Taxonomie EU-Kommission stuft Atomkraft und Gas als klimafreundlich ein

Protesten zum Trotz: Nachdem die Kommission den Vorschlag, neue Gas- und Atomkraftwerke als klimafreundlich zu deklarieren, offiziell angenommen hat, kann er nur noch durch eine Mehrheit im EU-Parlament oder mindestens 20 EU-Länder abgelehnt werden Quelle: dpa

Braucht es Gas und Atomkraft, um die Klimaziele zu erreichen? Die EU-Kommission hat dazu jetzt eine wichtige Entscheidung gefällt.

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Investitionen in neue Gas- und Atomkraftwerke sollen in der Europäischen Union unter bestimmten Auflagen als klimafreundlich gelten. Trotz massiver Kritik nahm die Europäische Kommission am Mittwoch einen entsprechenden Rechtsakt an. Er bleibt sogar noch hinter einem ursprünglichen Entwurf zurück und lockert die Auflagen für Gaskraftwerke. Besonders Deutschland hatte darauf gepocht, die Kriterien für Gas flexibler zu gestalten.

Hintergrund der Einstufung von bestimmten Gas- und Atomprojekten als nachhaltig ist die sogenannte Taxonomie der EU. Sie soll Bürger und Anleger dazu bringen, in klimafreundliche Technologien zu investieren, um die Klimaziele der EU zu erreichen.

Die Bundesregierung will den Rechtsakt der Kommission nach eigenen Angaben prüfen. „Wir haben jetzt vier Monate Zeit, das zu prüfen, was die Kommission jetzt tatsächlich vorlegt“, erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Mittwoch in Berlin. Die Bundesregierung habe ihre Position zu diesem Thema bereits „umfänglich dargelegt“. Jetzt werde sich die Koalition erst einmal „darüber beugen, was jetzt tatsächlich von Brüssel vorgelegt worden ist“, erklärte Hebestreit. Die Frist zur Prüfung könne sogar bis zu sechs Monate betragen.

Die Bundesregierung hat mehrfach ihre klare Ablehnung zur Einstufung von Atomkraft als nachhaltig zum Ausdruck gebracht. Eine Unterstützung für Gaskraftwerke als Übergangstechnologie hält sie aber für vertretbar.

Der nun angenommene Rechtsakt sieht vor, dass Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig gelten, wenn sie unter anderem schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 komplett mit klimafreundlicheren Gasen wie Wasserstoff betrieben werden. Im ursprünglichen Entwurf war die Beimischung von klimafreundlichen Gasen schon ab 2026 vorgeschrieben. Das bedeutet, dass Gaskraftwerke nun unter Umständen länger höhere Anteile an verschmutzendem Erdgas nutzen können. Neue Atomkraftwerke sollen bis 2045 als nachhaltig klassifiziert werden, wenn ein konkreter Plan für die Endlagerung radioaktiver Abfälle ab spätestens 2050 vorliegt.

Die Pläne der Kommission wurden bereits im Vorfeld stark kritisiert. Österreich und Luxemburg haben angekündigt, dagegen zu klagen. Die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler sagte nach der Entscheidung: „Wir werden in den nächsten Wochen alle rechtlichen Schritte vorbereiten und dann beim Europäischen Gerichtshof mit einer Nichtigkeitsklage vorgehen.“ Luxemburg werde sich der österreichische Initiative anschließen, sagte die Ministerin.

Die Entscheidung der EU-Kommission bezeichnete Gewessler als falsch. Sie sei ein „Greenwashing-Programm“ für Atomkraft und fossiles Erdgas und erfülle vor allem die Wünsche der Atomlobby. Ein Beitrag zum Klimaschutz werde damit nicht geleistet, kritisierte sie. Atomenergie sei veraltet und zu teuer. Die Ministerin verwies auf das Atomkraftwerk Flamanville in Frankreich, das sowohl teuer als auch später fertig wird als geplant.

Auch Spanien, Dänemark, die Niederlande und Schweden lehnen eine nachhaltige Einstufung von Gas ab, hieß es Anfang der Woche in einem Brief an die Kommission. EU-Abgeordnete, Umweltschützer und Wissenschaftler haben immer wieder auf die klimaschädlichen CO2-Emissionen von Gas und die ungelösten Frage des radioaktiven Abfalls bei der Kernkraft hingewiesen. Auch große Anleger wie die Europäische Investmentbank und die Investorengruppe IIGCC äußerten sich kritisch.

Der Kapitalmarkt wird nach Einschätzung von Finanz-Staatssekretär Florian Toncar (FDP) skeptisch bleiben. „Ich rechne damit, dass der Markt Finanzprodukte entwickeln wird, die im Einklang mit der Taxonomie stehen, dabei aber bewusst auf die Finanzierung von Kernenergie verzichten“, sagte er am Mittwoch der Nachrichtenagentur Reuters. Das entspreche dem Wunsch vieler Investoren. Angesichts der ungeklärten Entsorgung von radioaktivem Abfall sei das Öko-Label für die Atomkraft nicht gerechtfertigt.

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Nachdem die Kommission den Vorschlag offiziell angenommen hat, kann er nur noch durch eine Mehrheit im EU-Parlament oder mindestens 20 EU-Länder abgelehnt werden, ansonsten tritt er automatisch in Kraft. Eine Ablehnung gilt bislang als unwahrscheinlich.

Mehr zum Thema: Wenn Politiker Wirtschaftsaktivitäten in gut und böse einteilen, dann kann das nur schief gehen. Der Streit um die Nachhaltigkeit von Atomkraft und nun auch Rüstung ist der beste Beweis dafür.

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