Tauchsieder

Schimpft nicht, geht zur Wahl!

Im Wahlkampf haben alle Parteien so getan, als könne man "für Europa" oder "gegen Europa" sein. Das ist absurd. Als Nachbarn können wir nur miteinander überleben oder gar nicht.

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Die härtesten Attacken im Europa-Wahlkampf
Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber kritisiert, dass Schulz sich angesichts der vielen ertrunkenen Afrikaner im Mittelmeer für eine großzügigere Aufnahme von Bootsflüchtlingen ausspricht: „Die Schlepperbanden in Afrika haben damit einen Geschäftsführer bekommen“, sagte Ferber. Schulz zeigte sich empört und forderte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, polemische Kritik von Unionspolitikern an ihm zu unterbinden. „Frau Merkel sollte ihre Parteifreunde endlich einmal zurückpfeifen“, sagte Schulz. „Immer wenn die Rechte nervös wird, versucht sie, aus Sozialdemokraten Vaterlandsverräter zu machen.“ Quelle: dpa
Auch der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer übte lautstark Kritik an dem SPD-Mann und seinen Vorstellungen zur Euro-Krisenpolitik: „Die Fassade und die Person stammen aus Deutschland, aber die Stimme und die Inhalte stammen aus den Schuldenländern.“ Quelle: dpa
SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi warf Seehofer daraufhin vor, diffamierende Attacken auf den Koalitionspartner SPD zu billigen. „Wie verzweifelt muss die CSU sein, dass sie im Europawahlkampf jetzt in persönliche Beleidigungen verfällt“, sagte Fahimi. „Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer findet es völlig "in Ordnung", den Spitzenkandidaten der SPD zur Europawahl, Martin Schulz, als Menschenhändler und Schlepper zu beschimpfen“, kritisierte sie. Das sei ein Zeichen fehlenden Anstands. „Ich bleibe dabei: Die CSU betreibt in diesem Europawahlkampf das Geschäft der Rechtspopulisten in Deutschland“, sagte Fahimi. Quelle: dpa
Auch andere Parteien liefern sich einen Schlagabtausch. Der FDP-Spitzenkandidat für die Europawahlen, Alexander Graf Lambsdorff, warnte seine Parteifreunde vor einem Siegeszug populistischer Kräften. AfD, Linkspartei oder CSU-Vize Peter Gauweiler schwadronierten herum und verharmlosten Russlands Völkerrechtsbruch auf der Krim, sagte er beim Parteitag der FDP vor den etwa 660 Delegierten. „Hier wird die Axt an den Frieden in Europa gelegt. Wer solche Dinge behauptet, hat in Europa nichts zu suchen.“ Äußerungen von Parteichef Bernd Lucke entlarvten die AfD als „politische Geisterfahrer“. Quelle: dpa
AfD-Kandidat Hans-Olaf Henkel konterte: „Angesichts der schlechten Umfragewerte für ihre Partei gehen dem noch verbliebenen Spitzenpersonal der FDP nun die Nerven durch, anders sind die unqualifizierten Angriffe auf die AfD, ihre Mitglieder und Sympathisanten nicht mehr zu erklären.“ Und weiter: „Für ehemalige Mitglieder und Anhänger der FDP ist es nur noch peinlich anzusehen, wie der Neffe von Otto Graf Lambsdorff versucht, in den für ihn viel zu großen Schuhen seines Onkels zu laufen. Dass die FDP-Spitze so ihren verstorbenen Vorsitzenden zum Kronzeugen ihrer Euro-und Europapolitik machen will, sagt alles über den derzeitigen Zustand dieser einstmals liberalen Partei.“ Quelle: dpa

Europa, heißt es, hat in den vergangenen fünf Jahren den Blick nach innen gerichtet, war mit sich selbst beschäftigt statt mit Weltklima, Fundamentalismus und Globalisierung, war beschäftigt mit seiner Krise, seiner Größe, seiner Währung - und mit seinen tiefen Gräben zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, Nordländern und Südländern, Gebern und Nehmern. Ausgerechnet seit Beginn des so genannten "Wahlkampfes" aber war es damit - zumindest in Deutschland - gründlich vorbei.

Müde Formeln

Europa hat sich in den vergangenen Wochen nicht zu viel, sondern viel zu wenig bespiegelt. Es hat den Eindruck erweckt, als sei es seiner selbst überdrüssig, seiner einigenden Formeln müde, an seinen immer gleichen Selbstbeschwörungen ermattet.

"Gute Arbeit", "Wachstum" und "Chancen" für "die Menschen", so warb eine erkennbar lustlose die CDU um unsere Stimme für Europa: "Gemeinsam erfolgreich". "Demokratie", "Wachstum" und "Chancen" für "die Menschen" wünschte sich die deutlich engagiertere SPD für uns und den Kontinent: ein Europa "des Miteinanders". Das alles sind keine austauschbaren und inhaltsleeren Ziele. Das sind identische und gar keine Ziele.

Grob fahrlässig

Entsprechend haben uns die Spitzenkandidaten der beiden größten Fraktionen im Europäischen Parlament, der sozialdemokratisch-linke Martin Schulz aus Würselen und der christdemokratisch-konservative Jean-Claude Juncker aus Luxemburg, zwar jederzeit versichert, dass Europa klasse ist, dabei aber glatt vergessen uns mitzuteilen, in welches Europa sie uns Bürger künftig gestellt wissen möchten.

Das ist nicht nur grob fahrlässig, sondern auch, mit Verlaub, pervers, weil die Europa-Freunde mit ihrer ostentativen, aus der Geschichte richtig hergeleiteten, ansonsten aber verlässlich begründungsarmen Europa-Bejahung ausgerechnet Rechtspopulisten, Linksextremisten, Nationaltümlern und Euro-Gegnern in die Hände gespielt haben, die Umfragen zufolge recht erfolgreich so tun, als könne man Europa ablehnen.

Am Ende stehen Leerformeln gegen Leerformeln und man hat die Wahl zwischen Gegensätzen, die es gar nicht gibt - weil beide Seiten so tun, als könne man heute als Deutscher, Portugiese oder Ungar "für Europa" oder "gegen Europa" stimmen. Als könne man seine Geschichte, seine Sprache und sein Territorium im Zweifel huckepack nehmen, seine Vergangenheit und Kultur mit der von Madagaskar verknüpfen oder mit seinem Land in der Südsee vor Anker gehen. Als sei Europa keine politische Schicksalsgemeinschaft von Nationen und Staaten, die im Interesse ihrer Bürger zu irgendeiner Form von regionalen Kooperation verdammt sind - nicht mehr und nicht weniger.

Das Europawahl-Programm der Parteien

Anders gesagt: Wenn Marine Le Pen (Frankreich) und Geert Wilders (Niederlande), die UKIP von Nigel Farage (Großbritannien), die Lega Nord (Italien) und die österreichische FPÖ, vom Krisenaufwind getragen, an Vorurteilen rühren und Ressentiments bedienen, dann tun sie das - Umfragen zufolge - nur deshalb so erfolgreich, weil Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale dem nicht viel mehr als verstaubte Politikprosa entgegen zu setzen haben.

Banale Formeln

Wer aber Grundsätze mit banalen Formeln verklebt und tautologisch "Europa!" plakatiert; wer die jederzeit schwierige Geschichte des inter-nationalen Interessenausgleichs in Europa seit 1945 mit der parteiübergreifenden Affirmation eines normativ entleerten Ideals verkleistert, jede Differenz im politischen Wettbewerb hinter gebetsmühlenartig hingemurmelten Pathosformeln versteckt; wer herzlich einig im Namen von zustimmungspflichtigen Universalien wie "Frieden", "Einigkeit" und "Freiheit" auf Stimmenfang geht - der darf sich nach all' den Krisengipfeln, Rettungspaketen und De-Facto-Staatspleiten, nach immer neuen Verschuldungsrekorden, Sparrunden und Entlassungswellen weder über das protestgetriebene Erstarken der politischen Ränder noch über das erwartbare Desinteresse traditionell wohlmeinender Mitte-Wähler am heutigen Urnengang nicht wundern.

Die Beteiligung an Europawahlen ist in den vergangenen drei Jahrzehnten von 63 Prozent (1979) auf 43 Prozent (2009) gesunken. Nichts spricht dafür, dass der Negativtrend heute gestoppt wird. Im Gegenteil: Fänden nicht zugleich in zehn von 16 Bundesländern, darunter NRW und Baden-Württemberg, zugleich Kommunalwahlen statt, ginge wahrscheinlich nur noch jeder dritte Deutsche zur Europawahl.

Wen wählen wir wirklich?

Das sind die wichtigsten Europakritiker
Nigel Farage Quelle: dpa
Frankreich Front National (FN) (70.000 Mitglieder) Marine Le Pen hat die 1972 gegründete Partei 2011 von ihrem Vater übernommen. Stark ist der FN in Südfrankreich, im Elsass sowie in den Regionen Lothringen und Nord-Pas-de-Calais. Er stellt mehrere Bürgermeister und ist mit rund 120 Abgeordneten in zwölf Regionalparlamenten vertreten. Wichtigste Forderung: Raus aus dem Euro und Neugründung Europas als Bündnis souveräner Nationalstaaten. Prognose für die Europawahl: Mit ca. 24 Prozent stärkste Kraft Quelle: REUTERS
Deutschland Alternative für Deutschland (AfD) (17.000 Mitglieder)Bernd Lucke gründete die Partei der Euro-Kritiker im Februar 2013. Der Einzug in den Bundestag wurde im Herbst 2013 nur knapp verpasst. Zuletzt präsentierte sich die ursprüngliche Professorenpartei stark zerstritten.Prognose für die Europawahl: 4 bis 7 Prozent Quelle: AP
Niederlande Partei für die Freiheit (PVV) (1 Mitglied)Geert Wilders ist Kopf und offiziell einziges Mitglied der niederländischen Rechtspartei. Nach der Schlappe bei den Parlamentswahlen 2012 (nur 10,1 Prozent) will er bei den Europawahlen durchstarten. Die Demoskopen halten einen Erfolg für wahrscheinlich. Die PVV weist derzeit die meisten Anhänger auf, die tatsächlich wählen gehen wollen.Prognose für die Europawahl: Stärkste Kraft mit 17 Prozent Quelle: AP
Italien Bewegung 5 Sterne (250.000 Mitglieder)Die Bewegung des Komikers Beppe Grillo mag zerstritten sein. Europa bietet seiner Anti-Establishment-Plattform aber reichlich Angriffsfläche. Grillo kann daher mit 16 Sitzen im Europäischen Parlament rechnen. Im italienischen Parlament stellt seine Fraktion 109 von 630 Abgeordneten. Prognose für die Europawahl: Mehr als 20 Prozent Quelle: REUTERS
Griechenland Syriza (ca. 40.000 Mitglieder)Spitzenmann Alexis Tsipras hofft auf eine Wiederholung von 2009: Das schlechte Abschneiden der konservativen Nea Dimokratia (ND) bei der Europawahl erzwang damals Neuwahlen, die zu einem Regierungswechsel führten. Premierminister Antonis Samaras will Neuwahlen um jeden Preis vermeiden. Im nationalen Parlament stellt Syriza aktuell 71 von 300 Abgeordneten.Prognose für die Europawahl: Stärkste Kraft mit 31,5 Prozent Quelle: AP
Finnland Die wahren Finnen (10 000 Mitglieder)Timo Soini, Chef der 1995 gegründeten Partei, ist vom Einzug seiner Partei ins Europaparlament überzeugt. Die Partei bezeichnet sich als patriotisch und EU-skeptisch. Seit 2011 ist sie mit 39 von 200 Abgeordneten im nationalen Parlament vertreten. Prognose für die Europawahl: Drittstärkste Kraft mit 17,5 Prozent Quelle: dpa Picture-Alliance

Was aber steht bei den heutigen Europawahlen wirklich auf dem Spiel? Wählen wir mit den Abgeordneten heute wirklich die Menschen, die künftig in charge sein und die Zukunft des Kontinents, der EU und des Euro bestimmen werden, so wie es das Europäische Parlament auf seiner Homepage verspricht? Stimmen wir heute ab über die prinzipielle Frage, ob wir in Zukunft mehr Europa haben werden oder weniger, ob es einen Ausbau der EU in Richtung Wirtschaftsunion geben wird oder aber einen institutionellen Rückbau in Brüssel?

Nein, das tun wir ganz bestimmt nicht.

Stattdessen stimmen wir ab über Fragen des Daten- und Verbraucherschutzes, über unsere Rechte als Internetnutzer, Passagiere und Bankkunden.

Das Europaparlament ist ein Verbraucherschutzparlament; es sorgt dafür, dass Nahrungsmittel gekennzeichnet und Geldprodukte zertifiziert werden, dass Telefonkonzerne keine Roaminggebühren mehr kassieren, der Datenhunger von Internetkonzernen gemäßigt wird und Tabakhersteller auf die Folgen des Rauchens aufmerksam machen.

Wir stimmen daher heute beispielsweise darüber ab, ob wir ein Freihandelsabkommen mit den USA wollen oder nicht. Oder darüber, ob wir Googles Macht eher auf dem Vormarsch oder zerschlagen oder von einem amtlich aufgebauten europäischen Konkurrenten gemäßigt sehen wollen.

Darüber hingegen, wie wir es mit Eurobonds und Russland halten, mit Griechenland und dem Euro, haben wir Deutsche bereits vergangenen September abgestimmt: bei den Bundestagswahlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Finanzminister Wolfgang Schäuble - sowie ihre Kollegen aus Frankreich - bestimmen die sicherheits-, wirtschafts- und finanzpolitischen Richtlinien der europäischen Politik immer noch mehr als die "europäische Außenministerin" Catherine Ashton oder der amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso.

Daran ändert auch die Verknüpfung der Parlamentswahl mit der anschließend stattfindenden Neubesetzung des Kommissionspräsidenten nichts. Die drei größten Fraktionen im Europäischen Parlament/EP (Sozialisten (S&D)/SPD, Europäische Volkspartei (EVP)/CDU, Liberale/FDP), die derzeit 480 von 751 Sitzen auf die Waage bringen, mögen sich - wie auch die Grünen - von der Aufstellung ihrer "Spitzenkandidaten" und vom Junktim Wahlsieger-Kommissionspräsident eine Aufwertung des Parlaments, jedenfalls ein sichtbares Zeichen der EU-Demokratisierung erhofft haben.

In Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel allerdings sehr deutlich gemacht, was sie von derlei Umtrieben hält, nämlich gar nichts. Merkel hat nicht Wahlkampf für den EVP-Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker gemacht, nicht Wahlkampf für den europäischen CDU-Frontmann David McAllister, sondern sie hat Wahlkampf mit sich selbst gemacht - also mit einer Person, die überhaupt nicht zur Wahl steht. Mal abgesehen davon, dass Merkel damit als Bundeskanzlerin reichlich schamlos das zentralste demokratisches Grundrecht - eine Wahl - banalisiert hat, lautet ihre Botschaft: Wer Kommissionspräsident wird und wer nicht, das bestimmen im Zweifel immer noch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und nicht das Europäische Parlament.

An Konsensbereitschaft mangelt es nicht

Wer in Europa mitreden will
Jean-Claude Juncker Quelle: dapd
Martin Schulz Quelle: dpa
David McAllister Quelle: dpa
Rebecca Harms Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europa-Parlament, Rebecca Harms, ist die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen für die Wahl zum Europa-Parlament im Mai. Die 57-Jährige setzte sich beim Parteitag der Grünen in Dresden mit 477 Stimmen gegen die weithin unbekannte Europa-Abgeordnete Franziska (Ska) Keller durch, die 248 Stimmen erhielt. Keller hatte ihre Kandidatur für den ersten Platz der deutschen Grünen bekanntgegeben, nachdem die 32-Jährige bei einer Internet-Abstimmung über die Spitzenkandidaten der europäischen Grünen überraschend mehr Stimmen als Harms erhalten hatte. "Mir ist sehr bewusst, dass ich schon weit über 30 bin, aber ich bin immer noch die Gorleben-Aktivistin und ich will immer noch die Welt verändern", schloss Harms ihre Bewerbungsrede unter Anspielung auf die Atomkraftgegner in der Region um das ursprünglich in Gorleben geplante Atommülllager. Quelle: dpa
Bernd Lucke Quelle: REUTERS
Alexander Graf Lambsdorff  Quelle: dpa
Guy Verhofstadt Quelle: REUTERS

Im Ergebnis heißt das: Stellt die EVP heute Abend die mit Abstand größte Fraktion, wird sie zwar auch den Kommissionspräsidenten stellen. Allein Jean-Claude Juncker, die "Spitzenkandidat" genannte Schaufenster-Puppe der EVP, der nicht die Unterstützung Merkels genießt, wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht sein. Politik absurd?

Naja.

Nicht mal Martin Schulz, der breit unterstützte Spitzenkandidat der Sozialisten, der im Falle eines Wahlsieges ziemlich sicher aufs Schild des Kommissionspräsidenten gehoben würde, ist in den eigenen Reihen unumstritten. Schulz ist bekanntlich nicht nur Sozialist, sondern auch Deutscher - und als solcher für britische, italienische oder griechische Abgeordnete jedweder Couleur nicht gerade eine Traumbesetzung. Auch ist nicht klar, was der französische Staatspräsident Francois Hollande von einem Kommissionspräsidenten Martin Schulz halten würde: Beide sind Sozialisten, wohl wahr - aber ist die ökonomische Potenz der Deutschen nicht schon erdrückend genug? Braucht es da wirklich auch noch einen deutschen Kommissionspräsidenten?

Eine Farce

Der formale Grund für die Farce von der demokratischen Aufwertung des Parlaments ist der Lissabon-Vertrag. Er räumt den im "Europäischen Rat" versammelten Staats- und Regierungschefs das Recht ein, dem Parlament einen Kandidaten vorzuschlagen, den die Abgeordneten dann mit absoluter Mehrheit wählen.

Dabei ist von den Staats- und Regierungschefs zwar "das Ergebnis der Parlamentswahlen" zu berücksichtigen. Entscheidend ist aber nicht die konkrete Person, sondern ihre Zugehörigkeit zu einem politischen Lager. Hinzu kommt, dass der Kommissionspräsident das Eine ist, seine Mannschaft aber etwas ganz anderes.

Jeder Staat hat das Recht, einen Kommissar zu stellen, das heißt: die nationalen Regierungen bestimmen 27 Kommissare, während das Parlament nur bei einem mitredet, dem Präsidenten. Auch ist die Exkeutive der EU - also die Kommission - auf die dauerhafte Unterstützung der stärksten Fraktion im Parlament gar nicht angewiesen. Sie kann nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit abgewählt werden, weshalb es im EP, anders als in nationalen Parlamenten, weder eine "Regierungsfraktion" noch eine "Opposition" gibt.

Stattdessen gibt es - vor allem gegenüber den Partikularinteressen kleinerer Fraktionen und einzelner Abgeordneter - eine ausgeprägte Konsensbereitschaft: EVP und S&D haben beide ein Interesse an "mehr Europa". Deshalb arbeiten sie nicht nur seit Jahren gut zusammen. Deshalb werden sie es ab morgen früh auch mehr denn je tun.

Der demoskopisch vorhergesagte Vormarsch europa-skeptischer Parteien einerseits sowie der verstärkte Einzug von Klientelparteien andererseits - eine Folge der unseligen Abschaffung der Drei-Prozent-Hürde - werden paradoxerweise nicht etwa dazu führen, dass das Parlament künftig pluralistischer daherkommt, sondern im Gegenteil: dass sich die Tendenz zum großkoalitionären Konsens noch einmal verstärken wird. Anders gesagt: In Berlin regiert die Große Koalition. In Brüssel künftig die größte.

Viele Interessen und Faktoren

Das sind die wichtigsten Europakritiker
Nigel Farage Quelle: dpa
Frankreich Front National (FN) (70.000 Mitglieder) Marine Le Pen hat die 1972 gegründete Partei 2011 von ihrem Vater übernommen. Stark ist der FN in Südfrankreich, im Elsass sowie in den Regionen Lothringen und Nord-Pas-de-Calais. Er stellt mehrere Bürgermeister und ist mit rund 120 Abgeordneten in zwölf Regionalparlamenten vertreten. Wichtigste Forderung: Raus aus dem Euro und Neugründung Europas als Bündnis souveräner Nationalstaaten. Prognose für die Europawahl: Mit ca. 24 Prozent stärkste Kraft Quelle: REUTERS
Deutschland Alternative für Deutschland (AfD) (17.000 Mitglieder)Bernd Lucke gründete die Partei der Euro-Kritiker im Februar 2013. Der Einzug in den Bundestag wurde im Herbst 2013 nur knapp verpasst. Zuletzt präsentierte sich die ursprüngliche Professorenpartei stark zerstritten.Prognose für die Europawahl: 4 bis 7 Prozent Quelle: AP
Niederlande Partei für die Freiheit (PVV) (1 Mitglied)Geert Wilders ist Kopf und offiziell einziges Mitglied der niederländischen Rechtspartei. Nach der Schlappe bei den Parlamentswahlen 2012 (nur 10,1 Prozent) will er bei den Europawahlen durchstarten. Die Demoskopen halten einen Erfolg für wahrscheinlich. Die PVV weist derzeit die meisten Anhänger auf, die tatsächlich wählen gehen wollen.Prognose für die Europawahl: Stärkste Kraft mit 17 Prozent Quelle: AP
Italien Bewegung 5 Sterne (250.000 Mitglieder)Die Bewegung des Komikers Beppe Grillo mag zerstritten sein. Europa bietet seiner Anti-Establishment-Plattform aber reichlich Angriffsfläche. Grillo kann daher mit 16 Sitzen im Europäischen Parlament rechnen. Im italienischen Parlament stellt seine Fraktion 109 von 630 Abgeordneten. Prognose für die Europawahl: Mehr als 20 Prozent Quelle: REUTERS
Griechenland Syriza (ca. 40.000 Mitglieder)Spitzenmann Alexis Tsipras hofft auf eine Wiederholung von 2009: Das schlechte Abschneiden der konservativen Nea Dimokratia (ND) bei der Europawahl erzwang damals Neuwahlen, die zu einem Regierungswechsel führten. Premierminister Antonis Samaras will Neuwahlen um jeden Preis vermeiden. Im nationalen Parlament stellt Syriza aktuell 71 von 300 Abgeordneten.Prognose für die Europawahl: Stärkste Kraft mit 31,5 Prozent Quelle: AP
Finnland Die wahren Finnen (10 000 Mitglieder)Timo Soini, Chef der 1995 gegründeten Partei, ist vom Einzug seiner Partei ins Europaparlament überzeugt. Die Partei bezeichnet sich als patriotisch und EU-skeptisch. Seit 2011 ist sie mit 39 von 200 Abgeordneten im nationalen Parlament vertreten. Prognose für die Europawahl: Drittstärkste Kraft mit 17,5 Prozent Quelle: dpa Picture-Alliance

Das geht auch gar nicht anders, weil man sich nicht nur das Europäische Parlament als äußerst heterogenes Abgeordnetenhaus, sondern auch die Institutionen der EU als eine kolossale Proporzmaschine vorzustellen hat. Die Verteilung von Spitzenposten erfolgt in Brüssel (noch) weniger als in Berlin allein nach Qualifikation und fachlicher Eignung. Vielmehr sind Neubesetzungen das Ergebnis eines komplizierten Austarierens von multiplen Interessen und Faktoren: Nord gegen Süd, Klein gegen Groß, Neu gegen Alt.

Und das ist längst noch nicht alles. Berücksichtigt werden muss außerdem: Mann oder Frau, Euro-Land oder Nicht-Euro-Land, NATO-Mitglied oder keins.

Eben drum aber sind die Wahlen heute - Dialektik Europas! - aus zweierlei Gründen von zentraler Bedeutung.

Erstens: Es hilft nicht, das Demokratiedefizit der EU zu beklagen und die vermeintliche Machtlosigkeit des Europäischen Parlaments. Jeder kleine Schritt, den Europa in Richtung "direkte Mitsprache seiner Bürger" geht, ist zu begrüßen. Die Wahlen heute sind so ein kleiner, tastender Schritt - und wer gegen sie die Angst vor einem übermächtigen Europa mobilisiert, handelt zunächst einmal unredlich.

Die "Vereinigten Staaten von Europa" sind weder ein Wunschtraum von Internationalisten, noch ein Albtraum von Nationalisten, sondern eine absehbar unrealistische Idee. Weshalb "Europa" in den nächsten zwanzig Jahren bleiben wird, was es ist, ganz gleich, ob die Briten sich für einen Austritt aus der EU entscheiden oder nicht, ob die AfD hierzulande zehn Prozent erreicht oder zwei, ob es demnächst eine Wirtschaftsregierung in Brüssel geben wird oder einen Rückbau der Institutionen. Das "Europa" der Nachkriegszeit war, ist und bleibt ein Symbol des zähen, manchmal frustrierenden Ringens um die "richtige" Integration nationalstaatlicher Interessen.

Zweitens: Es ergibt auch keinen Sinn, die "Kompetenzverlagerung" nach Brüssel zu beschimpfen und die Übergriffigkeit des vermeintlichen Supervormunds EU. Der Klimawandel, die Bankenkrise, das schuldenfinanzierte Wachstumsmodell des Westens und der Aufstieg Asiens, aber auch die Grenzenlosigkeit des Internets, der Produktion und des Handels mit Nahrungsmitteln verlangen nun mal eine Harmonisierung - und möglicherweise auch die Verteidigung - von (Schutz-)Standards.

Nirgends auf der Welt ist man mit diesem Projekt weiter als in Europa. Nirgends auf der Welt gibt es mehr Abstimmung unter Nachbarn als hier. Nirgends auf der Welt ein stärkeres institutionalisiertes Miteinander in Fragen, die die Menschheit entweder miteinander wird lösen können oder aber gar nicht.

Die Frage ist deshalb nicht, ob es "mehr Europa" braucht. Sondern in welchen Formen der Kooperation man dieses "mehr Europa" sinnvoll zu organisieren weiß. Wie viel Wettbewerb und Zusammenarbeit nötig sind, um die Harmonisierung Europas auf die effektive Spitze zu treiben. Wie viel Solidarität und Solidität künftig zählen sollen, damit das zuletzt reichlich lädierte Vertrauen zwischen den Staaten wieder wachsen kann.

Sage also keiner morgen, wir hätten gestern keine Wahl gehabt.

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