Tauchsieder

Schimpft nicht, geht zur Wahl!

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Wen wählen wir wirklich?

Das sind die wichtigsten Europakritiker
Nigel Farage Quelle: dpa
Frankreich Front National (FN) (70.000 Mitglieder) Marine Le Pen hat die 1972 gegründete Partei 2011 von ihrem Vater übernommen. Stark ist der FN in Südfrankreich, im Elsass sowie in den Regionen Lothringen und Nord-Pas-de-Calais. Er stellt mehrere Bürgermeister und ist mit rund 120 Abgeordneten in zwölf Regionalparlamenten vertreten. Wichtigste Forderung: Raus aus dem Euro und Neugründung Europas als Bündnis souveräner Nationalstaaten. Prognose für die Europawahl: Mit ca. 24 Prozent stärkste Kraft Quelle: REUTERS
Deutschland Alternative für Deutschland (AfD) (17.000 Mitglieder)Bernd Lucke gründete die Partei der Euro-Kritiker im Februar 2013. Der Einzug in den Bundestag wurde im Herbst 2013 nur knapp verpasst. Zuletzt präsentierte sich die ursprüngliche Professorenpartei stark zerstritten.Prognose für die Europawahl: 4 bis 7 Prozent Quelle: AP
Niederlande Partei für die Freiheit (PVV) (1 Mitglied)Geert Wilders ist Kopf und offiziell einziges Mitglied der niederländischen Rechtspartei. Nach der Schlappe bei den Parlamentswahlen 2012 (nur 10,1 Prozent) will er bei den Europawahlen durchstarten. Die Demoskopen halten einen Erfolg für wahrscheinlich. Die PVV weist derzeit die meisten Anhänger auf, die tatsächlich wählen gehen wollen.Prognose für die Europawahl: Stärkste Kraft mit 17 Prozent Quelle: AP
Italien Bewegung 5 Sterne (250.000 Mitglieder)Die Bewegung des Komikers Beppe Grillo mag zerstritten sein. Europa bietet seiner Anti-Establishment-Plattform aber reichlich Angriffsfläche. Grillo kann daher mit 16 Sitzen im Europäischen Parlament rechnen. Im italienischen Parlament stellt seine Fraktion 109 von 630 Abgeordneten. Prognose für die Europawahl: Mehr als 20 Prozent Quelle: REUTERS
Griechenland Syriza (ca. 40.000 Mitglieder)Spitzenmann Alexis Tsipras hofft auf eine Wiederholung von 2009: Das schlechte Abschneiden der konservativen Nea Dimokratia (ND) bei der Europawahl erzwang damals Neuwahlen, die zu einem Regierungswechsel führten. Premierminister Antonis Samaras will Neuwahlen um jeden Preis vermeiden. Im nationalen Parlament stellt Syriza aktuell 71 von 300 Abgeordneten.Prognose für die Europawahl: Stärkste Kraft mit 31,5 Prozent Quelle: AP
Finnland Die wahren Finnen (10 000 Mitglieder)Timo Soini, Chef der 1995 gegründeten Partei, ist vom Einzug seiner Partei ins Europaparlament überzeugt. Die Partei bezeichnet sich als patriotisch und EU-skeptisch. Seit 2011 ist sie mit 39 von 200 Abgeordneten im nationalen Parlament vertreten. Prognose für die Europawahl: Drittstärkste Kraft mit 17,5 Prozent Quelle: dpa Picture-Alliance

Was aber steht bei den heutigen Europawahlen wirklich auf dem Spiel? Wählen wir mit den Abgeordneten heute wirklich die Menschen, die künftig in charge sein und die Zukunft des Kontinents, der EU und des Euro bestimmen werden, so wie es das Europäische Parlament auf seiner Homepage verspricht? Stimmen wir heute ab über die prinzipielle Frage, ob wir in Zukunft mehr Europa haben werden oder weniger, ob es einen Ausbau der EU in Richtung Wirtschaftsunion geben wird oder aber einen institutionellen Rückbau in Brüssel?

Nein, das tun wir ganz bestimmt nicht.

Stattdessen stimmen wir ab über Fragen des Daten- und Verbraucherschutzes, über unsere Rechte als Internetnutzer, Passagiere und Bankkunden.

Das Europaparlament ist ein Verbraucherschutzparlament; es sorgt dafür, dass Nahrungsmittel gekennzeichnet und Geldprodukte zertifiziert werden, dass Telefonkonzerne keine Roaminggebühren mehr kassieren, der Datenhunger von Internetkonzernen gemäßigt wird und Tabakhersteller auf die Folgen des Rauchens aufmerksam machen.

Wir stimmen daher heute beispielsweise darüber ab, ob wir ein Freihandelsabkommen mit den USA wollen oder nicht. Oder darüber, ob wir Googles Macht eher auf dem Vormarsch oder zerschlagen oder von einem amtlich aufgebauten europäischen Konkurrenten gemäßigt sehen wollen.

Darüber hingegen, wie wir es mit Eurobonds und Russland halten, mit Griechenland und dem Euro, haben wir Deutsche bereits vergangenen September abgestimmt: bei den Bundestagswahlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Finanzminister Wolfgang Schäuble - sowie ihre Kollegen aus Frankreich - bestimmen die sicherheits-, wirtschafts- und finanzpolitischen Richtlinien der europäischen Politik immer noch mehr als die "europäische Außenministerin" Catherine Ashton oder der amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso.

Daran ändert auch die Verknüpfung der Parlamentswahl mit der anschließend stattfindenden Neubesetzung des Kommissionspräsidenten nichts. Die drei größten Fraktionen im Europäischen Parlament/EP (Sozialisten (S&D)/SPD, Europäische Volkspartei (EVP)/CDU, Liberale/FDP), die derzeit 480 von 751 Sitzen auf die Waage bringen, mögen sich - wie auch die Grünen - von der Aufstellung ihrer "Spitzenkandidaten" und vom Junktim Wahlsieger-Kommissionspräsident eine Aufwertung des Parlaments, jedenfalls ein sichtbares Zeichen der EU-Demokratisierung erhofft haben.

In Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel allerdings sehr deutlich gemacht, was sie von derlei Umtrieben hält, nämlich gar nichts. Merkel hat nicht Wahlkampf für den EVP-Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker gemacht, nicht Wahlkampf für den europäischen CDU-Frontmann David McAllister, sondern sie hat Wahlkampf mit sich selbst gemacht - also mit einer Person, die überhaupt nicht zur Wahl steht. Mal abgesehen davon, dass Merkel damit als Bundeskanzlerin reichlich schamlos das zentralste demokratisches Grundrecht - eine Wahl - banalisiert hat, lautet ihre Botschaft: Wer Kommissionspräsident wird und wer nicht, das bestimmen im Zweifel immer noch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und nicht das Europäische Parlament.

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