Tauchsieder
Die Uniform der Wachen stammt aus Zeiten, als sich Deutsche und Franzosen noch bekämpften: Angela Merkel bei Emmanuel Macron im Elysee-Palast. Quelle: imago images

Macron führt - Merkel vor?

75 Jahre Spannungen, Konflikte, Kriege. 75 Jahre Partnerschaft, Freundschaft, Integration. Die deutsch-französischen Beziehungen im Spiegel der Geschichte. Eine kleine Auffrischung.

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Das Gefälle könnte größer nicht sein: Während der französische Staatspräsident Emmanuel Macron seit seiner Amtsübernahme vor neun Monaten die Grande Nation aufpoliert und mit kühnen Strichen eine Architektur für Europa im 21. Jahrhundert skizziert, stümpert die Politik in Berlin seit fast fünf Monaten vor sich hin: parteienzänkisch, aufbruchsmüde, innenrummelnd. Kein Wunder, dass Macron sich zu einer Art Chef d' Equipe des Kontinents berufen fühlt und im Élysée-Palast sonnenkönighafte Gefühle reifen. Geschickt kleidet Frankreichs Präsident souveräne Interessen in postnationale Rhetorik - und drängt der Berliner Nichtregierungsorganisation seine Reformideen auf: Harmonisierung der Steuern, gemeinsame Einlagensicherung, europäischer Rettungsfonds, Euro-Finanzminister.

Angela Merkel (CDU) weiß auf diesen Elan bisher nur mit defensiver Freundlichkeit zu reagieren: Sie steht im Spätherbst ihrer Karriere, dürfte sich Gedanken über ihr Erbe machen - und ist daher womöglich zu weitgehenden Kompromissen bereit, befürchten Kritiker: Das Fundament der EU sei „immer die Idee des freien Binnenmarktes“ gewesen, sagt etwa der ehemalige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralkbank, Otmar Issing, im Gespräch mit der WirtschaftsWoche und: „Macron stellt dieses Fundament infrage“, indem er sie in eine „Transferunion“ umdeute. Aber ist es wirklich sachgemäß, Frankreich eine Strategie zur Schwächung Deutschlands zu unterstellen - und der Bundesregierung vorzuwerfen, sie gehe „offenbar“ davon aus, „alle Probleme in Europa mit dem Geldbeutel der Steuerzahler lösen zu können“?

Ein kurzer Blick in die Geschichte lehrt: Die deutsch-französischen Beziehungen sind kompliziert, widerspruchsreich, im besten Sinne erstaunlich - und unterhalb der politisch polierten Gedenktag-Oberfläche auch ein wenig gefährdet. Eine kleine Auffrischungn vier Schritten.

Erstens: Die deutsch-französischen Beziehungen der vergangenen 150 Jahre lassen sich, wenn auch fast unzulässig stark vereinfacht, in zwei gleich lange Phasen unterteilen: Sie standen seit 1868/69 im Zeichen von Spannungen, Konflikten und Kriegen. Und sie stehen seit 1944/45 im Zeichen der zunächst vorsichtigen Annäherung und Aussöhung, sodann der Partnerschaft, Freundschaft und Integration. Das ist zunächst einmal vor allem deshalb überraschend, weil an der Wende zum 19. Jahrhundert noch nichts darauf hindeutet. Erinnert sei an Friedrich den Großen, den aufgeklärten Preußenkönig, der das Französische spricht, bewundert, verehrt - und an Madame de Staël, die mit ihren unpolitisch-geflügelten Worten („In Frankreich studiert man die Menschen, in Deutschland die Bücher.“) in „De l’Allemagne“ jahrzehntelang das Deutschlandbild der Franzosen prägt.

Doch dann kommt Napoleon, in vielen deutschen Territorialstaaten begeistert begrüßt, und bringt die Ideen der Freiheit und Demokratie, der Gleichheit und des modernen Rechtsstaates mit - Preußen und Österreich haben Frankreich die historische Großtat der Revolution, diesen maßlosen Energie- und Modernisierungsschub nie verziehen. Die „Befreiungskriege“ dienen daher restaurativen Zwecken: Die Monarchen stürzen den Kontinent zurück in feudale, biedermeierliche Verhältnisse. Und selbst die liberale Opposition in Deutschland verpasst ihren emanzipatorischen Bestrebungen in den nächsten Jahrzehnten einen zunehmend nationalen Anstrich: Preußen wächst mit zahlreichen kleinen Staaten zu einer „verspäteten Nation“ zusammen, die ihre Identität durch ein gemeinsames Außen gewinnt. Und die umso idealisiertere - und hässlich ausgrenzende - Züge annimmt, als ihre geistige Neugründung der politischen vorausläuft.

In Frankreich blickt man bis 1866 noch differenziert auf den Nachbarn: Man setzt auf das napoleonisch gesinnte Deutschland - und will nicht wahrhaben, dass sich die Territorialstaaten in „Schutz- und Trutzbündnissen“ Preußen anschließen, dem es „in Wahrheit um Herrschaft“ gehe, um die Durchsetzung eines „feudalen Cäsarismus“, so der französische Dichter Charles de Mazade nach Ausbruch des Krieges 1870. Wenige Monate später lässt sich Wilhelm I. im Spiegelsaal von Schloss Versailles (!) zum deutschen Kaiser krönen. 

Es ist nicht nur die Geburtsstunde der Erz- und Erbfeindschaft beider Nationen - Victor Hugo schreibt: „Nehmt die Steine unserer heiligen Erde, steinigt die Eindringlinge mit den Gebeinen unserer Mutter Frankreich!“ Sondern auch eine sinnbildliche Geschichsszene - der bildliche Ausdruck einer mentalitätsprägenden Grundkonstellation: Deutschland krankt an einem nachholenden Nationaleifer, an einer chauvinistischen Überschussproduktion, an patriotischen Luftwurzelidealen - und Frankreich leidet an der Kränkung seines Selbstverständnisses als Grande Nation.

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