Tauchsieder

Festung Europa

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Migration ist keine „Schicksalsfrage“

Ein europäisches Einwanderungsgesetz? Eine tragfähige Revision der Dublin-Vereinbarung? Eine Strategie zur Belebung der EU-Afrika-Beziehungen im Lichte der Bevölkerungsexplosion auf dem benachbarten Kontinent (geschätzte 2,1 Milliarden Menschen in 2050)? Alles Fehlanzeige. Stattdessen ein rhetorischer Registerwechsel im Zeichen der eingebildeten Panik („Schicksalsfrage“), der aggressiven Selbstviktimisierung („Europa muss sich schützen“) und Fluchtursachenmarginalisierung („Migranten“ statt „Flüchtlinge“) – obwohl es sachpolitisch derzeit gar kein „Problem“ gibt, das in Brüsseler Verhandlungs-Marathons-Nächten im Notverordnungsstil gelöst werden müsste.

Was den Blick auf das eigentliche Kernproblem, nämlich auf die Blindstellen einer moralisch überlasteten Werte-Politik lenkt: Als „humanitäre Antworten“ auf die Migrationsfrage noch möglich und vor allem dringlich waren – vor 2015, aber auch in den Monaten danach –, ist Europa ihnen, Deutschland an der Spitze, systematisch ausgewichen: Erst Dublin gut, alles gut, vor allem für Deutschland. Dann hereinspaziert und durchgewunken – gegen Europa. Ein Desaster.

Was man in dieser Zeit versäumte: Investitionen in grenznahe Flüchtlingszentren zum Beispiel rund um Syrien und den Irak (so wie die Briten es stets empfohlen hatten). Diplomatische Vertretungen der Einzelstaaten oder der EU in Afrika als offene Anlaufstellen zur Legalisierung der Migration. Ein europäisches Einwanderungsgesetz mit gestaffelten Aufenthaltstiteln und gesonderten Verfahren für Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge, Zuwanderer.

Die Kanzlerin ermahnt den Vereinsvorsitzenden der Essener Tafel. Das ist peinlich. Schwerer wiegt: Sie ist blind für Verteilungskämpfe zwischen Flüchtlingen und Armen - und für die Dysfunktionalität des Sozialstaats.
von Dieter Schnaas

Hinterher ist man immer schlauer? Mag sein. Aber die Migrationsfrage ist kein schwarzer Schwan: Die Politik musste seit Langem damit rechnen, dass sie Antworten liefern muss. Dass sie bisher keine fand, auch gestern nicht, dafür zahlt sie, zahlen wir alle heute einen unglaublich hohen Preis: Rechtspopulisten beuten das Thema aus und vergiften die Debattenkultur, sie legen die Axt an die Wurzel unserer liberalen Demokratie, arbeiten am Abbau der Toleranz, schüren den Fremdenhass – und sie treiben in Deutschland vor allem die CSU an den Rand des politischen Wahnsinns.

Die bittere Wahrheit ist: Migration ist keine „Schicksalsfrage“ für Europa (Merkel) – was für ein Unsinn: In der Politik gibt es weder Alternativlosigkeiten noch ein „Schicksal“. Stattdessen hat man es immer mit Situationen und Prozessen zu tun, mit vorläufigen, also bearbeitbaren Ergebnissen von Handlungen und Unterlassungen. In diesem Sinne hat Merkel ganz wesentlich dazu beigetragen, das Thema Migration einer seriösen politischen Bearbeitung zu entziehen, in Europa, wie beschrieben – und in Deutschland: Es spricht Bände, dass man im Bundestag heutzutage vielen Abgeordneten begegnet, die innerlich nur noch abwinken, wenn man „Europa“ mit „Solidarität“ und „Humanität“ in Verbindung bringt. Sie können sich dieses Europa, gut 70 Jahre nach dem 8. Mai 1945, nur noch als Kostenfaktor vorstellen, als Rechnung, die ein starkes Deutschland für seine Nachsicht gegenüber Tsipras und Macron zu begleichen hat – bestenfalls noch als Freihandelszone friedlich konkurrierender Nationen mit einem gemeinsamen Grenzschutz zur hochgerüsteten Verteidigung ihres relativen Wohlstands… So ist die Lage. Armes Europa.  

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