Europa, heißt es, hat in den vergangenen fünf Jahren den Blick nach innen gerichtet, war mit sich selbst beschäftigt statt mit Weltklima, Fundamentalismus und Globalisierung, war beschäftigt mit seiner Krise, seiner Größe, seiner Währung - und mit seinen tiefen Gräben zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, Nordländern und Südländern, Gebern und Nehmern. Ausgerechnet seit Beginn des so genannten "Wahlkampfes" aber war es damit - zumindest in Deutschland - gründlich vorbei.
Müde Formeln
Europa hat sich in den vergangenen Wochen nicht zu viel, sondern viel zu wenig bespiegelt. Es hat den Eindruck erweckt, als sei es seiner selbst überdrüssig, seiner einigenden Formeln müde, an seinen immer gleichen Selbstbeschwörungen ermattet.
"Gute Arbeit", "Wachstum" und "Chancen" für "die Menschen", so warb eine erkennbar lustlose die CDU um unsere Stimme für Europa: "Gemeinsam erfolgreich". "Demokratie", "Wachstum" und "Chancen" für "die Menschen" wünschte sich die deutlich engagiertere SPD für uns und den Kontinent: ein Europa "des Miteinanders". Das alles sind keine austauschbaren und inhaltsleeren Ziele. Das sind identische und gar keine Ziele.
Grob fahrlässig
Entsprechend haben uns die Spitzenkandidaten der beiden größten Fraktionen im Europäischen Parlament, der sozialdemokratisch-linke Martin Schulz aus Würselen und der christdemokratisch-konservative Jean-Claude Juncker aus Luxemburg, zwar jederzeit versichert, dass Europa klasse ist, dabei aber glatt vergessen uns mitzuteilen, in welches Europa sie uns Bürger künftig gestellt wissen möchten.
Das ist nicht nur grob fahrlässig, sondern auch, mit Verlaub, pervers, weil die Europa-Freunde mit ihrer ostentativen, aus der Geschichte richtig hergeleiteten, ansonsten aber verlässlich begründungsarmen Europa-Bejahung ausgerechnet Rechtspopulisten, Linksextremisten, Nationaltümlern und Euro-Gegnern in die Hände gespielt haben, die Umfragen zufolge recht erfolgreich so tun, als könne man Europa ablehnen.
Am Ende stehen Leerformeln gegen Leerformeln und man hat die Wahl zwischen Gegensätzen, die es gar nicht gibt - weil beide Seiten so tun, als könne man heute als Deutscher, Portugiese oder Ungar "für Europa" oder "gegen Europa" stimmen. Als könne man seine Geschichte, seine Sprache und sein Territorium im Zweifel huckepack nehmen, seine Vergangenheit und Kultur mit der von Madagaskar verknüpfen oder mit seinem Land in der Südsee vor Anker gehen. Als sei Europa keine politische Schicksalsgemeinschaft von Nationen und Staaten, die im Interesse ihrer Bürger zu irgendeiner Form von regionalen Kooperation verdammt sind - nicht mehr und nicht weniger.
Das Europawahl-Programm der Parteien
Die CDU setzt mit dem früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister als deutschem Spitzenkandidaten den Schwerpunkt auf Wirtschaft und Finanzen. Sie will den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM und das Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“ erhalten. Eine Vergemeinschaftung der Schulden wird weiter abgelehnt. „Armutswanderung“ in soziale Sicherungssysteme soll verhindert werden. Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen soll abgebaut und mehr Bürgernähe durch eine Vereinfachung der EU-Gesetzgebung geschaffen werden. Eine Vollmitgliedschaft der Türkei wird abgelehnt.
Die CSU übt inhaltlich wie personell den Spagat zwischen Anti-Brüssel-Propaganda und Bekenntnissen zu Europa: CSU-Vize Peter Gauweiler bedient die Europagegner und soll die AfD neutralisieren, der offizielle Spitzenkandidat Markus Ferber steht für die proeuropäische Seite. Forderungen sind die Rückgabe nationaler Kompetenzen, Bürokratieabbau, die Verkleinerung der Kommission und die Einführung von Volksentscheiden in Deutschland über wichtige Europafragen.
Bei der SPD gibt es mit dem Europaparlaments-Präsidenten Martin Schulz einen zugkräftigen Spitzenmann, er ist auch der europaweite Kandidat der Sozialdemokraten und soll EU-Kommissionspräsident werden. Rechts- wie Linkspopulisten sagt die SPD den Kampf an. Wichtige Ziele sind: strengere Haftungsregeln für Banken, Trennung von Investment- und Geschäftsbankensystem und ein „Finanz-Check“ für alle neuen Finanzprodukte; Entzug der Banklizenz bei Hilfe zum Steuerbetrug; europaweite Mindestlöhne; weniger Bürokratie, mehr Mitsprache und mehr Macht für das Europaparlament.
Die Linke spricht sich für eine grundlegende Neuausrichtung der EU aus. „Europa geht anders. Sozial, friedlich, demokratisch“, heißt ihr Programm. „Wir wollen einen Politikwechsel, damit die EU nicht vornehmlich Eliten an Reichtum und Macht ein Zuhause bietet, sondern sich solidarisch für alle entwickelt.“ Konkret fordert die Partei Mindestlöhne und -renten in der gesamten EU, eine Neuausrichtung der Währungsunion, die Vergesellschaftung privater Großbanken, ein Verbot von Rüstungsexporten sowie die Auflösung der Nato.
Die Grünen stellen den Klima- und Verbraucherschutz, mehr Datensicherheit und Bürgerrechte in den Mittelpunkt. Antieuropäischen Populismus von Rechts und Links konfrontieren sie mit dem „Ziel eines besseren Europas“. Sie wollen die EU weiterentwickeln und die Erweiterungspolitik der EU fortsetzen. Sie wollen ein Europa der erneuerbaren Energien. Der Atomausstieg soll in der gesamten EU vorangetrieben werden. Lebensmittel sollen frei von Gentechnik und Antibiotika sein. EU-weit verpflichtende Herkunftsangaben sollen dabei Transparenz schaffen.
Die FDP will nach dem bitteren Abschied aus dem Bundestag ein kleines Comeback schaffen. In den Umfragen bewegt sich bei den Liberalen aber bislang nichts. Sollte die AfD besser abschneiden, hätte Parteichef Christian Lindner ein Problem. Von einer Schicksalswahl will er aber nichts wissen. Der Hauptgegner sei Schwarz-Rot, nicht die AfD. Inhaltlich tritt die FDP für mehr Bürgerrechte ein, die Vorratsdatenspeicherung soll verhindert werden. Beim Euro soll der Rettungsschirm ESM schrittweise reduziert, zudem ein Austrittsmechanismus für Euro-Länder geschaffen werden.
Die Alternative für Deutschland setzt mit ihrem Slogan „Mut zu D EU tschland“ ein klares Zeichen. Erst geht es um Deutschland, dann um Europa. Ein Austritt aus dem Euro wird für die Krisenländer Südeuropas gefordert. Neue EU-Mitglieder soll es nicht geben, Kompetenzen sollen auf die nationale Ebene zurückverlagert werden. Neben Parteichef Bernd Lucke auf Listenplatz eins soll der frühere Industriepräsident Hans-Olaf Henkel der Partei ein Gesicht geben. Eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen lehnt die AfD ab.
Anders gesagt: Wenn Marine Le Pen (Frankreich) und Geert Wilders (Niederlande), die UKIP von Nigel Farage (Großbritannien), die Lega Nord (Italien) und die österreichische FPÖ, vom Krisenaufwind getragen, an Vorurteilen rühren und Ressentiments bedienen, dann tun sie das - Umfragen zufolge - nur deshalb so erfolgreich, weil Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale dem nicht viel mehr als verstaubte Politikprosa entgegen zu setzen haben.
Banale Formeln
Wer aber Grundsätze mit banalen Formeln verklebt und tautologisch "Europa!" plakatiert; wer die jederzeit schwierige Geschichte des inter-nationalen Interessenausgleichs in Europa seit 1945 mit der parteiübergreifenden Affirmation eines normativ entleerten Ideals verkleistert, jede Differenz im politischen Wettbewerb hinter gebetsmühlenartig hingemurmelten Pathosformeln versteckt; wer herzlich einig im Namen von zustimmungspflichtigen Universalien wie "Frieden", "Einigkeit" und "Freiheit" auf Stimmenfang geht - der darf sich nach all' den Krisengipfeln, Rettungspaketen und De-Facto-Staatspleiten, nach immer neuen Verschuldungsrekorden, Sparrunden und Entlassungswellen weder über das protestgetriebene Erstarken der politischen Ränder noch über das erwartbare Desinteresse traditionell wohlmeinender Mitte-Wähler am heutigen Urnengang nicht wundern.
Die Beteiligung an Europawahlen ist in den vergangenen drei Jahrzehnten von 63 Prozent (1979) auf 43 Prozent (2009) gesunken. Nichts spricht dafür, dass der Negativtrend heute gestoppt wird. Im Gegenteil: Fänden nicht zugleich in zehn von 16 Bundesländern, darunter NRW und Baden-Württemberg, zugleich Kommunalwahlen statt, ginge wahrscheinlich nur noch jeder dritte Deutsche zur Europawahl.
Wen wählen wir wirklich?
Was aber steht bei den heutigen Europawahlen wirklich auf dem Spiel? Wählen wir mit den Abgeordneten heute wirklich die Menschen, die künftig in charge sein und die Zukunft des Kontinents, der EU und des Euro bestimmen werden, so wie es das Europäische Parlament auf seiner Homepage verspricht? Stimmen wir heute ab über die prinzipielle Frage, ob wir in Zukunft mehr Europa haben werden oder weniger, ob es einen Ausbau der EU in Richtung Wirtschaftsunion geben wird oder aber einen institutionellen Rückbau in Brüssel?
Nein, das tun wir ganz bestimmt nicht.
Stattdessen stimmen wir ab über Fragen des Daten- und Verbraucherschutzes, über unsere Rechte als Internetnutzer, Passagiere und Bankkunden.
Das Europaparlament ist ein Verbraucherschutzparlament; es sorgt dafür, dass Nahrungsmittel gekennzeichnet und Geldprodukte zertifiziert werden, dass Telefonkonzerne keine Roaminggebühren mehr kassieren, der Datenhunger von Internetkonzernen gemäßigt wird und Tabakhersteller auf die Folgen des Rauchens aufmerksam machen.
Wir stimmen daher heute beispielsweise darüber ab, ob wir ein Freihandelsabkommen mit den USA wollen oder nicht. Oder darüber, ob wir Googles Macht eher auf dem Vormarsch oder zerschlagen oder von einem amtlich aufgebauten europäischen Konkurrenten gemäßigt sehen wollen.
Darüber hingegen, wie wir es mit Eurobonds und Russland halten, mit Griechenland und dem Euro, haben wir Deutsche bereits vergangenen September abgestimmt: bei den Bundestagswahlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Finanzminister Wolfgang Schäuble - sowie ihre Kollegen aus Frankreich - bestimmen die sicherheits-, wirtschafts- und finanzpolitischen Richtlinien der europäischen Politik immer noch mehr als die "europäische Außenministerin" Catherine Ashton oder der amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso.
Daran ändert auch die Verknüpfung der Parlamentswahl mit der anschließend stattfindenden Neubesetzung des Kommissionspräsidenten nichts. Die drei größten Fraktionen im Europäischen Parlament/EP (Sozialisten (S&D)/SPD, Europäische Volkspartei (EVP)/CDU, Liberale/FDP), die derzeit 480 von 751 Sitzen auf die Waage bringen, mögen sich - wie auch die Grünen - von der Aufstellung ihrer "Spitzenkandidaten" und vom Junktim Wahlsieger-Kommissionspräsident eine Aufwertung des Parlaments, jedenfalls ein sichtbares Zeichen der EU-Demokratisierung erhofft haben.
In Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel allerdings sehr deutlich gemacht, was sie von derlei Umtrieben hält, nämlich gar nichts. Merkel hat nicht Wahlkampf für den EVP-Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker gemacht, nicht Wahlkampf für den europäischen CDU-Frontmann David McAllister, sondern sie hat Wahlkampf mit sich selbst gemacht - also mit einer Person, die überhaupt nicht zur Wahl steht. Mal abgesehen davon, dass Merkel damit als Bundeskanzlerin reichlich schamlos das zentralste demokratisches Grundrecht - eine Wahl - banalisiert hat, lautet ihre Botschaft: Wer Kommissionspräsident wird und wer nicht, das bestimmen im Zweifel immer noch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und nicht das Europäische Parlament.
An Konsensbereitschaft mangelt es nicht
Im Ergebnis heißt das: Stellt die EVP heute Abend die mit Abstand größte Fraktion, wird sie zwar auch den Kommissionspräsidenten stellen. Allein Jean-Claude Juncker, die "Spitzenkandidat" genannte Schaufenster-Puppe der EVP, der nicht die Unterstützung Merkels genießt, wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht sein. Politik absurd?
Naja.
Nicht mal Martin Schulz, der breit unterstützte Spitzenkandidat der Sozialisten, der im Falle eines Wahlsieges ziemlich sicher aufs Schild des Kommissionspräsidenten gehoben würde, ist in den eigenen Reihen unumstritten. Schulz ist bekanntlich nicht nur Sozialist, sondern auch Deutscher - und als solcher für britische, italienische oder griechische Abgeordnete jedweder Couleur nicht gerade eine Traumbesetzung. Auch ist nicht klar, was der französische Staatspräsident Francois Hollande von einem Kommissionspräsidenten Martin Schulz halten würde: Beide sind Sozialisten, wohl wahr - aber ist die ökonomische Potenz der Deutschen nicht schon erdrückend genug? Braucht es da wirklich auch noch einen deutschen Kommissionspräsidenten?
Eine Farce
Der formale Grund für die Farce von der demokratischen Aufwertung des Parlaments ist der Lissabon-Vertrag. Er räumt den im "Europäischen Rat" versammelten Staats- und Regierungschefs das Recht ein, dem Parlament einen Kandidaten vorzuschlagen, den die Abgeordneten dann mit absoluter Mehrheit wählen.
Dabei ist von den Staats- und Regierungschefs zwar "das Ergebnis der Parlamentswahlen" zu berücksichtigen. Entscheidend ist aber nicht die konkrete Person, sondern ihre Zugehörigkeit zu einem politischen Lager. Hinzu kommt, dass der Kommissionspräsident das Eine ist, seine Mannschaft aber etwas ganz anderes.
Jeder Staat hat das Recht, einen Kommissar zu stellen, das heißt: die nationalen Regierungen bestimmen 27 Kommissare, während das Parlament nur bei einem mitredet, dem Präsidenten. Auch ist die Exkeutive der EU - also die Kommission - auf die dauerhafte Unterstützung der stärksten Fraktion im Parlament gar nicht angewiesen. Sie kann nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit abgewählt werden, weshalb es im EP, anders als in nationalen Parlamenten, weder eine "Regierungsfraktion" noch eine "Opposition" gibt.
Stattdessen gibt es - vor allem gegenüber den Partikularinteressen kleinerer Fraktionen und einzelner Abgeordneter - eine ausgeprägte Konsensbereitschaft: EVP und S&D haben beide ein Interesse an "mehr Europa". Deshalb arbeiten sie nicht nur seit Jahren gut zusammen. Deshalb werden sie es ab morgen früh auch mehr denn je tun.
Der demoskopisch vorhergesagte Vormarsch europa-skeptischer Parteien einerseits sowie der verstärkte Einzug von Klientelparteien andererseits - eine Folge der unseligen Abschaffung der Drei-Prozent-Hürde - werden paradoxerweise nicht etwa dazu führen, dass das Parlament künftig pluralistischer daherkommt, sondern im Gegenteil: dass sich die Tendenz zum großkoalitionären Konsens noch einmal verstärken wird. Anders gesagt: In Berlin regiert die Große Koalition. In Brüssel künftig die größte.
Viele Interessen und Faktoren
Das geht auch gar nicht anders, weil man sich nicht nur das Europäische Parlament als äußerst heterogenes Abgeordnetenhaus, sondern auch die Institutionen der EU als eine kolossale Proporzmaschine vorzustellen hat. Die Verteilung von Spitzenposten erfolgt in Brüssel (noch) weniger als in Berlin allein nach Qualifikation und fachlicher Eignung. Vielmehr sind Neubesetzungen das Ergebnis eines komplizierten Austarierens von multiplen Interessen und Faktoren: Nord gegen Süd, Klein gegen Groß, Neu gegen Alt.
Und das ist längst noch nicht alles. Berücksichtigt werden muss außerdem: Mann oder Frau, Euro-Land oder Nicht-Euro-Land, NATO-Mitglied oder keins.
Eben drum aber sind die Wahlen heute - Dialektik Europas! - aus zweierlei Gründen von zentraler Bedeutung.
Erstens: Es hilft nicht, das Demokratiedefizit der EU zu beklagen und die vermeintliche Machtlosigkeit des Europäischen Parlaments. Jeder kleine Schritt, den Europa in Richtung "direkte Mitsprache seiner Bürger" geht, ist zu begrüßen. Die Wahlen heute sind so ein kleiner, tastender Schritt - und wer gegen sie die Angst vor einem übermächtigen Europa mobilisiert, handelt zunächst einmal unredlich.
Die "Vereinigten Staaten von Europa" sind weder ein Wunschtraum von Internationalisten, noch ein Albtraum von Nationalisten, sondern eine absehbar unrealistische Idee. Weshalb "Europa" in den nächsten zwanzig Jahren bleiben wird, was es ist, ganz gleich, ob die Briten sich für einen Austritt aus der EU entscheiden oder nicht, ob die AfD hierzulande zehn Prozent erreicht oder zwei, ob es demnächst eine Wirtschaftsregierung in Brüssel geben wird oder einen Rückbau der Institutionen. Das "Europa" der Nachkriegszeit war, ist und bleibt ein Symbol des zähen, manchmal frustrierenden Ringens um die "richtige" Integration nationalstaatlicher Interessen.
Zweitens: Es ergibt auch keinen Sinn, die "Kompetenzverlagerung" nach Brüssel zu beschimpfen und die Übergriffigkeit des vermeintlichen Supervormunds EU. Der Klimawandel, die Bankenkrise, das schuldenfinanzierte Wachstumsmodell des Westens und der Aufstieg Asiens, aber auch die Grenzenlosigkeit des Internets, der Produktion und des Handels mit Nahrungsmitteln verlangen nun mal eine Harmonisierung - und möglicherweise auch die Verteidigung - von (Schutz-)Standards.
Nirgends auf der Welt ist man mit diesem Projekt weiter als in Europa. Nirgends auf der Welt gibt es mehr Abstimmung unter Nachbarn als hier. Nirgends auf der Welt ein stärkeres institutionalisiertes Miteinander in Fragen, die die Menschheit entweder miteinander wird lösen können oder aber gar nicht.
Die Frage ist deshalb nicht, ob es "mehr Europa" braucht. Sondern in welchen Formen der Kooperation man dieses "mehr Europa" sinnvoll zu organisieren weiß. Wie viel Wettbewerb und Zusammenarbeit nötig sind, um die Harmonisierung Europas auf die effektive Spitze zu treiben. Wie viel Solidarität und Solidität künftig zählen sollen, damit das zuletzt reichlich lädierte Vertrauen zwischen den Staaten wieder wachsen kann.
Sage also keiner morgen, wir hätten gestern keine Wahl gehabt.