitlos gültig, bleibend, legendär. „Crisis? What Crisis?“ stand da geschrieben - und vor der Kulisse einer sagenhaft trostlosen Industrielandschaft mit anderthalb Dutzend rauchenden Schloten entspannte sich, den Deckchair trotzig aufgespannt im grauen Schotter, ein zufriedener, junger Mann in Badehose - beschallt von einem Kofferradio, beschirmt von einem knallorangen Sonnenschirm, ein Erfrischungsgetränk in Reichweite. Der Mann in der Badehose sonnte sich, keine Frage, stoisch, störrisch, ein Symbol des Trotzes und des Eigensinns. Allein was ihn so hell beschien, darüber gab das Cover keinen Aufschluss. Nur der Mittagsstern? Oder doch ein Atomblitz? Darüber wurde damals heftig diskutiert: Handelt es sich bei dem Mann um einen modernen Diogenes, der den herrschenden Industriekapitalismus bittet, ihm aus der Sonne zu gehen? Oder um das Sinnbild einer Sorglosigkeit, die die Apokalypse herannahen weiß und sich bis dahin einen möglichst schlanken Fuß macht?
Krise? Welche Krise? – achtunddreißig Jahre nach dem Supertramp-Album klingt die Doppelbödigkeit der Doppelfrage boshafter denn je. Denn einerseits ist die Krise – hierzulande – beinahe unsichtbar geworden. Andererseits versichern uns Politiker, Ökonomen, Leitartikler und andere Weltweise beinah' täglich, dass sich die Krise dramatisch verschärft. Womit also haben wir es zu tun, wenn wir heute von der „Krise“ reden? Mit der fortschreitenden Zuspitzung zahlreicher Gefahrenlagen - und mit einer proportional fortschreitenden Verstumpfung unseren Krisenbewusstseins? Fast scheint es so. Jeder weiß heute informierter denn je: Es gibt sie, die Krise. Die Zeit drängt. Wir können nicht so weitermachen wie bisher.
Und doch ist die Krise heute weniger denn je der Zeitpunkt der Entscheidung, die günstige Gelegenheit zur Umkehr - der kairos, der entweder genutzt oder verpasst wird. Die westlichen Industrienationen haben fast alles, was Schmutz und Lärm macht, in Schwellenländer ausgelagert. Der moderne Wirtschaftsstandort trainiert für seine atomkraftfreie Zukunft. Die Deutschen filtern Feinstaub, teilen Autos, kaufen Bio. Die Zahl der Beschäftigten ist so hoch wie nie. Die Wirtschaft wächst. Und seit Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, Geld druckt, ist der Euro gerettet und mit ihm Europa, unser Wohlstand, unsere Zukunft. Krise? Welche Krise?
Wie widersprüchlich die Problemlagen heute wirklich sind, davon erzählt beispielhaft die gegenwärtige Banken-, Finanz-, Währungs-, Schulden-, Geld- und Wirtschaftskrise. Dass all diese Bezeichnungen von den meisten Kommentatoren wie Synonyme verwendet werden, ist erstens unscharf analysiert, aber zweitens nur konsequent, denn das eine – die Bankenkrise – hängt mit dem anderen – der Schuldenkrise – zusammen, und die Schuldenkrise wiederum hat stark mit einem Drittem - der Geldkrise nämlich, und die wiederum mit dem Vierten, der Wirtschaftskrise zu tun… Fragt sich nur, warum die Regierenden aus der Offensichtlichkeit dieses systemischen Defekts nicht auch die Schlussfolgerung ziehen, wir hätten es mit einer „Systemkrise“ zu tun. Und zwar nicht, weil es um die Rettung "systemrelevanter" Banken ginge, von deren Überleben das Überleben unserer global vernetzten Wachstums- und Wirtschaftsordnung abhängt. Sondern weil es um die Wachstums- und Wirtschaftsordnung selbst geht: Der Kapitalismus an sich steht zur Debatte.
Der Kern der Krise ist das billige Geld





Um etwaigen Missverstädnissen vorzubeugen: Hier spricht kein Marktkritiker, kein Wettbewerbsfeind, kein Staatsgläubiger, im Gegenteil: Hier spricht einer, der die Marktwirtschaft schützen will vor einem Kapitalismus, der ihr die Grundlagen raubt. Denn wenn wir heute vom "System" sprechen, haben wir es, ganz anders als zu Marx' Zeiten, nicht mit „dem Staat“ und „der Wirtschaft“ als zwei getrennten Funktionssphären zu tun, von deren Stärkung oder Schwächung auf Kosten des einen oder anderen sich Arbeitnehmer, Unternehmer, Anteilseigner oder Steuerzahler eine Verbesserung oder Verschlechterung ihrer Lebenssituation erhoffen dürften, sondern mit einer höchst unheilvollen Verschränkung von "Staat" und "Markt": Wenn Staaten heute mit Steuergeldern Banken kapitalisieren, dann haben wir es mit klammen Staaten zu tun, die von klammen Banken kapitalisiert werden, um klammen Staaten zu kapitalisieren, die klamme Banken kapitalisieren...
Anders gesagt: Banken und Finanzmärkte sind heute so etwas wie Lizenznehmer von Staaten zur Aufrechterhaltung eines Wohlstands und Wachstums, das es längst nicht mehr gibt. In der vergangenen Dekade zum Beispiel haben wir es in Deutschland mit einem "Wirtschaftswachstum" von rund einem Prozent tun gehabt - erkauft mit einer Neuverschuldung in Höhe von rund 300 Milliarden Euro. Kann man ein solches Wachstum wirklich Wachstum nennen? Vielleicht. Aber es ist definitiv ein Wachstum, das sich von seinen Ressourcen nährt, sich seiner Grundlagen beraubt. Insofern ist die andauernde Geldkrise tatsächlich mehr als nur eine Geldkrise. Sie ist ein Menetekel des kapitalistischen Wachstumszwangs.
Europa
Ihren sinnfälligsten Ausdruck findet die Systemkrise ausgerechnet in der Aporie ihrer andauernden Lösung: Bei allen politfinanziellen Maßnahmen, die heute getroffen werden, um die Krise (kurzfristig) zu beheben - Zinsen senken, Schulden machen, Geld drucken – handelt es sich um dieselben Maßnahmen, die die Krise zugleich (langfristig) verschärfen. Jede Ankündigung der Notenbanker, die "Politik des billigen Geldes" fortzusetzen, wird von den Finanzmärkten mit satten Kurszuwächsen belohnt, was nichts anderes heißt als dass die "Rationalität" der Finanzmärkte nur noch darin besteht, aus der eigenen Irrationalität so lange Profit zu schlagen, bis es zum großen Knall kommt. Tatsächlich muss man sich die Krisenzyklen in den vergangenen zwanzig Jahren wie eine riesige Wellenbewegung vorstellen: Man ließ diese Wellen nicht auslaufen, sondern man peitscht sie mit immer neuen Mengen billigen Geldes auf - so lange, bis ein Kaventsmann schließlich für Ruhe sorgen wird.
Der Grund dafür ist denkbar einfach: Das Geld, das um den Globus vagabundiert ist zu billig, hat keinen marktgerechten Preis, der Zins (als Preis des Kredits) ist viel zu niedrig - das ist der Kern der Krise. Bei jedem gewerblichen Erzeugnis reguliert sich der Preis im Wesentlichen nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Allein nicht beim Kredit. Denn der Kredit ist keine Ware im herkömmlichen Sinne, sondern "von den Banken geschaffene Kaufkraft, deren Erweiterung keinen den Produktionskosten vergleichbaren Aufwand erfordert" (Alfred Müller-Armack). Und weil die Banken, "im Bestreben ihren Umsatz zu erweitern, einer Kreditexpansion zuneigen", ist "die Untergrenze der Zinsbildung" nicht nur längst "fragwürdig" geworden - es gibt überhaupt keine mehr. Und - was folgt daraus? Nun, vor allem die Erkenntnis, dass es bei dieser Krise nicht um die Frage geht, ob wir jetzt besser kräftig sparen oder kräftig investieren, sondern dass es diesmal tatsächlich ums Ganze geht, genauer: um den Kollaps des finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus – und darum, was auf ihn folgt.