Tauchsieder

Der kontrollierte Bankrott

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Lernen vom England des 18. Jahrhunderts

Am 26. Februar 1797 wird die Bank of England per Kabinettsorder und Parlamentsbeschluss von der Verpflichtung befreit, Banknoten in Münzgeld zu wechseln und damit eine Deckung des umlaufenden Papiergelds zu garantieren. Es ist ein Schock. Die Geldreserven der Bank sind nach dem Krieg zwischen England und Frankreich erschöpft; einem Barvermögen von 1,27 Millionen Pfund steht ein Notenumlauf von 8,64 Millionen Pfund gegenüber – die Bank ist zahlungsunfähig. Statt jedoch Konkurs anzumelden, weil sie die (potenziellen) Forderungen ihrer Gläubiger nicht mehr (alle zugleich) bedienen kann, ruft die Bank kurzerhand eine bank-restriction aus, ein Konversionsverbot für Banknoten. Und siehe da: In den nächsten Tagen und Wochen zeigt sich, dass der pure Glaube an das neue Schein-Geld Berge versetzen kann. Die faktische Insolvenz bleibt folgenlos. Die Banknoten zirkulieren munter weiter – im bloßen Vertrauen darauf, dass das Papiergeld bis zum erhofften Widerruf der Bankeinschränkung seinen Wert behält und die Bank zwischenzeitlich genügend Kapital aufbaut, um die Notenausgabe künftig wieder auf den Betrag des Bankkapitals beschränken zu können.

Das Geld, zweieinhalbtausend Jahre lang gesetzlich beglaubigter Träger seines Wertes (Münz-Geld), verliert damals buchstäblich seinen (Ge-)Halt – und wird Geld allein dadurch, dass die Bank für es bürgt – ein ungeheuerlicher Vorgang, der bereits von den Zeitgenossen als Weltbegebenheit gefeiert und zugleich als zutiefst beängstigendes Ereignis wahrgenommen wird, als alle Stabilität, Dauerhaftigkeit und Sicherheit buchstäblich erschütternder Epochenbruch, allenfalls vergleichbar mit dem Erdbeben von Lissabon (1755).

Der Skandal der britischen Geldrevolution besteht aber nicht nur in der Entmaterialisierung des Geldes, sondern vor allem in seiner künstlichen „Verlängerung“ als Vorschuss, Kredit und Schuld, in seiner „Verdopplung“ als Bargeld und Obligation: Die neue Banknote ist Geld und Anti-Geld zugleich. Bisher war Papiergeld als Zahlungsmittel ja überhaupt nicht in Umlauf. Als Zahlungsversprechen (Wechsel) entsprach es einem Schuldschein – und das Vertrauen in diese „Quittungen“, „Noten“, „Billets“ und „Zettel“, die als goldsmith notes bei Goldschmieden, später dann bei Banken, eingelöst wurden, beruhte eben darauf, dass sie jederzeit durch Kurantmünzen und Edelmetallbarren abgesichert waren – und dass der Souverän für ihre Annahmepflicht bürgte. Mit dem Referenzverlust des Papiergeldes stellt sich nun die bange Frage, ob die Weigerung der Bank, das Metallgeld auszuzahlen, nicht das gleiche bedeutet wie die Weigerung der Bank, überhaupt (jemals) zu zahlen – und das Wunder der bank-restriction besteht darin, dass der Anspruch auf Einlösung eines Schuldtitels ohne Bedeutung ist, sofern man sich einig ist, den Anspruch (vorerst) aufzugeben – und das Zahlungsversprechen einfach weiter reicht. Es ist ziemlich exakt das, worum es in der Forderung nach einer „Verewigung von Schulden“ auch in diesen Wochen geht: um eine Ausweitung der Geldschöpfung, die das Band wechselseitiger Abhängigkeit stärkt.

Zu den problematischen Folgen dieser monetären Umformatierung damals gehört, dass sich Schuld und Schulden nicht mehr eindeutig zurückverfolgen lassen, dass sich Zahlungsketten fiktionalisieren. Bereits Adam Smith weiß von Schuldnern zu erzählen, die ihre Schulden durch immer neue Schulden bezahlen – was bei Fälligkeit und Präsentation der Wechsel zwangsläufig zu einer Serie von Bankrotten führen müsse – irgendwann. Denn einerseits sind die Zahlungen „völlig fiktiv“ so Smith, weil „der Strom, den die umlaufenden Wechsel aus den Tresoren der Banken fließen ließen, niemals durch einen anderen ersetzt [wurde], der tatsächlich wieder dorthin zurücklief“. Andererseits gilt: „Selbst wenn alle zahlungsunfähig werden…, was durchaus wahrscheinlich ist, wäre es doch reiner Zufall, falls sie es innerhalb kurzer Zeit würden.“ Hellsichtig erkennt Smith, dass sich mit dem neuen Papiergeld eine neue Pumpwirtschaft und mit der neuen Pumpwirtschaft eine neue Mentalität der Sorglosigkeit ausbreitet: „Das Haus ist zwar baufällig und wird nicht mehr lange stehen, sagt sich ein müder Reisender, aber es wäre schierer Zufall, wenn es gerade heute Nacht einstürzte; ich will es daher wagen, darin zu übernachten.“

Schöner kann man es auch heute nicht ausdrücken. Denn das ist der Kern: Die Genialität der Bank of England besteht nicht etwa darin, die eklatante Deckungslücke des neuen Papiergeldes zu verheimlichen, sondern darin, sie zur offiziellen Geschäftsgrundlage zu erklären: in der offiziellen Verzeitlichung der Einlösepflicht – in dem frechen Versprechen, eine Kompensation der umlaufenden Schulden nicht etwa anzustreben, sondern vorerst auszuschließen. Nur weil es als Schein-Haftes zirkuliert, als Geld und Schuld zugleich, steigt es zum schuldenfrisierten Hybridmotor der Wirtschaft auf. Nur weil alles Gold und Silber der Welt nicht ausreicht, die Ansprüche aller zu befriedigen, die dieses Gold und Silber auf einmal begehren, ist es zugleich Ausgleich und dauernder Anspruch, Bargeld und ständige Forderung, Zahlungsmittel und ewiges Versprechen – zugleich money and claim, ein monetärer Verschnitt seiner Geld- und Krediteigenschaften, ein zur Einheit aus Bonität und Zahlungsunfähigkeit verdichteter Widerspruch, der seinen Nutzern einen unendlichen Aufschub einräumt: Jede Zahlung eröffnet die Aussicht auf eine anschließende Zahlung; und jedes Zahlungsversprechen hat immer weitere, also prinzipiell unabschließbar viele Zahlungsversprechen zur Folge…

Eine Kompensation der umlaufenden Schulden ist in diesem Geldsystem explizit nicht mehr gewünscht – und seine Stabilität besteht einzig und allein darin, dass jeder in ihm auf den anderen verwiesen ist, weil er weiß, dass das, was er (nicht) besitzt, immer auch von allen anderen (nicht) besessen wird. Der kontrollierte Bankrott wird dadurch gleichsam mitlaufend zur Institution der neuen Scheinwirtschaft, die aufgeschobene Insolvenz zu ihrem konstitutiven Faktor, die systematische Verschuldung zu ihrem mitlaufenden Credo. Ganz so wie heute.

Und – wie geht die Geschichte aus? Damals gut. Die bank-restriction endet vor exakt 200 Jahren mit der sogenannten Peel’s Bill, der sukzessiven Rückkehr Großbritanniens zum Goldstandard, der Rettung des werthaltigen Geldes. Der konservative Staatsmann und spätere Premier Sir Robert Peel setzte die Reform damals durch – gegen den Widerstand von Finanziers, Industriellen und Spekulanten, die, damals wie heute, zu den größten Profiteuren der Geldexpansion zähl(t)en.

Und heute? Heute sind Staatschefs und Finanzmarktakteure so stark aufeinander angewiesen, dass eine Lösung unmöglich scheint, weil jede weitere Krise weitere Notfallmaßnahmen erfordert – und das Schuldenproblem dadurch zugleich verzeitlicht und verschärft wird. Geschichte wiederholt sich nicht, klar. Aber ihre Episoden enden ganz sicher – irgendwann. Auch die Episode der „ewigen Schulden“.

Mehr zum Thema: Giftige Geldflut: Politiker, Ökonomen und Notenbanker ignorieren alle Warnungen und pumpen Billionen ins System. Das beerdigt langfristig unsere Wirtschaftsordnung.

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