Tauchsieder

Fährverkehr im Mittelmeer?

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Strategie der Scheckbuch-Politik

An seiner statt soll künftig ein anderer syrischer Flüchtling in der Türkei ausgewählt und auf die EU verteilt werden - solange, bis die Marke von 72.000 Flüchtlingen erreicht ist. Für Afghanen, Iraker, Pakistani und andere wiederum gilt jetzt die Regel: Sie werden zurück in die Türkei geschickt - ohne dass ihre Landsleute eine Chance hätten, in Europa verteilt zu werden.

Anders gesagt: Europa prüft einen Asylantrag nicht mehr mit Blick auf die individuelle Geschichte eines Schutzsuchenden, ja: nicht mal mehr mit Blick auf das Herkunftsland des Flüchtlings - sondern nur noch mit Blick auf den Drittstaat, aus dem er kommt - und würfelt mit der Türkei aus, wer sich ins Flugzeug nach Europa setzen kann. Eigens dazu hat das neuerdings von Deutschland heftig charmierte Griechenland übrigens beschlossen, die Türkei zum sicheren Drittstaat zu erklären.

Deutschland selbst erkennt die Türkei nicht als sicheren Drittstaat an, aber das ist im Moment auch nicht so wichtig, nicht wahr? Und dass die Türkei die Standards der Genfer Flüchtlingskonvention noch ein klein wenig untererfüllt, unter anderem weil es Flüchtende an seiner Grenze auflaufen lässt - nun ja, Schwamm drüber…

Noch nie sind mehr Ausländer neu nach Deutschland gekommen als im vergangenen Jahr. Bis zum Jahresende 2015 wurde der Zuzug von knapp zwei Millionen ausländischen Personen registriert.

Drittens: Griechenland hat die Türkei zum sicheren Drittstaat erklärt, wohlgemerkt - nicht zum sicheren Herkunftsland. Kurden, die sich aus der heftig umkämpften Osttürkei bis nach Lesbos durchschlagen, dürften daher künftig einen höher einzuschätzenden Anspruch auf Asyl in Europa haben als bisher. Ist es ausgeschlossen, dass Erdogan flüchtende Kurden in sein Kalkül einbezieht, um seinen Traum von einer homogen-nationalen Türkei schneller zu erreichen als gedacht? Was, wenn der Preis, den die EU für den Deal bezahlt, am Ende viel höher ist als bisher bekannt? Welche Folgen wird die Visafreiheit für die Türken haben? Warum schließt (ausgerechnet!) Angela Merkel den EU-Beitritt der Türkei nicht mehr konsequent aus? Welche Probleme handelt sich Europa mit der Aufwertung eines autokratischen Regimes ein? Und was ist davon zu halten, dass die deutsche Bundeskanzlerin im Bundestag ein Land, das eine Art Bürgerkrieg gegen Teile seiner Bevölkerung führt und missliebige Journalisten verfolgt, ausdrücklich lobt - um es gegen europäische Staaten auszuspielen, die sich ihrem Flüchtlingskurs widersetzen?

Nein, die so genannte Flüchtlingskrise ist nicht gelöst - und schon gar nicht weiß Europa sich wieder herzlich einig. Was, wenn die Flüchtlinge sich unbeeindruckt zeigen und im Sommer zu Hunderttausenden in Griechenland anlanden? Wird die Türkei sie zurück nehmen? Wird Europa andere an ihrer statt im Verhältnis 1:1 aufnehmen - oder ein neues Verhältnis, sagen wir 1:3, aushandeln? Was überhaupt geschieht mit den Flüchtlingen, die die Türkei wieder aufnimmt? Welche Perspektiven will sie ihnen eröffnen? Und wird Europa die 72.000 Flüchtlinge, auf die man sich geeinigt hat, „gerecht“ verteilt bekommen? Was, wenn sich einige Länder weigern? Und was, wenn die Flüchtlinge im April wieder den Weg über Libyen suchen und in Italien und Spanien anklopfen? Was, wenn erneut 300 Schutzsuchende im Mittelmeer ertrinken?

Es wäre schön, wenn Deutschland sich zwischenzeitlich ehrlich machte. Wenn die Große Koalition (endlich!) ein Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen würde, um eine strikt interessengeleitete Einwanderung besser zu steuern. Wenn sie (endlich!) definieren würde, welche der im vergangenen Jahr eingereisten Flüchtlinge sie konsequent integrieren, dulden oder abschieben möchte - und welche Familien sie deshalb nachholen möchte und welche nicht.

Wenn sie die Rechtstitel der Flüchtlinge modernisierte, damit jeder Migrant weiß (und viele vorher wissen können), welchen Schutz er für welche Zeit auf der Basis welcher Gründe genießt. Wenn sie eine Diskussion darüber anstoßen würde, ob Europa seine Außengrenzen künftig allein schützen will, um sich den Schengen-Raum - und seine politische Unabhängigkeit - zu erhalten - oder ob es auf eine Strategie der Scheckbuch-Politik mit Anrainer-Staaten setzen will mit Auffanglagern auf beiden Seiten der Kontinente und einer Art institutionalisierten Fährverkehr im Mittelmeer.

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