Das geht auch gar nicht anders, weil man sich nicht nur das Europäische Parlament als äußerst heterogenes Abgeordnetenhaus, sondern auch die Institutionen der EU als eine kolossale Proporzmaschine vorzustellen hat. Die Verteilung von Spitzenposten erfolgt in Brüssel (noch) weniger als in Berlin allein nach Qualifikation und fachlicher Eignung. Vielmehr sind Neubesetzungen das Ergebnis eines komplizierten Austarierens von multiplen Interessen und Faktoren: Nord gegen Süd, Klein gegen Groß, Neu gegen Alt.
Und das ist längst noch nicht alles. Berücksichtigt werden muss außerdem: Mann oder Frau, Euro-Land oder Nicht-Euro-Land, NATO-Mitglied oder keins.
Eben drum aber sind die Wahlen heute - Dialektik Europas! - aus zweierlei Gründen von zentraler Bedeutung.
Erstens: Es hilft nicht, das Demokratiedefizit der EU zu beklagen und die vermeintliche Machtlosigkeit des Europäischen Parlaments. Jeder kleine Schritt, den Europa in Richtung "direkte Mitsprache seiner Bürger" geht, ist zu begrüßen. Die Wahlen heute sind so ein kleiner, tastender Schritt - und wer gegen sie die Angst vor einem übermächtigen Europa mobilisiert, handelt zunächst einmal unredlich.
Die "Vereinigten Staaten von Europa" sind weder ein Wunschtraum von Internationalisten, noch ein Albtraum von Nationalisten, sondern eine absehbar unrealistische Idee. Weshalb "Europa" in den nächsten zwanzig Jahren bleiben wird, was es ist, ganz gleich, ob die Briten sich für einen Austritt aus der EU entscheiden oder nicht, ob die AfD hierzulande zehn Prozent erreicht oder zwei, ob es demnächst eine Wirtschaftsregierung in Brüssel geben wird oder einen Rückbau der Institutionen. Das "Europa" der Nachkriegszeit war, ist und bleibt ein Symbol des zähen, manchmal frustrierenden Ringens um die "richtige" Integration nationalstaatlicher Interessen.
Zweitens: Es ergibt auch keinen Sinn, die "Kompetenzverlagerung" nach Brüssel zu beschimpfen und die Übergriffigkeit des vermeintlichen Supervormunds EU. Der Klimawandel, die Bankenkrise, das schuldenfinanzierte Wachstumsmodell des Westens und der Aufstieg Asiens, aber auch die Grenzenlosigkeit des Internets, der Produktion und des Handels mit Nahrungsmitteln verlangen nun mal eine Harmonisierung - und möglicherweise auch die Verteidigung - von (Schutz-)Standards.
Nirgends auf der Welt ist man mit diesem Projekt weiter als in Europa. Nirgends auf der Welt gibt es mehr Abstimmung unter Nachbarn als hier. Nirgends auf der Welt ein stärkeres institutionalisiertes Miteinander in Fragen, die die Menschheit entweder miteinander wird lösen können oder aber gar nicht.
Die Frage ist deshalb nicht, ob es "mehr Europa" braucht. Sondern in welchen Formen der Kooperation man dieses "mehr Europa" sinnvoll zu organisieren weiß. Wie viel Wettbewerb und Zusammenarbeit nötig sind, um die Harmonisierung Europas auf die effektive Spitze zu treiben. Wie viel Solidarität und Solidität künftig zählen sollen, damit das zuletzt reichlich lädierte Vertrauen zwischen den Staaten wieder wachsen kann.
Sage also keiner morgen, wir hätten gestern keine Wahl gehabt.