Offiziell verneinen die Vertreter der Mitgliedsstaaten, an dieser Art der Zusammenarbeit in irgendeiner Form interessiert zu sein. „Willkürpolitik statt Freihandel“ sei das, zischt ein Brüsseler Vertreter in Davos. Nur: Mays Vorstoß läuft in eine offene Flanke der Europäer, die in Davos offenkundig wird. Die bisherige Form der ritualisierten Zusammenarbeit hat immer weniger Freunde. In der Wirtschaft, wie in der Politik. „Ich bin vor dem zweiten Weltkrieg geboren, ich weiß welche Errungenschaften die Europäische Union uns gebracht hat. Deswegen wäre ich nie auf die Idee gekommen, sie zu hinterfragen. Aber ich bin auch Demokrat und deswegen müssen wir das Votum der Briten ernst nehmen“, sagt etwa der Präsident des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab. Und leitet daraus Handlungsbedarf ab.
Selbst eingefleischte Brüsseler wie der Vize-Präsident der Europäischen Kommission wirken nachdenklich, wenn er sagt: „Mein Sohn hat mich letztens morgens zum Frühstück begrüßt mit den Worten: ‚Na du gesichtsloser, nicht gewählter Bürokrat‘. Ich möchte nicht, dass sich dieser Eindruck festsetzt.“ Und unter anderem deswegen kristallisieren sich immer stärker jene Baustellen heraus, an denen Europa in den nächsten Monaten wird arbeiten müssen, wenn die Legitimation der Gemeinschaft nicht erodieren sollen. „Die nächsten zwölf Monate werden dafür entscheidend sein. Sonst fliegt Europa auseinander“, sagt einer von Mays Kollegen unter den EU-Regierungschefs am Rande einer Diskussionsrunde in Davos.
Und das dürften die Baustellen sein:
1. Die Nation wird wieder wichtiger
Was der Abschied der Briten bedeutet
Er gilt als das Herzstück der Europäischen Union seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 und der Europäischen Zollunion 1968. Großbritannien trat 1973 bei. Vollendet wurde der Binnenmarkt mit dem Vertrag von Maastricht 1992. Als Eckpfeiler gelten die „vier Freiheiten“: Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitskräfte, der Dienstleistungen und des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Das heißt, die gut 500 Millionen EU-Bürger können in den 28 EU-Staaten kaufen, arbeiten und investieren, wo sie wollen.
Die EU-Länder erkennen gegenseitig ihre Regeln an und alle gemeinsam die EU-Richtlinien und Verordnungen. Die EU-Kommission ist die Überwachungsinstanz. Sie maßregelt Länder, die den Wettbewerb verzerren, ob nun mit Subventionen oder unfairen Steuervorteilen. Auch Kartelle nimmt Brüssel regelmäßig ins Visier. Üblich sind millionenschwere Bußgelder. Die EU-Gerichte bieten einen Rechtsweg.
Die 28 EU-Staaten machen dank gemeinsamer Regeln und Zollfreiheit untereinander weit mehr Geschäfte als mit Partnern außerhalb der Gemeinschaft. So hatte allein der Warenverkehr untereinander 2015 laut der Statistikbehörde Eurostat ein Volumen von 3,07 Billionen Euro - 71 Prozent mehr als mit dem Rest der Welt. Deutschland hat einen Anteil von gut einem Fünftel: 22,6 Prozent aller Warensendungen innerhalb der EU kommen aus Deutschland, 20,9 Prozent aller in der EU verschifften Güter enden dort.
Der Handel in der EU ist für Großbritannien weniger wichtig als für die Bundesrepublik. Sein Anteil an den innerhalb der EU versendeten Güter lag laut Eurostat 2015 bei 10,2 Prozent. Es ist auch das einzige Mitgliedsland, das innerhalb der EU weniger Handel treibt als mit Drittstaaten - gemessen jeweils an Aus- und Einfuhren zusammen.
Großbritannien bezieht trotzdem rund die Hälfte seiner importierten Waren aus der EU und liefert auch etwa die Hälfte seiner Exporte dorthin, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2015 analysierte. Noch bedeutender sind britische Dienstleistungen: Hier erwirtschaftete das Königreich 2014 laut IW in der EU einen Überschuss von 19,1 Milliarden Euro, vor allem mit Finanzdienstleistungen. Eng verwoben sind beide Seiten auch in Wertschöpfungsketten. Es werden eben nicht nur fertige Produkte gehandelt, sondern auch Teile und sogenannte Vorleistungen. Hier könnte sich ein Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt besonders negativ auswirken, schließt das IW.
Die britische Regierung sieht die wirtschaftlichen Vorteile und würde sie gerne weiter nutzen. Eine der vier Freiheiten macht ihr jedoch politisch zu schaffen: die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern. Allein aus Polen kamen insgesamt 870 000 Menschen. Die Brexit-Befürworter beklagen den Druck auf Arbeits- und Wohnungsmarkt und wollen die Freizügigkeit stoppen. Die übrigen EU-Länder geben sich aber lhart: Zugang zum Binnenmarkt gebe es nur mit allen vier Freiheiten, „Rosinenpicken“ komme nicht in Frage.
Großbritannien ginge der ungehinderte Zugang zu einem Markt mit knapp 450 Millionen Menschen verloren. London hätte dafür bei Subventionen und Steuervorteilen freie Hand und könnte Kapital anlocken. Bei einem Ausscheiden aus der Zollunion wären wieder Zölle zwischen Großbritannien und dem Kontinent denkbar. Das Königreich könnte auch mit eigenen Handelsbündnissen, etwa mit den USA, der EU eins auswischen. Wahrscheinlich ist jedoch eine Verhandlungslösung. Premierministerin May sagte am Dienstag, sie wolle den weiteren Zugang zum Binnenmarkt mit einem „umfassenden Handelsabkommen“ sichern. Ein Zollabkommen wolle sie ebenfalls. IW-Brexit-Experte Jürgen Matthes erwartet ein Geben und Nehmen, das heißt, je mehr EU-Einfluss Großbritannien zulässt, desto mehr Marktzugang kann es erwarten. Kommen beide Seiten nicht überein, wären sie immerhin noch über die Welthandelsorganisation WTO verbunden.
Man muss die Position des US-Ökonomen und ehemaligen Präsidentenberaters Larry Summers nicht teilen, der sagt: „Die Kritik an Globalisierung und europäischer Einigung liegt nicht an wachsender Ungleichheit sondern daran, dass sich mehr Menschen wieder nach einer Stärkung der Nation sehnen.“
Und doch enthält sie eine wahre Beschreibung, sagen die meisten Davos-Teilnehmer: Das Thema Nation wird wieder wichtiger. Nicht nur May redet von der „Rückgewinnung des nationalen Selbstbestimmungsrechts“ und sagt: „Es braucht eine aktive, starke Regierung. Sonst verlieren die Menschen das Vertrauen.“ Das ist in wirtschaftlicher Hinsicht aus zweierlei Gründen interessant: Es kehrt die Machtverhältnisse in Europa zurück von Brüssel in die Hauptstädte. Und es deutet darauf hin, dass die freien Kräfte des Marktes in absehbarer Zeit wieder politische Gegenspieler bekommen.
„Es braucht“, sagt auch EU-Kommissions-Vize Timmermans, „wieder klare Verantwortlichkeiten. Der Moral Hazard in der EU, wo jeder den anderen für Fehlentwicklungen verantwortlich macht und die Gesellschaft am Ende nicht weiß, wen sie verantwortlich machen kann.“ Und selbst der scheidende EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagt: „Das Doppelspiel der Regierungschefs muss aufhören. Die Verantwortlichkeiten müssen klar sein.“ Und aus der italienischen Delegation heißt es: „Womöglich liegen auch Chancen darin, wenn die einzelnen Länder in Fragen des Handels wieder bilateral verhandeln – dann hat ein Land wie Deutschland nicht mehr die Chance, alle zu einer Politik zu zwingen, die vor allem ihnen nützt.“
Und die Chefin der spanischen Großbank Santander, Ana Botin, sagt: „Es wäre wichtig, dass wir uns wieder darauf besinnen, dass jedes Land etwas anderes kann und darin Europas Stärke liegt: Wenn alle nur Autos exportieren, gibt es niemanden mehr der Autos kauft. Und das müssen wir für die gesamte Politik in Europa berücksichtigen.“