
Nach der Festnahme des mutmaßlichen Top-Terroristen Salah Abdeslam hat es Frankreich eilig, endlich Antworten auf die offenen Fragen zu den blutigen Pariser Attentaten zu finden. Dabei scheint ausgerechnet der Pariser Staatsanwalt François Molin mit seinen der Öffentlichkeit preisgegebenen Informationen zu weit gegangenen zu sein.
Abdeslam habe sich im Stade de France in die Luft sprengen wollen, jedoch in letzter Minute einen Rückzieher gemacht, erklärte er. Er habe das Selbstmordkommando zum Stade de France gefahren, wo das Fußball-Länderspiel Frankreich-Deutschland ausgetragen wurde und seinen Sprengstoffgürtel in einem Pariser Vorort weggeworfen. Auf die von Molins bekanntgegebenen Details und Zusammenhänge hat nun der Anwalt des in Brüssel gefassten Terrorverdächtigen reagiert. Er will wegen Geheimnisverrats gegen ihn klagen.
Die Ungeduld nach Antwort auf die unzähligen Fragen ist nachvollziehbar, denn bei den Attentaten am 13. November an sechs verschiedenen Orten in Paris wurden 130 Menschen getötet und mehr als 350 verletzt. Frankreichs Justiz hat die Übergabe des Terrorverdächtigen durch den Erlass eines Europäischen Haftbefehls beschleunigt und hofft, den 26-jährigen Franzosen Abdeslam in spätestens drei Monaten nach Frankreich überführen zu können.
Das bedeuten die Anschläge in Paris für Deutschland
Die Bundespolizei schickt verstärkt Einsatzkräfte an die Grenze zu Frankreich, intensiviert Streifen an Flughäfen und Bahnhöfen. Die Polizisten patrouillieren dort mit Schutzwesten und schweren Waffen. Verbindungen von und nach Frankreich werden besonders in den Blick genommen.
Nach einem Anschlag in einem Nachbarland setzt sich bei Polizei und Geheimdiensten in Deutschland hinter den Kulissen automatisch eine Maschinerie in Gang: Die Behörden checken, ob es mögliche Verbindungen und Kontakte der Täter nach Deutschland gibt. Sie sprechen dazu mit den V-Leuten in der Islamisten-Szene, durchforsten Foren und Netzwerke im Internet. Und sie überwachen besonders die islamistischen „Gefährder“ - also jene, denen sie einen Terrorakt zutrauen. Aber auch Rechtsextremisten, die auf die Anschläge reagieren könnten, stehen unter besonderer Beobachtung.
Belastbare Erkenntnisse dazu gab es zunächst nicht, aber einen ersten Verdacht: In Oberbayern wurde am Donnerstag vor einer Woche auf der Autobahn zwischen Salzburg und München ein Autofahrer angehalten und kontrolliert. Schleierfahnder der Polizei entdeckten im Kleinwagen des 51-Jährigen unter anderem mehrere Kalaschnikow-Gewehre, Handgranaten sowie 200 Gramm TNT-Sprengstoff. „Es gibt einen Bezug nach Frankreich, aber es steht nicht fest, ob es einen Bezug zu diesem Anschlag gibt“, sagt de Maizière. Auf dem Navigationsgerät des Mannes habe man eine Adresse in Paris gefunden. Ob das einen Zusammenhang zur Anschlagsserie bedeute, sei noch unklar. Der Verdächtige, der aus Montenegro stammt, sitzt in Untersuchungshaft.
Als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris werden in Deutschland die Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren. Es werde in den nächsten Tagen eine für die Bürger sichtlich erhöhte Polizeipräsenz geben, kündigte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) am Samstagabend (14. November) in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner Spezial“ an. „Die Polizei, die man sieht, wird auch etwas anders aussehen als bisher. Die Ausrüstung wird eine andere sein.“ Zugleich werde zusammen mit den Nachrichtendiensten die Beobachtung islamistischer Gefährder intensiviert.
Bislang gingen bei Polizei und Geheimdiensten etwa 100 Hinweise auf mögliche Terroristen ein, die auf diesem Weg ins Land gekommen sein sollen. Davon habe sich der Verdacht bisher aber in keinem einzigen Fall bestätigt, heißt es aus Sicherheitskreisen. „Aber man darf den IS nicht unterschätzen“, meint der Terrorexperte Rolf Tophoven. „Die Gefahr ist nicht auszuschließen. Unsere Sicherheitsbehörden können nicht jeden kontrollieren.“
Nach Einschätzung von Fachleuten dürften Terroristen eher auf anderem Weg versuchen, nach Deutschland zu kommen - etwa mit gefälschten Papieren im Flieger. Polizei und Geheimdienste beobachten allerdings, dass Islamisten versuchen, junge Flüchtlinge, die schon in Deutschland sind, zu rekrutieren. Generell gilt aber: Attentäter müssen nicht unbedingt von außen ins Land gebracht werden. Es gibt viele Fanatiker, die sich im Inland radikalisiert haben.
Mehr als 43.000 Menschen gehören insgesamt dazu. Die Szene ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen - vor allem durch den starken Zulauf bei den Salafisten, einer besonders konservativen Strömung des Islam. Rund 7900 Salafisten gibt es inzwischen. Polizei und Geheimdienste stufen viele Islamisten als gefährlich ein: Etwa 1000 Menschen werden dem islamistisch-terroristischen Spektrum zugeordnet. Darunter sind 420 „Gefährder“.
Zum Teil sind auch Rückkehrer aus Dschihad-Gebieten darunter. Diese machen den Sicherheitsbehörden große Sorgen, weil viele radikalisiert und kampferprobt zurückkommen. Von den mehr als 750 Islamisten aus Deutschland, die bislang Richtung Syrien und Irak ausgereist sind, ist ein Drittel wieder zurück - also rund 250 Leute. Etwa 70 davon haben Kampferfahrung gesammelt.
Ob alle Fragen beantwortet werden, weiß niemand. Doch allein die Tatsache, dass Abdeslam der erste mutmaßliche Pariser Attentäter ist, der lebend gefasst wurde, ist vor allem für die Hinterbliebenen eine Genugtuung und Erleichterung. Sie habe den Eindruck, als sei sie von einer schweren Last befreit, sagte Caroline. Die junge Frau gehört zu jenen, die den Angriff am 13. November auf den Pariser Musikclub Bataclan überlebt haben.
Sie seien für die Terroristen ein Symbol gewesen, jetzt sei er sein Symbol für sie, denn er sei der einzige, der von ihnen noch lebe, sagte Caroline dem Radiosender „France Info“. An jenem Freitagabend spielte die kalifornische Band Eagles of Death Metal, als die mit Kalaschnikow-Schnellfeuergewehren und Sprengstoffgürteln bewaffneten Männer den Konzertsaal stürmten. Zwei der Täter zündeten ihre Sprengsätze, ein dritter wurde von der Polizei erschossen. Auch bei den anderen fünf fast zeitgleich verübten Anschlägen an verschiedenen Orten von Paris wurden alle bislang bekannten Attentäter getötet.
Das sei ein Wunder, ihn lebend gefasst zu haben, erklärte dem Radiosender auch Emmanuel. Der 29-Jährige konnte seinen Ohren nicht trauen, als er von der Festnahme erfuhr. Er hat viele Fragen. Wie die Angreifer zu den Waffen kamen, wie sie über die Grenze gelangten, vor allem aber, warum sie getötet haben. Das „Warum“ dieser schrecklichen Tat treibt auch Caroline um. Warum gerade Menschen, die auf Terrassen und in Cafés sitzen?
Islamistischer Terror gegen Europäer seit "Charlie Hebdo"
Die italienische Polizei deckt ein islamistisches Terrornetz auf. Unter anderem sollen die verhafteten 16 Kurden und ein Kosovare vorgehabt haben, mit Geiselnahmen den in Norwegen inhaftierten Terrorchef Mullah Krekar freizupressen.
Über der ägyptischen Halbinsel Sinai stürzt ein Airbus A321 der sibirischen Airline Kolavia mit 224 Passagieren - vor allem russischen Urlaubern - ab. Großbritannien und andere Länder meinen aufgrund von Geheimdienst-Informationen: wegen einer Bombenexplosion. Die Islamistengruppe Ansar Beit al-Makdis („Unterstützer Jerusalems“) behauptet, dafür verantwortlich zu sein.
Ein 25-jähriger marokkanischer Islamist wird im Thalys-Schnellzug Brüssel - Paris bei einem Anschlagsversuch mit einer Kalaschnikow von Fahrgästen überwältigt. Zwei Passagiere werden verletzt.
An einem Hotelstrand in der Nähe der tunesischen Touristenhochburg Sousse erschießt ein 24-jähriger Einheimischer mit Verbindungen zu radikalen Gruppen 38 ausländische Touristen, vor allem Briten.
Extremisten erschießen im Bardo-Museum der tunesischen Hauptstadt Tunis 21 Menschen, in der Mehrheit ausländische Touristen. Die Terrormiliz IS bekennt sich zur Tat.
In Kopenhagen feuert ein arabischstämmiger 22-Jähriger auf ein Kulturcafé, ein Mann stirbt. Der Anschlag gilt vermutlich einem Mohammed-Karikaturisten, der unverletzt bleibt. Vor einer Synagoge erschießt der Attentäter einen Wachmann, bevor er von Polizeikugeln tödlich getroffen wird.
Beim Attentat auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ werden in Paris zwölf Menschen getötet. Die beiden Täter kommen zwei Tage später bei einer Polizeiaktion ums Leben. Zu dem Anschlag bekennt sich die Terrororganisation Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel. Ein mit ihnen bekannter dritter Täter erschießt in Paris parallel dazu eine Polizistin und nimmt in einem jüdischen Supermarkt Geiseln, von denen er vier erschießt, bevor er selbst von der Polizei getötet wird. Er bekennt sich zuvor zur Terrormiliz IS.
Vier Monate haben die Überlebenden und Familien der Opfer auf diesen Moment gewartet. Die Hinterbliebenen und Überlebenden der Attentate im Januar 2015 auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und der Morde in einem koscheren Supermarkt von Paris nur kurz darauf stehen noch immer vor einer schweigenden Wand. Die Täter kamen bei den Angriffen ums Leben.
Die Hinterbliebenen der Pariser Terroropfer verlangten unmittelbar nach der Festnahme von Abdeslam in Brüssel dessen sofortige Auslieferung nach Frankreich. Dies sei der Wunsch ihrer Mandanten, um den in Belgien gefassten Terrorverdächtigen „zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte dem Sender BFMTV die Anwältin Samia Maktouf, die die Angehörigen vertritt. Abdeslam wäre der erste mutmaßliche Terrorist, der wegen der Pariser Anschläge in Frankreich vor Gericht kommt. Die belgische Justiz wirft Abdeslam sowie einem weiteren mutmaßlichen Mittäter Beteiligung an terroristischem Mord sowie an einer terroristischen Vereinigung vor.
Erleichterung und Hoffnung brachte nach der Festnahme auch der Präsident der Opfervereinigung „13. November“, George Salines, zum Ausdruck. Er habe befürchtet, dass Abdeslam entkäme oder getötet würde, erklärte auch er dem Sender. Er sei überrascht, erleichtert und empfände Genugtuung, dass es nun einen echten Prozess gegen jemanden geben werde, der sehr direkt in die Attentate verwickelt sei. Saline hat bei der Anschlagserie am 13. November seine Tochter Lola verloren. Auch für Phyllie, die dem Ansturm auf den Konzertsaal „Bataclan“ entkam, ist der Prozess für ihre persönliche Bewältigungsarbeit wichtig, wie sie „France Info“ sagte. Sie bräuchte das Gefühl von Gerechtigkeit.